Mundek lachelte. »Ganz Polen hat sich nur sechsundzwanzig Tage halten konnen. Das haben wir bereits geschafft.« Mundek teilte die Wachen ein, gab den kleinen Rest Verpflegung aus, der noch vorhanden war, und legte den Weg des Spahtrupps fest.

Rywka, eines der Madchen, nahm ein arg mitgenommenes Akkordeon und begann eine langsame, wehmutige Weise zu spielen. Und in dem feuchten, stickigen Bunker, drei Meter unter der Erde, vereinigten die Bauleute, die noch am Leben waren, ihre Stimmen zu einem sehnsuchtigen Gesang. Sie sangen ein Lied, das sie als Kinder gelernt und auf den Versammlungen der Bauleute gesungen hatten. Der Text des Liedes erzahlte davon, wie schon es in Galilaa war, im Lande Israel, und da? dort auf den Feldern der Weizen wuchs, dessen Ahren sanft im Winde schwankten. In einem Bunker unter der Erde des Warschauer Ghettos sangen sie von den Feldern in Galilaa, die sie, wie sie wu?ten, niemals sehen wurden.

»Achtung!« rief der Posten nach unten, als er eine einsame Gestalt erspahte, die durch die Flammen und Trummer langsam herankam. Das Licht ging aus, und im Bunker wurde es dunkel und still. Dann klopfte jemand an die Tur. Es war das verabredete Zeichen. Die Tur wurde geoffnet und geschlossen, und im Bunker wurde es wieder hell.

»Dov! Um Himmels willen! Was willst du denn hier?«

»Schick mich nicht wieder fort, Mundek!«

Die beiden Bruder umarmten sich, und Dov weinte. Er war glucklich, da? er wieder bei Mundek war. Alle drangten sich um Dov, der die schlimme Botschaft brachte: Es sei endgultig entschieden, da? die polnische Widerstandsbewegung den Juden nicht zu Hilfe kommen wurde und da? drau?en alle Leute den Aufstand des Ghettos zu verschweigen trachteten.

»Als ich jetzt zuruckkam«, sagte Dov, »war der Kanal voll von Menschen, die einfach im Schlamm liegen. Sie sind so schwach, da? sie nicht mehr weiterkonnen. Sie wissen auch nicht, wohin. Niemand in Warschau ist bereit, sie aufzunehmen.«

So kam also der kleine Dov in das Ghetto zuruck — und nicht nur er. Es geschah etwas sehr Merkwurdiges. Aus ganz Warschau und den umliegenden Dorfern kamen jetzt Juden, denen es gelungen war, unterzutauchen und als Christen zu leben, wieder ins Ghetto zuruck, um an der letzten Phase des Kampfes teilzunehmen. Sie hielten es fur ein Privileg, ehrenvoll zu sterben.

Das Bombardement horte endlich auf. Die Hauser brannten nieder, das Feuer erlosch.

Von neuem schickte Stroop seine SS in das Ghetto, und diesmal hatte sie gewonnenes Spiel. Die Juden hatten keinerlei AbwehrStellungen mehr, keine Verbindung untereinander, kaum noch Waffen und fast nichts mehr zu essen und zu trinken. Die Deutschen gingen systematisch vor, riegelten jeweils einen Abschnitt des Ghettos ab und knackten mit Artillerie und Flammenwerfern einen Bunker nach dem andern, bis in dem ganzen Abschnitt nichts mehr lebte.

Sie bemuhten sich, Gefangene zu machen, um aus ihnen die genaue Lage der anderen Bunker herauszufoltern, doch die Kampfer des ZOB verbrannten lieber bei lebendigem Leibe, als sich zu ergeben. Die Deutschen offneten die Schleusendeckel und pumpten Giftgas in die Kanale. Bald war das schlammige Wasser voller Leichen. Doch der ZOB kampfte noch immer. Wenn die Besatzung eines Bunkers eine deutsche Patrouille entdeckte, kam sie hervor und schlug rasch und todlich zu. Selbstmorderkommandos sturzten sich in den sicheren Tod. Die Verluste der Deutschen stiegen in die Tausende.

Am 14. Mai 1943 versammelte Mundek die zwolf Uberlebenden seiner Gruppe. Er sagte ihnen, sie hatten die Wahl zwischen zwei Moglichkeiten: entweder dazubleiben und zu kampfen bis zum letzten Mann, oder aber die Flucht durch den Kanal zu versuchen. Vielleicht gelang es Dov, sie aus dem Ghetto heraus und in Sicherheit zu bringen. Dann bestand die freilich sehr geringe Chance, eine Gruppe der Widerstandskampfer zu erreichen und sich ihr anzuschlie?en. Dov versicherte Mundek, es sei moglich, das vergaste Gebiet des Kanalsystems zu umgehen.

Er machte sich zunachst allein auf den Weg, und es gelang ihm wirklich in die Stadt zu kommen. Doch als er sich dem Haus Zabrowska 99 naherte, sagte ihm sein Instinkt, da? dort irgend etwas nicht stimmte. Ohne stehenzubleiben ging er an dem Haus vorbei. Seine scharfen Augen entdeckten ein Dutzend Leute, die von verschiedenen Beobachtungsposten aus das Haus Zabrowska 99 uberwachten. Dov wu?te nicht, ob Wanda von der Gestapo gefa?t worden war oder nicht, aber er wu?te jedenfalls, da? das Haus nicht mehr sicher war.

