durch die schwarze Nacht des Kanals und den schlammigen Dreck, der ihm bis an die Schultern ging. War er erst einmal »unter der Mauer« aus dem Ghetto heraus, so begab er sich auf die Zabrowska 99, wo eine Frau wohnte, von der er nur wu?te, da? sie Wanda hie?. Nachdem er sich bei ihr sattgegessen hatte, machte er sich auf den Ruckweg und stieg wieder hinunter in den Kanal, beladen mit Pistolen, Munition, Geld, Radioteilen, mit Nachrichten aus anderen Ghettos und von den Partisanen.
In der Zwischenzeit hielt sich Dov am liebsten im Hauptquartier der Bauleute auf, wo Mundek und Rebekka den gro?ten Teil ihrer Zeit verbrachten. Rebekka war damit beschaftigt, Ausweise und Passe zu falschen. Dov sah ihr dabei zu und fing bald an, ihr bei der Arbeit zu helfen. Es dauerte nicht lange, bis sich herausstellte, da? Dov eine au?erordentliche Begabung fur Nachahmungen besa?. Er hatte scharfe Augen und eine sichere Hand, und im Alter von zwolf Jahren entwickelte er sich rasch zu dem besten Falscher, den die Bauleute hatten.
Im Juni 1942 unternahmen die Deutschen einen entscheidenden Schritt zur »Endlosung« des judischen Problems. Sie errichteten mehrere Lager zur Liquidierung der judischen Bevolkerung. Um mit den Juden im Gebiet von Warschau fertigzuwerden, errichtete man an einer abgelegenen Stelle, einem Ort namens Treblinka, auf einem abgegrenzten Gelande von dreiunddrei?ig Morgen ein Lager, dessen zwei Hauptgebaude dreizehn Gaskammern enthielten. Au?erdem gab es dort Unterkunfte fur Arbeiter und das deutsche Lagerpersonal, und riesige Flachen, die fur das Verbrennen der Leichen vorgesehen waren. Treblinka, eines der ersten dieser Lager, war nur ein Vorlaufer spaterer Lager gro?eren Umfangs.
Der Juli bringt einen Tag der Trauer fur alle Juden. Vielleicht war an diesem Tag des Jahres 1942 die Trauer der Juden, die im Warschauer Ghetto oder einem anderen Ghetto in Polen lebten, noch tiefer als die Trauer der Juden in anderen Landern. Es war Tischa Be'Aw, der Tag, an dem die Juden der Zerstorung des Tempels in Jerusalem durch die Babylonier und die Romer gedenken. Es war ein Tag der Trauer, denn die Eroberung Jerusalems durch die Romer vor fast zweitausend Jahren hatte das Ende der judischen Nation bedeutet. Seitdem waren die Juden in alle vier Winde zerstreut. Seit jenem Tage lebten sie in der Diaspora.
1942 fiel Tischa Be'Aw zeitlich mit beschleunigten Ma?nahmen zur »Endlosung« des judischen Problems zusammen.
Wahrend die Warschauer Juden sowohl ihres damaligen als auch ihres gegenwartigen Unglucks in Trauer gedachten, kamen deutsche Dienstwagen ins Ghetto gefahren und hielten vor dem Haus, in dem der »Judenrat« seinen Sitz hatte. Allem Anschein nach handelte es sich um eine weitere Razzia. Man wollte neue Leute in die Zwangsarbeitsbataillone stecken. Doch diesmal lag irgendein Unheil in der Luft. Die Deutschen wollten nur sehr alte und sehr junge Leute haben. Panik verbreitete sich im Ghetto, als die alten Leute zusammengetrieben wurden und die Deutschen sich Kinder herausgriffen, sie den angstlichen Muttern entrissen.
