Der englische Kommandant, dem die drei Schiffe unterstanden, erbat von der Admiralitat in London durch Funkspruch Anweisungen, wie er sich verhalten solle. Whitehall setzte Paris sofort unter Druck und ging beinahe so weit, mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu drohen. Die Franzosen wurden ernstlich gewarnt, Partei fur die Juden zu ergreifen oder die Englander daran zu hindern, die Ausschiffung mit Gewalt vorzunehmen. Vier Tage lang gingen Funkspruche und Instruktionen zwischen London und den Transportschiffen und zwischen Paris und London hin und her. Schlie?lich verkundete die franzosische Regierung den Englandern ihren dramatischen Entschlu?:
»Die franzosische Regierung wird eine gewaltsame Ausschiffung der Fluchtlinge weder zulassen noch sich daran beteiligen. Falls die Fluchtlinge wunschen sollten, freiwillig nach Frankreich zuruckzukehren, sind sie uns jederzeit willkommen.«
Nachdem sich die Englander von dem Schock erholt hatten, teilten sie den Fluchtlingen mit, da? sie die Wahl hatten, im Hafen von Toulon von Bord zu gehen oder so lange im Golfe du Lion an Bord zu bleiben, bis sie verreckt waren.
Die Juden an Bord der Empire Guardian, der Empire Renown und der Magna Charta verschanzten sich. Der Palmach organisierte Schulen, gab hebraischen Unterricht, druckte eine Zeitung, grundete ein Theater und versuchte auf alle Weise, die Stimmung aufrechtzuerhalten. Die franzosische Regierung schickte Tag fur Tag von Toulon aus lange Reihen von Barkassen zu den Schiffen hinaus, um die Fluchtlinge mit guten Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen. An Bord der Schiffe kam ein Dutzend Babys zur Welt. Am Ende der ersten Woche hielten die Fluchtlinge unerschutterlich an ihrem Entschlu? fest.
An Land erschienen Reporter, die sich fur die drei Schiffe zu interessieren begannen und erbittert uber die eiserne Geheimhaltung der Englander waren. Eines Nachts schwamm ein Aliyah-Bet-Mann von Bord der Empire Guardian an Land und teilte der franzosischen Presse die ganze Story in allen Einzelheiten mit.
Berichte uber das Schicksal der Gelobtes Land gingen durch die Presse von Frankreich, Italien, Holland und Danemark. In allen vier Landern erschienen Leitartikel, in denen den Englandern heftige Vorwurfe gemacht wurden. Diese Vorwurfe vom Kontinent kamen fur die Englander nicht unerwartet. Man war in London darauf vorbereitet gewesen. Ja, man hatte sich sogar auf noch mehr vorbereitet, hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit der Hartnackigkeit der Fluchtlinge.
Die Lebensbedingungen auf den Transportschiffen waren miserabel. Es war stickend hei?, und viele der Fluchtlinge waren krank. Dennoch weigerten sie sich an Land zu gehen. Die Angehorigen der britischen Schiffsbesatzungen, die sich nicht in die abgesperrten Unterbringungsraume hineintrauten, wurden allmahlich nervos. Am Ende der zweiten Woche waren die Juden unverandert standhaft, und die Aufregung in der Presse nahm zu.
Es verging eine dritte und auch noch eine vierte Woche. Die Entrustung in der Offentlichkeit begann sich allmahlich zu legen. Doch dann kam der erste Jude freiwillig und ohne Gewaltanwendung an Land. Er war tot. Die Emporung flammte erneut auf. Die Kapitane der drei Schiffe meldeten nach London, da? die Fluchtlinge entschlossener zu sein schienen denn je. Whitehall geriet von Stunde zu Stunde mehr in Druck. Weitere Leichen mu?ten in der Offentlichkeit boses Blut erregen.
Die politischen Drahtzieher beschlossen, einen neuen Dreh zu versuchen. Sie forderten die Fluchtlinge auf, Delegationen zu entsenden, um die Lage zu besprechen und zu verhandeln. Sie wollten eine Kompromi?losung finden, die es ihnen gestattete, aus der ganzen Geschichte herauszukommen, ohne das Gesicht zu verlieren. Doch von allen drei Schiffen bekamen sie die gleichlautende Antwort: »Wir fordern nicht mehr und nicht weniger als Palastina.«
Als in der sechsten Woche der zweite Tote an Land gebracht wurde, stellten die Englander den Juden ein Ultimatum: Entweder sie sollten an Land kommen oder die Folgen tragen. Es blieb unklar, worin diese Folgen bestehen sollten. Doch als sich die Fluchtlinge auch durch dieses Ultimatum nicht einschuchtern lie?en, mu?ten die Englander etwas unternehmen: »Die Empire Guardian und die Empire Renown laufen unverzuglich aus. Ziel dieser beiden Schiffe ist Hamburg. Die Passagiere werden dort von Bord gehen oder notfalls von Bord gebracht werden und so lange in einem Internierungslager in der britischen Besatzungszone verbleiben, bis weitere Weisung erfolgt.«
Um das Gesicht nicht ganz zu verlieren, gestatteten die Englander dem letzten der drei Transportschiffe, der Magna Charta, die an Bord befindlichen Fluchtlinge in Zypern auszuladen, wo sie nach Caraolos gebracht wurden. Dov Landau hatte das Gluck, seinen sechzehnten Geburtstag nicht in einem Lager in Deutschland, sondern in Caraolos zu verbringen; doch der Junge bestand nur noch aus Ha?.