Spat am Abend kam er ins Ghetto zuruck. Es war selbst fur ihn nicht leicht, den Bunker zu finden, denn es gab keine Stra?en, keine Hauser mehr, nur noch Trummer. Als er naher kam, roch er den vertrauten Geruch verbrannten Fleisches. Er stieg hinunter und zundete die Kerze einer kleinen Lampe an, die er immer bei seinen Gangen durch den Kanal benutzte. Bei ihrem flackernden Licht ging Dov von einem Ende des Bunkers zum anderen, kniete sich bei jedem, der am Boden lag, hin und leuchtete ihm mit seiner Kerze ins Gesicht. Die noch rauchenden Toten waren durch Flammenwerfersto?e aus nachster Nahe bis zur volligen Unkenntlichkeit entstellt. Dov Landau wu?te nicht, welche der verkohlten Leichen die seines geliebten Bruders Mundek war.

Am 15. Mai    1943 brachte    der    Sender des ZOB    seinen letzten Aufruf: »Hier spricht das Warschauer Ghetto! Wir bitten euch, helft uns!«

Am nachsten Tag, nachdem bereits sechs volle Wochen seit dem ersten deutschen Angriff vergangen waren, lie? SS-General Stroop die gro?e Synagoge in der Tlamatzka sprengen, die seit vielen Jahrzehnten ein Symbol des Judentums in Polen gewesen war. Am gleichen Tag    verkundeten    die    Deutschen, das    Problem des Warschauer Ghettos sei nunmehr endgultig gelost. Stroop meldete seiner vorgesetzten Dienststelle die Eroberung von sechzehn Pistolen und vier Gewehren. Au?erdem teilte er mit, da? die Trummer der Gebaude brauchbares Baumaterial ergaben. Gefangene seien nicht gemacht worden.

Selbst nach    dieser mit    so    au?erordentlicher    Grundlichkeit vollzogenen Vernichtung gab es noch einzelne Kampfer des ZOB, die sich weigerten, zu sterben. Auch in den Trummern ging der Kampf weiter. Die Juden, die auf irgendwelche Weise mit dem Leben davongekommen waren, fanden einander, bildeten zu zweien und dreien kleine »Rudel« und uberfielen bei Nacht deutsche Patrouillen. Die SS-Leute und die polnischen Blauen glaubten steif und fest, im Ghetto gingen Gespenster um.

Dov fand sechs andere Juden. Sie gingen von Bunker zu Bunker, bis alle bewaffnet waren. Sie zogen hierhin und dorthin, doch der Anblick und der Gestank des Todes war uberall. Bei Nacht fuhrte Dov sie durch den Kanal in die Stadt, wo sie rasche Uberfalle auf Lebensmittelgeschafte unternahmen.

Den ganzen Tag uber blieben Dov und die sechs anderen unter der Erde, in einem frisch ausgehobenen Bunker. Funf schreckliche Monate lang erblickten weder Dov Landau noch einer seiner Kameraden jemals das Licht des Tages. Sie starben einer nach dem anderen — drei bei einem Uberfall in Warschau, zwei begingen Selbstmord, und einer verhungerte.

Schlie?lich war nur noch Dov allein am Leben. Gegen Ende des funften Monates wurde er von einer deutschen Patrouille gefunden. Er war dem Tode nahe und hatte kaum noch Ahnlichkeit mit einem menschlichen Wesen. Man schleppte ihn zur Gestapo, um ihn zu vernehmen.

Jede Vernehmung endete damit, da? Dov Landau geschlagen wurde. Man glaubte ihm einfach nicht, da? er ohne jede Hilfe von au?en so lange in den Trummern des Warschauer Ghettos am Leben geblieben sei.

XXIV.

Dov Landau, dreizehn Jahre alt, Ghettoratte, Kanalratte, Trummerratte und Spezialist fur Falschungen, wurde einem Aussiedlungstransport zugeteilt. Zusammen mit sechzig anderen Juden wurde er in einen offenen Guterwagen verfrachtet. Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte durch die einsame Landschaft und die eisige Kalte nach Suden — Richtung Auschwitz!

BERLIN 1940

SS-Brigadefuhrer Ho? erschien im Dienstzimmer des SS-Obersturmbannfuhrers Eichmann, dem man die Aufgabe ubertragen hatte, die »Endlosung« des judischen Problems zu vollziehen. Eichmann zeigte Ho? den Plan, die Gemeinschaftsarbeit aller NaziGro?en. Ho? war von dem ausgeklugelten Plan des Massenmordes sehr beeindruckt.

Der ganze europaische Kontinent war mit Konzentrationslagern und Gefangnissen fur politische Haftlinge wie mit einem feinmaschigen Geflecht uberzogen. In jedem besetzten Land befanden sich Gestapo-Dienststellen. Ein weiteres Netz von dreihundert Nebenlagern umspannte Europa. Die Halfte davon war fur Juden reserviert.

Trotz aller Konzentrationslager und ihrer sorgfaltig ausgewahlten Lage wu?ten die Nazis, da? au?erordentliche Schwierigkeiten entstehen wurden, falls sie versuchten, in Westeuropa Vernichtungslager einzurichten. Man hatte Ho? nach Berlin gerufen, weil Polen sowohl in bezug auf die Balkanlander als auch in bezug auf Westeuropa verkehrstechnisch am gunstigsten gelegen war. Ein solches Lager, das als Modell dienen konnte,

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