verdienen! An unserem ganzen Ungluck sind die Juden schuld!
Es gab nicht eine Trane fur die, die umgekommen waren, doch eine Fulle von Ha? gegen diejenigen, die am Leben geblieben waren. Der Mob zertrummerte judische Geschafte und verprugelte Juden, die versuchten, zu ihrem Heim und Eigentum zuruckzukehren. Und so kamen alle, die sich aus dem Lager herausgewagt hatten, wieder nach Auschwitz zuruck. Sie hockten in den dreckigen Baracken, verzweifelt und halb von Sinnen, und erwarteten mutlos ihr Ende. Das Schreckgespenst des Todes blieb in ihrer Mitte, und der Geruch von Birkenau hing noch immer in der Luft.
Im Sommer 1945 kam ein Mann in das Lager, der von den Uberlebenden mit Mi?trauen und Knurren empfangen wurde. Es war ein hochgewachsener, stattlicher Mann, etwas uber zwanzig, mit einem machtigen schwarzen Schnurrbart. Er hatte ein schneewei?es Hemd an, dessen Armel er bis uber die Ellbogen aufgekrempelt hatte, und er ging durch das Lager in der ungewohnten, wunderbaren Gangart eines freien Menschen. Eine Versammlung unter freiem Himmel wurde einberufen, und die Juden kamen aus den Baracken heraus und scharten sich um ihn.
»Mein Name ist Bar Dror, Schimschon Bar Dror«, rief der junge Mann. »Ich bin aus Palastina hierher geschickt worden, um euch alle in die Heimat zu holen!«
Seine Worte losten Jubelrufe und Freudentranen aus. Bar Dror wurde mit zahllosen Fragen uberschuttet. Viele fielen auf ihre Knie und ku?ten ihm die Hande, andere wollten ihn nur einmal beruhren, ihn horen, ihn sehen. Ein freier Jude, aus Palastina! Schimschon Bar Dror — Samson, Kunder der Freiheit — war gekommen, um sie nach Hause zu bringen.
Bar Dror ubernahm die Leitung des Lagers und sturzte sich mit Eifer an die Arbeit. Er erklarte ihnen, da? es noch einige Zeit dauern werde, bis sie sich auf den Weg machen konnten, doch in der Zwischenzeit, bis Mossad Aliyah Bet die erforderlichen Vorbereitungen getroffen hatte, taten sie besser daran, ein menschenwurdiges Leben zu fuhren.
Das Lager, dessen Insassen neue Hoffnung schopften, bekam ein vollig verandertes Gesicht. Bar Dror organisierte Lagerausschusse, die fur Sauberkeit und Ordnung sorgten, eine Schule wurde eingerichtet, eine Theatergruppe gebildet, ein kleines Orchester gegrundet und Tanzabende veranstaltet, eine Lagerzeitung wurde gedruckt, und man hielt Zusammenkunfte ab, in denen endlos uber Palastina diskutiert wurde. Schimschon begann, in der Nahe des Lagers sogar eine Musterfarm einzurichten, um die Insassen landwirtschaftlich auszubilden. Als die Selbstverwaltung des Lagers endlich funktionierte, ging er daran, aus den Fluchtlingstrecks weitere Juden herauszuholen und sie gleichfalls zum Sammelplatz in Auschwitz zu bringen.
Doch wahrend Bar Dror und andere Mitglieder des Mossad Aliyah Bet unermudlich tatig waren, um die Juden zu sammeln und sie aus Polen herauszuschleusen, waren andere Krafte ebenso eifrig am Werke, sie in Polen festzuhalten. Uberall in Europa ubten die englischen Botschaften und Konsulate Druck auf die Regierungen aus, um sie zu veranlassen, ihre Grenzen fur diese Fluchtlinge zu sperren. Denn, so argumentierten die Englander, das Ganze sei ein Komplott der Zionisten aller Lander, um in der Frage des PalastinaMandats eine Losung in ihrem Sinne zu erzwingen.
Wahrend dieser unterirdische Kampf zwischen den Englandern und Mossad Aliyah Bet im Gange war, erlie? die polnische Regierung eine staunenerregende Verordnung. Darin hie? es, da? alle Juden in Polen zu bleiben hatten. Die polnische Regierung begrundete diesen Schritt mit der Befurchtung, eine Auswanderung von Juden aus Polen konnte in der ubrigen Welt den — im ubrigen durchaus zutreffenden — Eindruck hervorrufen, da? Polen die Juden auch weiterhin verfolge.
So wurden die Juden in einem Lande festgehalten, in dem man sie nicht haben wollte, und daran gehindert, in ein Land zu gehen, in dem sie willkommen waren.
Es wurde Winter in Auschwitz, und die Zuversicht im Lager sank allmahlich. Alle Anstrengungen, die Bar Dror gemacht hatte, waren vergeblich gewesen. Die Manner aus Palastina versuchten, den Lagerinsassen den politischen Kampf zu erklaren, der im Gange war, doch die Uberlebenden wollten sie nicht anhoren. Sie interessierten sich nicht fur Politik.
Mitten im tiefen Winter kam ein zweiter Mann von Aliyah Bet ins Lager, und gemeinsam mit Bar Dror fa?te er einen gewagten Entschlu?. Die Gruppenleiter wurden zusammengerufen und bekamen den Auftrag, alles fur den Abmarsch aus dem Lager vorzubereiten.
