Chassidim und ihr Gebetseifer sagten ihm nicht zu, und er hielt auch nichts von irgendeinem neuen Messias oder der Geheimwissenschaft der Kabbala. Er war nur noch bedingt ein Anhanger der judischen Religion. Er hielt die judischen Feste ein, ungefahr so, wie die meisten Christen Ostern und Weihnachten feiern. Er schatzte die Bibel, in der die Geschichte seines Volkes berichtet wurde, doch sie war fur ihn mehr eine historische Quelle als ein Gegenstand der Verehrung. Er konnte also seinen Kindern keinen tief verwurzelten Glauben uberliefern. Was Mendel Landau seinen Kindern mitgab, war eine Idee. Diese Idee lag in weiter Ferne, sie war ein Traum, und sie war unrealistisch. Sein Vermachtnis an seine Kinder war die Idee, da? die Juden eines Tages nach Palastina zuruckkehren und den alten judischen Staat wieder errichten sollten. Nur als Nation wurden die Juden jemals ihre Gleichberechtigung erreichen konnen. Mendel Landau, der Backer, mu?te schwer arbeiten. Er hatte vollauf genug zu tun und zu denken, um seine Familie durchzubringen und seinen Kindern ein Heim zu geben, eine Erziehung und seine Liebe. In seinen kuhnsten Traumen dachte er nicht daran, da? er selbst jemals Palastina sehen wurde, und er glaubte auch nicht wirklich, da? seine Kinder jemals dorthin kommen wurden. Doch er glaubte an die Idee.
Mendel war mit diesem Glauben unter den polnischen Juden nicht allein. Unter den dreieinhalb Millionen Juden, die in Polen lebten, gab es Hunderttausende, die dem gleichen Stern folgten, und diese Hunderttausende bildeten die Keimzelle der zionistischen Bewegung. Es gab orthodoxe Zionisten, sozialistische Zionisten, burgerliche Zionisten, und es gab sogar auch kleine militante zionistische Gruppen.
Da Mendel Gewerkschaftsmitglied war, gehorten er und seine Familie einer Gruppe sozialistischer Zionisten an, die sich Habonim, die »Bauleute«, nannten. Diese »Bauleute« bildeten den Mittelpunkt, um den sich das ganze Leben der Landaus bewegte. Von Zeit zu Zeit kamen Manner aus Palastina, die Reden hielten und Anhanger warben; es gab Bucher und Schriften und Diskussionen, und es gab Abende, an denen man zusammenkam und Lieder sang und tanzte, um die Idee wachzuhalten.
Die Landaus waren eine sechskopfige Familie. Der alteste Sohn, Mundek, war ein stammiger Bursche von achtzehn Jahren und gleichfalls Backer. Mundek war der geborene Fuhrer und Gruppenleiter bei den »Bauleuten«. Ruth, die altere Tochter, war siebzehn und genauso schuchtern, wie es ihre Mutter als junges Madchen gewesen war. Sie liebte Jan, der gleichfalls einen fuhrenden Posten bei den Bauleuten bekleidete, und Jan liebte sie. Dann kam Rebekka, vierzehnjahrig, und schlie?lich der jungste, der kleine Dov. Er war zehn Jahre alt, hatte blonde Haare und gro?e blaue Augen, und er war noch zu jung, um Mitglied der Bauleute zu sein. Er liebte und bewunderte seinen gro?en Bruder Murvdek, der ihm wohlwollend gestattete, zu den Versammlungen der Bauleute mitzukommen.
Am 1. September 1939 marschierten die Deutschen, nachdem sie eine Reihe von Grenzzwischenfallen inszeniert hatten, in Polen ein. Mendel Landau und sein altester Sohn Mundek gingen zum Heer.
Die deutsche Wehrmacht zerschlug Polen in einem Blitzkrieg, der nur sechsundzwanzig Tage dauerte. Mendel Landau blieb auf dem Schlachtfeld, und mit ihm mehr als drei?igtausend Juden, die wie er auf polnischer Seite gekampft hatten.
Die Landaus konnten sich nicht den Luxus leisten, den Gefallenen lange zu betrauern, denn fur sie bestand drohende Gefahr. Mundek, der an der todesmutigen, aber vergeblichen Verteidigung von Warschau teilgenommen hatte, kehrte als Oberhaupt der Familie heim.
In dem Augenblick, da die Deutschen in Warschau einruckten, versammelten sich die Bauleute, um zu uberlegen, was nun zu tun sei. Die meisten polnischen Juden meinten, es wurde ihnen nichts geschehen und nahmen eine abwartende Haltung ein. Die Bauleute und andere zionistische Gruppen in allen Teilen des Landes waren nicht so naiv. Sie waren sich dessen bewu?t, da? die deutsche Besatzung eine schwere Gefahr bedeutete.
Die Bauleute beschlossen, in Warschau zu bleiben, den Widerstand innerhalb der Stadt zu organisieren und mit den anderen BauleuteGruppen im ubrigen Polen Verbindung zu halten. Mundek wurde, obwohl er noch nicht neunzehn war, zum militarischen Fuhrer der Warschauer Gruppe gewahlt. Jan, Ruths heimliche Liebe, wurde Mundeks Stellvertreter.
