Kastration und Rontgenstrahlen. Clauberg entfernte Eierstocke und Dr. Dehring machte 17 000 chirurgische Experimente ohne Betaubung.

Das war Auschwitz, und so sah das Leben aus, das man Dov Landau geschenkt hatte. ARBEIT MACHT FREI.

»Einer von der Familie Landau mu? uberleben«, hatte Mundek gesagt. Wie hatte Mundek uberhaupt ausgesehen? Er konnte sich kaum noch erinnern. Oder Ruth oder Rebekka, oder seine Mutter, sein Vater? An seinen Vater hatte er gar keine Erinnerung mehr. Sein Gedachtnis wurde von Tag zu Tag schwacher, ganz nebelhaft wu?te er nur noch um seine Vergangenheit. Fur ihn gab es jetzt nur Todesfurcht und Schrecken, und ein Leben ohne diese standige Angst vor Tod und Mi?handlung lag bereits au?erhalb seines Vorstellungsvermogens.

So verging ein Jahr. In Birkenau kamen und gingen die Zuge. Die Zahl derer, die in den Arbeitslagern rund um Auschwitz ums Leben kam, zu Tode gequalt wurde, verhungerte oder einer Seuche erlag, war fast genauso erschreckend hoch wie die Rekordzahlen von Birkenau. Doch irgendwie gelang es Dov, seinen Verstand nicht zu verlieren und sich mit der instinktiven Wachheit eines wilden Tieres am Leben zu erhalten.

Selbst in der Finsternis dieser Holle gab es gewisse Lichtblicke. Es gab ein Lagerorchester. Es gab eine illegale Organisation, und diese Organisation verfugte uber einen Radioempfanger.

Im Sommer des Jahres 1944 wurde das gesamte Lager von einer seltsamen Unruhe erfa?t. Immer haufiger waren russische Bomber am Himmel zu sehen, und Geheimsender meldeten deutsche Niederlagen. Das Dunkel und die Qual wurden von einem ersten schwachen Hoffnungsschimmer erhellt. Jeder neue Sieg der Alliierten versetzte die SS-Leute in wutende Mordlust, so da? sich die Haftlinge stets vor neuen Meldungen deutscher Niederlagen furchteten. In Birkenau wurde noch fieberhafter gearbeitet, bis die Gaskammern schlie?lich fast Tag und Nacht in Betrieb waren.

Im Herbst wurde es immer klarer, da? die Deutschen den Krieg verloren hatten. Sie wurden an allen Fronten geschlagen. Doch je mehr Niederlagen sie einstecken mu?ten, um so gro?er wurde ihr Eifer auf dem Gebiet der Massenliquidierung.

Im Oktober 1944 unternahmen die Sonderkommandos von Birkenau einen verzweifelten Aufstand, bei dem eines der Krematorien in die Luft gesprengt wurde. Immer wieder kam es vor, da? sich die Sonderkommandos auf SS-Leute sturzten und sie mitsamt ihren Hunden in die Verbrennungsofen warfen. Schlie?lich wurden samtliche Angehorige der Sonderkommandos erschossen und das Lager forderte in Auschwitz neue Sonderkommandos an.

Eichmann unternahm noch eine letzte Anstrengung. Zwanzigtausend Juden, die Creme des europaischen Judentums, die sich bisher auf tschechischem Boden im Lager Theresienstadt »unter garantiertem Schutz« befunden hatten, wurden jetzt ebenfalls nach Birkenau in Marsch gesetzt. Zur Vernichtung.

Die Zahl der in Birkenau umgebrachten Juden stieg immer mehr an und erreichte schlie?lich die unvorstellbare Hohe von einer Million aus Polen, funfzigtausend aus Deutschland, hunderttausend aus Holland, hundertfunfzigtausend aus Frankreich, funfzigtausend aus Osterreich und der Tschechoslowakei, funfzigtausend aus Griechenland, zweihundertfunfzigtausend aus Bulgarien, Italien, Jugoslawien und Rumanien und dazu schlie?lich noch eine Viertelmillion aus Ungarn.

Und Tag fur Tag wahrend dieses makabren Vernichtungsfeldzuges ertonte der Ruf nach weiteren Sonderkommandos.

Im November wurde die Falscherwerkstatte in Auschwitz plotzlich geschlossen, und alle, die darin gearbeitet hatten, wurden nach Birkenau geschickt und dort als Sonderkommando verwendet.

Dovs neue Tatigkeit bestand darin, auf dem Korridor vor den Gaskammern zu warten, bis die Menschen vergast worden waren. Zusammen mit den anderen, die als Sonderkommando eingesetzt waren, wartete er, bis die Schreie der Sterbenden und das irre Hammern gegen die eisernen Turen aufgehort hatten. Sie warteten weitere funfzehn Minuten, bis das Gas abgezogen war. Dann offneten sie die Turen der Gaskammern. Zusammen mit den anderen mu?te Dov das grauenhafte Gewirr ineinander verkrampfter Arme und Beine mit Stricken und Haken entwirren, die Toten herausholen und auf Karren laden, mit denen sie zu den Verbrennungsofen gebracht wurden. Waren die Leichen entfernt, mu?te er in die Gaskammern hineingehen, den Boden mit einem Wasserschlauch abspritzen und den »Duschraum« fur die nachsten Opfer herrichten, die bereits in den Auskleideraumen warteten. Drei Tage lang war Dov mit dieser grauenhaften Arbeit beschaftigt. Sie verschlang den letzten Rest seiner Kraft, und der unbeugsame, zahe Lebenswille, der ihn bis hierher aufrechterhalten hatte, schien zu erloschen. Er furchtete sich stets vor dem Augenblick, da sich die eiserne Tur offnete. Der Gedanke daran war schrecklicher als die Erinnerung an das Ghetto oder den Kanal. Er wu?te, da? er nicht imstande war, diesen grauenhaften Anblick noch oft zu ertragen.

