»Ich will dieses Kind nicht verlieren.«
Barak packte langsam zu Ende und verschlo? seinen Koffer.
»Mach dich sofort auf nach Schoschana«, sagte er. »Ruth wird sich um dich kummern — aber komm ihren Kuhen nicht zu nahe.« Er ku?te sie sanft auf die Wange, und sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und schlang die Arme um ihn.
»Schalom, Sara«, sagte er. »Ich liebe dich.« Er wandte sich um und ging rasch hinaus.
Sara machte die Reise von Tel Aviv nach Schoschana mit einem Eselskarren und erwartete bei Ruth die Geburt ihres Kindes.
Akiba und Barak flohen nach Kairo, wo sie ihren alten Freund Joseph Trumpeldor trafen, den einarmigen Streiter. Trumpeldor war eifrig damit beschaftigt, eine Einheit palastinischer Juden aufzustellen, die als Angehorige der britischen Armee kampfen sollten.
Barak und Akiba waren dabei, als die Englander in Gallipoli landeten und vergeblich versuchten, den Durchgang durch die Dardanellen freizukampfen, um vom Suden her gegen
Konstantinopel vorzusto?en. Akiba wurde bei den Ruckzugsgefechten verwundet. Nach dem Fehlschlag von Gallipoli wurde die von Trumpeldor aufgestellte Einheit aufgelost.
Akiba und Barak begaben sich nach England, wo Seew Jabotinsky, ein gluhender Zionist, eifrig dabei war, einen gro?eren judischen Truppenteil aufzustellen, das 38., 39. und 40. Regiment der Royal Fusiliers, die Judische Brigade.
Akiba, dessen Verwundung noch nicht wieder ganz ausgeheilt war, wurde in die Vereinigten Staaten geschickt, um dort durch Vortrage fur die Sache der judischen Heimstatte in Palastina zu werben. Seine Reise stand unter dem Protektorat der amerikanischen Zionisten, deren Fuhrer Bundesrichter Brandeis vom Supreme Court war.
Als man entdeckte, da? Barak ben Kanaan als einfacher Soldat bei den Royal Fusiliers war, wurde er sofort angefordert. Chaim Weizmann, der Sprecher der zionistischen Weltorganisation, war der Meinung, da? es fur einen Mann wie Barak Wichtigeres zu tun gab, als ein Gewehr zu tragen.
Gerade zu der Zeit, als Barak Mitglied des Zionistischen Zentralburos wurde, kam die Kunde von neuen Niederlagen der Englander im Nahen Osten. General Maude hatte einen Angriff auf die ostliche Flanke des ottomanischen Reiches unternommen. Er hatte Mesopotamien als Absprungbasis benutzt, um von Norden her nach Palastina durchzusto?en. Seine Truppen drangen mit Leichtigkeit vor, solange der Gegner aus arabischen Truppen bestand. Dann aber, bei Kut al Imara, stie?en die Englander auf eine turkische Division, und ihre Streitkrafte wurden aufgerieben. Den Englandern stieg das Wasser an den Hals. Die Ottomanen standen am Rande des Suez-Kanals, und die Deutschen hatten die erste russische Welle abgewehrt. Britische Versuche, einen arabischen Aufstand auf die Beine zu bringen, waren fehlgeschlagen. Weizmann und die Zionisten hielten den Augenblick fur gekommen, um fur die Sache der judischen Heimstatte einen Pluspunkt einzuheimsen. England brauchte dringend Sympathie und Hilfe. In Deutschland wie auch in Osterreich kampften die Juden fur ihr Vaterland. Um die Unterstutzung der Juden in den ubrigen Teilen der Welt, insbesondere in Amerika, zu erreichen, brauchte man einen sichtbaren und eindrucksvollen Erfolg.
Nach Abschlu? der Verhandlungen zwischen den Zionisten und den Englandern schrieb Lord Balfour, der britische Au?enminister, einen Brief an Lord Rothschild, in dem es hie?:
Die Regierung Seiner Majestat betrachtet die Errichtung einer nationalen Heimstatte fur das judische Volk in Palastina mit Wohlwollen, und sie wird sich nach besten Kraften bemuhen, die Erreichung dieses Zieles zu fordern.
So entstand die Balfour-Deklaration, die Magna Charta des judischen Volkes.
XI.
Kemal Paschas Polizei fand Sara ben Kanaan zwei Wochen vor der Geburt ihres Kindes im Kibbuz Schoschana. Bis dahin hatten Ruth und die anderen Angehorigen des Kibbuz sie sorgsam gepflegt und alles getan, da? sie Ruhe hatte und sich wohlfuhlte.
Die turkische Polizei war nicht ganz so rucksichtsvoll. Sara wurde mitten in der Nacht aus ihrer Wohnung geholt, in ein geschlossenes Polizeiauto verfrachtet und uber eine holprige, schlammige Landstra?e zu dem schwarzen Basaltgebaude der Polizeistation von Liberias gefahren.
Dort wurde sie vierundzwanzig Stunden lang pausenlos verhort. Wo ist ihr Mann? Auf welche Weise ist er geflohen? Welche Nachrichtenverbindung haben Sie mit ihm? Es ist uns bekannt, da? Sie Nachrichten aus dem Land schmuggeln. Sie treiben Spionage fur die Englander. Versuchen Sie es nicht zu leugnen. Da, diese Dokumente stammen aus der Feder Ihres Mannes; darin vertritt er die Interessen der Englander. Welches sind Ihre britischen Verbindungsleute in Palastina?