Sofort nach der Machtubernahme durch die Deutschen erlie? der neuernannte Generalgouverneur Hans Frank eine ganze Reihe von Verordnungen, die sich gegen die Juden richteten. Das Abhalten von Gottesdiensten wurde ihnen verboten, ihre Bewegungsfreiheit wurde beschrankt und ihre Besteuerung enorm erhoht. Die Juden wurden aus allen offentlichen Amtern entfernt; das Betreten offentlicher Gebaude oder Anlagen war ihnen untersagt, judische Kinder durften die offentlichen Schulen nicht mehr besuchen. Es gab sogar Geruchte, wonach das Ghetto wieder eingerichtet werden sollte. Gleichzeitig mit diesen einschrankenden Ma?nahmen eroffneten die Deutschen eine »Aufklarungskampagne« fur die polnische Bevolkerung. Dieser propagandistische Feldzug unterstutzte die bereits weitverbreitete Meinung, da? die Juden den Krieg verschuldet hatten. Die Deutschen erklarten, da? die Juden verantwortlich seien fur die deutsche Invasion, deren Ziel es gewesen sei, Polen vor der »judisch- bolschewistischen« Gefahr zu schutzen.
In Berlin suchten inzwischen die Nazi-Gro?en krampfhaft nach einer »Losung des judischen Problems«. Die verschiedensten Vorschlage wurden ventiliert. Die alte Idee, samtliche Juden nach Madagaskar zu bringen, kam erneut zur Sprache.
Zwar hatte man es vorgezogen, die Juden nach Palastina zu schicken, doch das war durch die britische Blockade unmoglich. SS-Obersturmbannfuhrer Eichmann hatte schon lange »Umsiedlungsarbeit« unter den Juden geleistet. Er schien den NaziGro?en also der geeignete Mann zu sein, um die »Endlosung« der Judenfrage in die Hand zu nehmen.
Soviel war jedenfalls klar: solange man noch keine endgultige Losung gefunden hatte, mu?te man ein Programm der Massenaussiedlung der Juden in Angriff nehmen. Die meisten Nazis waren sich darin einig, da? Polen hierfur am besten geeignet sei. Denn erstens einmal gab es dort bereits dreieinhalb Millionen Juden, und zweitens wurde man dort, im Gegensatz zu Westeuropa, auf nur geringen oder gar keinen offentlichen Widerstand sto?en. Generalgouverneur Frank war dagegen, da? noch mehr Juden in Polen abgeladen werden sollten. Er hatte versucht, die polnischen Juden verhungern zu lassen, und er hatte so viele von ihnen erschossen oder erhangt, wie er nur konnte. Doch Frank wurde von den Planungschefs in Berlin uberstimmt.
Die Deutschen uberzogen Polen mit einem engmaschigen Netz, aus dem kein Jude entschlupfen sollte. Einsatzgruppen drangen in Dorfer und kleinere Stadte ein und trieben die judischen Bewohner zusammen. Sie wurden in Viehwaggons verladen und in die gro?eren Stadte umgesiedelt, ohne da? sie von ihrer Habe etwas mitnehmen durften.
Einige Juden, die rechtzeitig von den Razzien erfahren hatten, fluchteten oder versuchten, mit Hilfe von Geld und Wertgegenstanden bei christlichen Familien unterzutauchen. Doch nur wenige Polen riskierten es, Juden bei sich zu verstecken. Andere pre?ten aus den Juden den letzten Pfennig heraus, um sie dann gegen die von den Deutschen ausgesetzte Belohnung auszuliefern.
Sofort nach der Umsiedlung der Juden in die gro?eren Stadte wurde eine Regierungsverordnung erlassen, die den Juden auferlegte, ein wei?es Armband zu tragen, auf dem sich in genau vorgeschriebener Gro?e ein gelber Davidstern befinden mu?te.
Der Winter in Warschau war nicht leicht fur die Landaus. Der Tod von Mendel Landau, die zunehmenden Geruchte vom Wiederaufleben des Ghettos, das Aussiedlungsprogramm der Deutschen und die Verknappung der Lebensmittel, das alles machte das Leben sehr schwierig.
Mitte Oktober 1940 klopfte es eines Morgens an der Wohnungstur. Drau?en standen ein paar »Blaue« — polnische Polizisten, die mit den Deutschen zusammenarbeiteten. Sie eroffneten Lea Landau, da? sie zwei Stunden Zeit habe, um ihre Sachen zu packen und umzuziehen. Die Landaus und alle Warschauer Juden wurden in ein Viertel im Zentrum der Stadt, in der Nahe der Eisenbahnstation, umgesiedelt.
Es gelang Mundek und Jan, ein ganzes dreistockiges Haus als Wohnung und Hauptquartier fur mehr als hundert Mitglieder der Bauleute zu bekommen. Die funf Mitglieder der Familie Landau hatten einen einzigen Raum zur Verfugung, der mit Matratzen und ein paar Stuhlen mobliert war. Das Bad und die Kuche teilten sie mit zehn anderen Familien.
Die Juden wurden auf einem engen Raum zusammengedrangt, der sich, nur sechs Querstra?en breit und zwolf Querstra?en lang, von der Jerozolimska zum Friedhof erstreckte. Das Haus der Bauleute lag im Besenbinderviertel, auf der Leszno-Stra?e. Lea hatte etwas Schmuck und einige Wertgegenstande gerettet, die spater vielleicht einmal nutzlich werden konnten, wenn sie auch im Augenblick noch keine finanziellen Sorgen hatten, da Mundek weiterhin als Backer arbeitete. Au?erdem brachten die Bauleute alles, was sie an Nahrungsmitteln auftreiben konnten, in die gemeinsame Kuche, in der fur alle gekocht wurde.
Aus allen Provinzen stromten die Juden nach Warschau. Sie kamen in endlosen Reihen, mit Sacken, Karren oder Kinderwagen, die alles enthielten, was sie hatten mitnehmen durfen. Sie entstiegen einem vollbeladenen Zug