Die Alten und die Kinder mu?ten sich auf dem »Umschlagplatz« in Reih und Glied aufstellen und wurden dann durch die Stawki-Stra?e zu dem Rangiergleis gefuhrt, wo ein langer Guterwagenzug bereitstand. Eine erschrockene und besturzte Menschenmenge drangte hinzu, verzweifelte Eltern wurden mit vorgehaltener Pistole von ihren Kindern ferngehalten, und mehrere wurden auch erschossen.
Die Kinder lachten und sangen. Die deutschen Wachtposten hatten ihnen einen Ausflug aufs Land versprochen. Das war eine herrliche Sache! Viele von den Kindern konnten sich kaum noch erinnern, jemals au?erhalb des Ghettos gewesen zu sein.
Der Zug setzte sich in Richtung auf Treblinka in Bewegung. Das Ziel der Reise war die »Endlosung«. Tischa Be'Aw — 23. Juli 1942. Zwei Wochen spater kam Dov Landau von Wandas Wohnung auf der Zabrowska 99 mit einem grauenhaften Bericht zuruck. Er besagte, da? alle, die man am Tischa Be'Aw und bei funf darauffolgenden Razzien zusammengetrieben hatte, nach Treblinka gebracht und dort in Gaskammern getotet worden waren. Nach Mitteilungen aus anderen Ghettos gab es in Polen mehrere derartige Lager: Belzec, im Gebiet von Krakau, Chelmno bei Lodz, und Majdanek, in der Nahe von Lublin, waren bereits in Betrieb oder kurz vor der Fertigstellung. Allem Anschein nach, so hie? es in dem Bericht, seien ein Dutzend weiterer Lager dieser Art im Bau.
Massenmord in Gaskammern? Es schien unfa?bar! Mundek, als Oberhaupt der Bauleute, traf sich mit den Fuhrern eines halben Dutzend anderer zionistischer Gruppen innerhalb des Ghettos, und sie erlie?en gemeinsam einen Aufruf an alle, sich zu erheben und aus dem Ghetto auszubrechen.
Dieser Appell hatte mehr moralische als praktische Bedeutung. Die Juden hatten keine Waffen. Hinzu kam, da? jeder, der einen Ausweis als Zwangsarbeiter hatte, fest davon uberzeugt war, dieser Ausweis stelle fur ihn eine Lebensversicherung dar.
Doch der entscheidende Grund dafur, da? die Juden keinen Aufstand machen konnten, war die Tatsache, da? in Polen fur einen solchen Aufstand keine Unterstutzung von au?erhalb des Ghettos zu erwarten war. In Frankreich hatte die Vichy-Regierung das Ansinnen der Deutschen auf Auslieferung der franzosischen Juden glatt abgelehnt. In Holland war die Bevolkerung einmutig entschlossen, die dort lebenden Juden versteckt zu halten. In Danemark setzte sich nicht nur der Konig uber die Anordnungen der Deutschen hinweg, sondern die Danen brachten ihre gesamte judische Bevolkerung nach Schweden in Sicherheit.
Wenn die Polen vielleicht auch nicht unbedingt fur die Ausrottung ihrer Juden waren, so waren sie jedenfalls nicht dagegen. Und soweit manche vielleicht dagegen waren, unternahmen sie nichts, um dieser Ablehnung Ausdruck zu verleihen. Nur eine sehr kleine Minoritat des polnischen Volkes war bereit, einen Juden, der unterzutauchen versuchte, aufzunehmen und zu verbergen.
Im Innern des Ghettos verfolgte jede der verschiedenen Gruppen und Organisationen vollig verschiedene Ziele. Die strengglaubigen Juden waren mit den sozialistischen Juden nicht einig, und die konservativen stritten mit den linksradikalen.
Die Juden lieben das Debattieren; in der Eintonigkeit des Ghettos war Argumentieren und Debattieren ein wunderbarer Zeitvertreib geworden. Doch jetzt war hochste Gefahr entstanden. Die von Mundek gefuhrten Bauleute vereinigten die unterschiedlichen Gruppen unter einem gemeinsamen Kommando, das sich abgekurzt als ZOB bezeichnete und die Aufgabe hatte, das Leben derjenigen Juden zu retten, die im Ghetto noch am Leben waren.