»Wir mussen die tschechische Grenze erreichen«, sagte Bar Dror. »Das ist zwar nicht sehr weit, doch der Weg dahin wird schwierig. Wir konnen uns nicht schneller bewegen als der Langsamste von uns, und wir mussen die Stra?e vermeiden.« Bar Dror entfaltete eine Karte und zeichnete eine Marschroute von rund hundert Kilometern ein, durch die Karpaten und den Jablonka-Pa?.
»Und was wird, wenn wir an die Grenze kommen?« fragte einer. »Wir haben Leute von Aliyah Bet hingeschickt, die die polnischen Grenzwachen bestechen. Wenn wir in die Tschechoslowakei durchkommen, sind wir furs erste sicher. Jan Masaryk ist unser Freund. Er wird es nicht zulassen, da? man uns wieder zuruckschickt.«
Sie brachen mitten in der Nacht von Auschwitz auf, vermieden die Stra?e und schleppten sich muhsam querfeldein durch den hohen Schnee — ein mitleiderregender Zug von Uberlebenden, bei dem die Starken die Schwachen stutzten und die Kinder trugen. Sechs schreckliche Tage lang schleppten sie ihre entkrafteten Korper durch die Winterkalte und kampften sich gegen den schneidenden Wind hinauf ins Gebirge. Wie durch ein Wunder gelang es den Mannern von Aliyah Bet, alle am Leben zu erhalten und sie naher und naher an die Grenze heranzufuhren.
Langs der Grenze waren andere Manner von Aliyah Bet fieberhaft damit beschaftigt, Bestechungsgelder unter den polnischen Grenzposten zu verteilen, und als sich die abgerissene Karawane der Grenze naherte, kehrten ihr die bestochenen Posten den Rucken, und die Juden waren in der Tschechoslowakei.
Weiter ging der Marsch durch die Kalte, uber den Jablonka-Pa? hinuber und jenseits ins Tal hinunter, wo sie vollig erschopft anlangten, ausgehungert, mit wundgelaufenen Fu?en und arztlicher Hilfe bedurftig. Ein Sonderzug stand bereit, organisiert von Mossad Aliyah Bet. Die Fluchtlinge bestiegen die geheizten Wagen und bekamen Nahrung und Pflege. Die erste Etappe der gefahrlichen Reise war gegluckt.
Jeder Jude, der legal nach Palastina eingewandert war, stellte seinen Pa? Mossad Aliyah Bet zur Verfugung, damit ihn ein anderer Einwanderer benutzen konnte. An die Fluchtlinge aus Auschwitz wurden funfhundert solcher Passe verteilt, die vorsorglich auch noch mit Einreisevisen fur Venezuela, Ekuador, Paraguay und andere sudamerikanische Staaten versehen waren. Diese »Dokumente« wurden die Englander zunachst einmal in Schach halten. Die britische CID bekam Wind von den funfhundert Juden, die von Polen in die Tschechoslowakei gekommen waren und meldete den Fall dem Auswartigen Amt in London. Whitehall gab dem britischen Botschafter in Prag telegrafisch Anweisung, sich sofort mit dem tschechischen Au?enminister Masaryk in Verbindung zu setzen und dafur zu sorgen, da? der Zug angehalten und nach Polen zuruckgeschickt werde. Der britische Botschafter, der im Sinne seiner Instruktionen bei Jan Masaryk vorstellig wurde, fuhrte aus, die Aktion des Mossad sei illegal, widerspreche den polnischen Gesetzen und sei von den Zionisten nur unternommen worden, um eine Entscheidung uber Palastina zu erzwingen.
Masaryk lachelte. »Ich verstehe zwar nicht viel von den Wegen des Ols, dafur aber sehr viel von den Wegen der Menschen.«
In der diskreten Sprache der Diplomatie deutete der Botschafter indigniert an, da? die Mi?achtung britischer Interessen unerfreuliche Auswirkungen fur die Tschechoslowakei haben konnte.
»Herr Botschafter«, sagte Masaryk in verandertem Tonfall, »ich werde mich weder dieser noch einer anderen britischen Drohung beugen. So lange ich Au?enminister der Tschechoslowakei bin, werden die Grenzen meines Landes fur jeden Juden offen sein, gleichgultig ob mit oder ohne Pa? und Visum.«
Die Unterredung war beendet, und der Botschafter mu?te Whitehall davon unterrichten, da? es nicht moglich gewesen sei, den Zug anzuhalten. Er rollte nach Pre?burg weiter und naherte sich der osterreichischen Grenze.
Die Englander unternahmen erneut den Versuch, den Zug anzuhalten, doch diesmal uberquerte er unter dem Schutz eines hohen amerikanischen Offiziers die Grenze.
In Wien gab es einen Aufenthalt, den die Uberlebenden von Auschwitz dringend notig hatten. In einem riesigen Ausrustungslager, das von amerikanischen Juden zur Unterstutzung der uberlebenden europaischen Juden eingerichtet worden war, wurden sie neu eingekleidet.
Von Osterreich ging es nach Italien, und dort geno? Mossad Aliyah Bet die uneingeschrankte Unterstutzung der Offentlichkeit und der amtlichen Stellen. Die Freizugigkeit war nur dadurch behindert, da? das Land von den Englandern besetzt war.