Doch dann geschah etwas vollig Unerwartetes! Die Deutschen gaben Befehl, die Verbrennungsofen abzubrechen und die Gaskammern zu sprengen! Die Alliierten ruckten vom Westen und die Russen vom Osten immer naher. Die Nazis machten verzweifelte Anstrengungen, um die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. Uberall in Polen wurden die Massengraber geoffnet und die Knochen der Leichen zerstuckelt und zerstreut. Von der deutschen Wehrmacht dringend benotigte Transportmittel wurden dazu verwendet, die Juden nach Deutschland zu bringen.

Am 22. Januar 1945 erreichten Truppenteile der russischen Armee die Lager Auschwitz und Birkenau und befreiten die Haftlinge. Die Orgie des Mordens war zu Ende. Dov Landau, funfzehnjahrig, war einer der funfzigtausend, die von den dreieinhalb Millionen polnischer Juden am Leben geblieben waren. Er hatte das Versprechen gehalten, das er seinem Bruder gegeben hatte.

XXVI.

Die russischen Militararzte, die Dov untersuchten, waren erstaunt, da? der Junge die Jahre der Entbehrungen und Leiden uberstanden hatte, ohne dauernden Schaden davongetragen zu haben. Er war schwachlich und unterentwickelt, zu klein fur sein Alter, und er wurde nie langere Zeit korperlich schwer arbeiten konnen, doch durch entsprechende Pflege konnte er einigerma?en in eine normale korperliche Verfassung gebracht werden.

Etwas anderes war es mit dem psychischen Schaden, den man ihm zugefugt hatte. Der Junge hatte sich durch all die Jahre mit geradezu ubermenschlicher Energie am Leben erhalten. Jetzt aber, da die bestandige Anspannung nachlie?, scho? ihm bei Tag und bei Nacht ein Strom qualender Bilder durch den Kopf. Er versank in tiefe Depression, und sein geistiger Zustand naherte sich bedrohlich der dunnen Grenze, die den Normalen von dem nicht mehr Normalen trennt.

Die Wande aus Stacheldraht waren niedergerissen, die Gaskammern und die Verbrennungsofen waren verschwunden, doch die Erinnerung an das Schreckliche war in ihm wach geblieben und noch immer schien der grauenhafte Geruch in der Luft zu hangen. Jedesmal, wenn er sich die blaue Nummer ansah, die man ihm auf den linken Unterarm tatowiert hatte, durchlebte er von neuem den schaurigen Augenblick, wenn sich die Turen der Gaskammern offneten. Und immer wieder sah er im Geiste das Bild, wie aus einer Gaskammer in Treblinka die Leiche seiner Mutter herausgeholt wurde. Und wieder und wieder kniete er in dem Bunker im Warschauer Ghetto, hielt seine flackernde Kerze dicht uber die Gesichter der Toten und fragte sich, welcher davon wohl sein Bruder Mundek sei.

Die Juden, die in Auschwitz am Leben geblieben waren, hockten dort in mehreren Baracken zusammen. Dov konnte sich nicht vorstellen, da? es eine Welt gab, in der das Leben nicht aus Elend, Niedertracht und Qual bestand. Eine Welt, in der man nicht hungerte und fror, uberstieg seine Begriffe. Selbst die Nachricht, da? die Deutschen kapituliert hatten, loste bei den Menschen in Auschwitz keine Freude aus.

Dov Landaus Denken war vergiftet vom Ha?. Er fand es schade, da? die Gaskammern verschwunden waren, denn er malte sich in Gedanken aus, wie man reihenweise deutsche SS-Leute mit ihren Hunden hineintrieb.

Der Krieg war zu Ende, doch keiner wu?te recht, was er anfangen und wohin er gehen sollte. Nach Warschau? Warschau war zweihundert Kilometer entfernt, und die Stra?en waren verstopft von Fluchtlingsstromen. Und selbst wenn er es schaffen sollte, nach Warschau zu kommen, was dann?

Das Ghetto lag vollig in Trummern, und seine Mutter und sein Vater und seine Schwester und Mundek waren nicht mehr da, sie waren alle tot. Tagein tagaus sa? Dov am Fenster und starrte stumm auf den dusteren Himmel, der wie ein Leichentuch uber der Landschaft lag. Allmahlich wagten sich die Juden in Auschwitz, einer nach dem andern, aus dem Lager hinaus und machten sich auf den Weg nach Haus. Und einer nach dem andern kamen sie enttauscht und verzweifelt wieder nach Auschwitz zuruck. Die Deutschen waren zwar nicht mehr da, doch die Polen machten ganz in ihrem Sinne weiter. Sie waren weder erschuttert noch entrustet, da? man dreieinhalb Millionen Juden umgebracht hatte. Ganz im Gegenteil, uberall in den Stadten und Ortschaften stand es an den Wanden und schrien es die Leute: Die Juden sind am Krieg schuld! Die Juden haben den Krieg angefangen, um daran zu

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