XXVIII.
Auch seinen siebzehnten Geburtstag erlebte Dov Landau im Lager und hinter Stacheldraht. Er verbrachte ihn genau wie alle Tage. Er lag auf seiner Koje, starrte ins Leere und sprach kein Wort. Er hatte mit keinem Menschen mehr gesprochen, seit man ihn mit Gewalt von Bord der Gelobtes Land heruntergeholt hatte. Wahrend der langen Wochen im Hafen von Toulon war sein Ha? immer bitterer geworden.
Hier in Caraolos hatten alle moglichen Leute, Palmach-Angehorige, Wohlfahrtspfleger, Arzte und Lehrer versucht, durch die Wand seiner Verbitterung an ihn heranzukommen; doch Dov traute keinem und wollte niemanden in seiner Nahe haben. Tagsuber lag er schweigend auf seiner Koje. Nachts wehrte er sich dagegen, einzuschlafen, denn im Schlaf kamen stets die furchtbaren Traume. Er traumte immer wieder davon, wie sich die Turen der Gaskammern von Birkenau geoffnet hatten. Stundenlang konnte Dov dasitzen und auf die Nummer starren, die auf seinem linken Unterarm eintatowiert war: 359195.
Schrag gegenuber, auf der anderen Seite der Zeltstra?e, wohnte ein Madchen. Es war das schonste Madchen, das er je gesehen hatte. Das war auch weiter kein Wunder, denn dort, wo er bisher gelebt hatte, konnten die Frauen nicht schon sein. Sie arbeitete als Kindergartnerin und betreute eine Menge kleinerer Kinder. Sie lachelte ihm jedesmal zu, wenn sie ihn sah, und sie schien gar nicht bose auf ihn zu sein, ihn nicht abzulehnen, wie es alle anderen taten. Dieses Madchen hie? Karen Hansen-Clement.
Karen erkundigte sich, was mit Dov eigentlich los war und weshalb er nicht am Unterricht oder am Spiel teilnahm. Man warnte sie vor ihm und riet ihr, sich nicht mit ihm einzulassen. Er sei ein »hoffnungsloser Fall«, vielleicht sogar ein gefahrlicher Bursche. Diese Warnung hatte auf Karen genau die gegenteilige Wirkung. Sie wu?te, da? Dov in Auschwitz gewesen war, und sie hatte grenzenloses Mitleid mit ihm. Schon mehrfach war es ihr gelungen, das Vertrauen Jugendlicher zu gewinnen, mit denen andere nichts hatten anfangen konnen, und obwohl sie sich sagte, da? es vielleicht besser war, Dov in Ruhe zu lassen, begann sie sich doch immer mehr fur ihn zu interessieren, je ofter sie zu seinem Zelt hinubersah.
Eines hei?en Tages lag Dov wie ublich auf seiner Koje, starrte vor sich hin und schwitzte. Plotzlich fuhr er hoch. Er spurte, da? jemand zugegen war. Als er Karen vor sich stehen sah, erstarrte er.
»Ich wollte dich fragen, ob du mir deinen Wassereimer borgst«, sagte sie. »Meiner ist undicht, und der Wasserwagen wird gleich kommen.«
Dov starrte sie an und blinzelte nervos.
»Ich hatte dich gefragt, ob ich mir einmal deinen Wassereimer ausleihen darf.«
Dovs Antwort bestand in einem Knurren.
»Was soll das hei?en—ja oder nein? Kannst du denn nicht reden?« Sie sahen sich an wie zwei Kampfhahne. Karen tat es schon leid, da? sie uberhaupt gekommen war. Sie holte tief Luft. »Ich hei?e Karen«, sagte sie. »Ich wohne schrag gegenuber.«
Dov sagte noch immer nichts. Er starrte sie nur schweigend an.
»Also — darf ich deinen Eimer nehmen oder nicht?«
»Was willst du eigentlich hier? Bist du auch hergekommen, um gro?e Worte zu machen?«
»Nein«, sagte Karen, »ich bin hergekommen, weil ich mir deinen Eimer ausleihen wollte. Du bist wirklich niemand, uber den man gro?e Worte machen konnte.«
Er wandte sich ab, setzte sich auf die Kante seiner Koje und kaute an den Nageln. Ihre Direktheit entwaffnete ihn. Er deutete mit der Hand auf den Wassereimer, der auf der Erde stand. Karen hob ihn auf. Dov warf ihr von der Seite einen kurzen Blick zu.
»Sag mal, wie hei?t denn du? Ich wu?te gern, wie ich dich nennen soll, wenn ich dir den Eimer wiederbringe.«
Dov blieb stumm.
»Nun sag schon — na?«
»Dov!«