Sara lie? sich nicht einschuchtern und gab auf alle Fragen klare und sachliche Antworten. Sie gab zu, da? Barak seiner englandfreundlichen Einstellung wegen geflohen sei, denn das war kein Geheimnis. Dagegen blieb sie dabei, da? sie ihm einzig und allein nicht gefolgt sei, um ihr Kind zur Welt bringen zu konnen. Alle anderen Anschuldigungen wies sie zuruck. Am Ende dieser vierundzwanzig Stunden war Sara ben Kanaan von allen in dem Buro des Inspektors anwesenden Personen die ruhigste.
Man ging dazu uber, ihr zu drohen, doch Sara blieb weiterhin ruhig und sachlich. Schlie?lich schleppte man sie in einen finsteren Raum, mit dicken steinernen Wanden und ohne Fenster. Uber einem Holztisch brannte eine schwache Birne. Sara wurde auf den Rucken gelegt und von funf Polizisten festgehalten. Man zog ihr die Schuhe aus und peitschte ihr mit dicken Ruten die Fu?sohlen. Dabei wiederholte man alle Fragen. Ihre Antworten waren die gleichen.
Sie sind eine Spionin! Auf welchem Wege lassen Sie Barak ben Kanaan Nachrichten zukommen? Reden Sie endlich! Sie stehen in Verbindung mit anderen britischen Agenten. Wer sind Ihre Komplicen?
Die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Sara gab uberhaupt keine Antwort mehr. Sie bi? die Zahne zusammen. Der Schwei? brach ihr aus. Ihre Standhaftigkeit steigerte die Wut der Turken. Ihre Sohlen platzten unter den Schlagen, und das Blut spritzte heraus.
»Judin! Spionin!« schrien die Polizisten. »Reden Sie endlich! Gestehen Sie!«
Sara zitterte und wand sich vor Schmerz. Dann wurde sie ohnmachtig.
Man schuttete ihr einen Eimer kalten Wassers uber das Gesicht. Die Schlage und Fragen begannen von neuem. Sie wurde ein zweitesmal ohnmachtig, und man brachte sie ein zweitesmal wieder zu sich. Jetzt zog man ihr die Arme auseinander und legte hei?e Steine in ihre Achselhohlen.
»Reden Sie! Reden Sie!«
Drei Tage und drei Nachte lang folterten die Turken Sara ben Kanaan. Dann lie? man sie frei, aus Achtung vor ihrem Mut.
Die Turken hatten noch nie erlebt, da? jemand Schmerzen mit solcher Wurde ertragen hatte. Ruth, die im Vorraum der PolizeiStation gewartet hatte, brachte Sara auf einem Eselskarren nach Schoschana zuruck.
Als die ersten Wehen kamen, schrie Sara vor Schmerz zum erstenmal auf. Sie holte alle Schreie nach, die ihr die Turken nicht hatten entlocken konnen. Ihr zerschlagener Korper rebellierte mit heftigen Zuckungen.
Ihre Schreie wurden leiser und schwacher. Niemand glaubte, da? sie die Geburt uberleben wurde. Doch Sara ben Kanaan gebar einen Sohn und blieb am Leben.
Wochenlang schwebte sie in Todesgefahr. Ruth und die Siedler von Schoschana umgaben sie mit aller nur denkbaren Sorge und Liebe. Die ungewohnliche Zahigkeit, die die kleine dunkelaugige Oberschlesierin wahrend der Folterung durch die Turken und der Geburtswehen am Leben erhalten hatte, verlie? sie auch jetzt nicht. Ihr Wunsch und Wille, Barak wiederzusehen, waren starker als der Tod.
Sie brauchte uber ein Jahr, um wieder zu Kraften zu kommen. Ihre Genesung ging langsam und schmerzvoll vor sich. Es dauerte Monate, bis sie aufstehen und auf ihren zerschlagenen Fu?en laufen konnte. Sie hinkte.
Das Kind war kraftig und gesund. Alle Leute sagten, da? der Kleine zu einem zweiten Barak heranwachsen werde, denn er war schon jetzt gro? und kraftig. Aber er hatte dunkle Haare und den braunlichen Teint der Mutter. Das Schlimmste schien uberstanden, und Sara und Ruth warteten auf die Heimkehr ihrer Manner.
Im Fruhjahr 1917 trieben die Englander von Agypten aus die Turken uber die Halbinsel Sinai bis an die Grenze von Palastina zuruck. Bei Gaza wurden sie aufgehalten. Jetzt aber ubernahm General Allenby das Oberkommando, und unter seiner Fuhrung gingen die Englander erneut zum Angriff vor. Bis zum Ende des Jahres 1917 waren sie nach Palastina vorgesto?en und hatten Ber Scheba erobert. Allenby nutzte den Sieg und trug den Angriff gegen die historischen Zinnen von Gaza weiter vor. Auch Gaza wurde im Sturm genommen. Die Englander marschierten an der Kuste entlang und eroberten Jaffa.