Immer wieder machte Dov den Weg durch die Kanale zu Wandas Wohnung auf der Zabrowska 99. Dabei nahm er jedesmal ein Schreiben des ZOB an die polnische Widerstandsbewegung mit, worin diese um Unterstutzung und um Waffen gebeten wurde. Die meisten dieser Appelle blieben unbeantwortet. In den wenigen Fallen, in denen eine Antwort kam, war sie ausweichend. Diesen ganzen schrecklichen Sommer hindurch, wahrend die Deutschen immer wieder Juden zusammentrieben und nach Treblinka abtransportierten, machte der ZOB verzweifelte Anstrengungen, die vollige Vernichtung zu verhindern.
Als Dov Anfang September wieder einmal den Weg nach Warschau machte, wurde es fur ihn au?erordentlich gefahrlich. Als er aus dem Haus, in dem Wanda wohnte, wieder herauskam, verfolgten ihn vier finstere Burschen, die ihn in einer Sackgasse stellten und von ihm verlangten, er solle seinen Ausweis zeigen, um zu beweisen, da? er kein Jude sei. Der Junge stand mit dem Rucken gegen die Wand. Seine Peiniger drangen auf ihn ein, um ihm die Hosen herunterzuziehen und nachzusehen, ob er beschnitten sei. Da zog Dov eine Pistole heraus, die man ihm fur das Ghetto mitgegeben hatte, erscho? damit den einen der Angreifer und trieb die andern drei in die Flucht. Dann rannte er los, so rasch er konnte, bis er wieder unter der Erde und in der Sicherheit des Kanals war.
Als er schlie?lich im Hauptquartier der Bauleute angelangt war, brach er zusammen. Mundek versuchte, ihn zu beruhigen. Dov fuhlte sich immer in Sicherheit, wenn sein gro?er Bruder bei ihm war. Mundek war inzwischen schon fast einundzwanzig, doch er war hager und sah immer mude aus. Er hatte seine Aufgabe als Fuhrer ernst genommen und seine Krafte rucksichtslos eingesetzt. Es war ihm gelungen, fast die ganze Bauleute-Gruppe beisammenzuhalten; er hatte dafur gesorgt, da? ihr Mut nie erlahmte.
Die beiden Bruder redeten leise miteinander. Dov wurde allmahlich wieder ruhig. Mundek legte ihm den Arm um die Schulter, und gemeinsam gingen sie vom Hauptquartier zu dem Zimmer, in dem die Familie wohnte. Unterwegs sprach Mundek von dem Baby, das Ruth in wenigen Wochen erwartete, und wie wunderbar es fur Dov sein wurde, Onkel zu werden. Naturlich waren alle Mitglieder der Bauleute Tanten und Onkel von dem Baby, aber Dov werde ein richtiger Onkel sein. Innerhalb der Gruppe hatte es mehrere Eheschlie?ungen gegeben, und es gab bereits drei Babys — drei neue Bauleute. Aber Ruths Baby werde das prachtigste von allen sein. Au?erdem berichtete Mundek als gro?e Neuigkeit, da? es den Bauleuten wieder gelungen war, ein Pferd zu organisieren, und es bald ein richtiges Festmahl geben werde. Allmahlich horte Dov zu zittern auf. Als sie sich dem Ende der Treppe naherten, sah Dov seinen Bruder Mundek lachelnd an und sagte ihm, er habe ihn sehr lieb.
Als sie aber die Tur zu ihrem Zimmer offneten und das Gesicht von Rebekka sahen, begriffen sie augenblicklich, da? Schreckliches geschehen sein mu?te. Mundek gelang es schlie?lich, seine Schwester dazu zu bringen, einigerma?en zusammenhangend zu berichten.