XIV.
In dem Jahr, in dem diese schwelenden Unruhen ausbrachen, 1929, trafen die Siedler von Yad El ein Abkommen mit dem Muller des arabischen Dorfes Ata, das rund zehn Kilometer von Yad El entfernt war.
Barak betraute Ari mit der Aufgabe, nach Ata zu fahren, um das Korn von Yad El dort mahlen zu lassen. Sara war dagegen, einen Jungen von vierzehn Jahren allein uber Land zu schicken, zumal bei der gegenwartigen gespannten Lage und den Unruhen. Doch Barak war eisern. »Weder Ari noch Jordana sollen wie Ghetto-Juden in Angst leben«, sagte er.
Ari war stolz auf das Zutrauen, das sein Vater zu ihm hatte, als er sich auf den Eselskarren schwang. Der Karren war mit einem Dutzend Sacke voll Korn beladen. Ari fuhr los, die Stra?e entlang nach Ata.
In dem Augenblick, als er in das Dorf hineinfuhr, wurde er von einem Dutzend Araberjungen entdeckt, die in der Nahe des Kaffeehauses herumlungerten. Sie warteten, bis er um die Ecke gebogen war und schlichen ihm dann nach zu der Muhle.
Ari, voll Stolz uber seine Wichtigkeit, dachte nur an seinen Auftrag. Er brachte sein Anliegen in einwandfreiem Arabisch vor, das er von seinem Freund Taha gelernt hatte. Das Korn wurde zu Mehl gemahlen. Ari pa?te genau auf, da? die Sacke mit dem Korn gefullt wurden, das er gebracht hatte, und nicht etwa mit einem Mehl aus arabischem Weizen von minderer Qualitat. Der Muller, der gehofft hatte, einen Sack von dem Mehl fur sich auf die Seite bringen zu konnen, war ba? erstaunt, wie genau der Junge aufpa?te. Ari lud die Sacke mit dem Mehl auf und machte sich auf den Ruckweg nach Yad El.
Die Araberjungen, die in einem Versteck gewartet hatten, machten mit dem Muller in aller Eile aus, Aris Mehl zu stehlen und es dem Muller zu verkaufen. Sie liefen im Galopp los, uberholten Ari auf einem Abkurzungsweg, bauten ein Stra?enhindernis und legten sich in den Hinterhalt.
Kurz darauf lief Ari, der auf der Stra?e herankam, direkt in die Falle. Die Jungen sprangen aus der Deckung hervor und warfen mit Steinen nach ihm. Ari gab dem Esel die Peitsche. Nach wenigen Metern aber kam er an das Hindernis und konnte nicht weiter.
Ein Stein traf ihn ins Gesicht. Er fiel vom Wagen und sturzte halb bewu?tlos auf die Stra?e. Vier der Angreifer warfen sich uber ihn und hielten ihn fest, wahrend die anderen die Sacke von der Karre holten und sich damit davonmachten.
Spat abends kam Ari nach Yad El zuruck. Sara, die ihm die Tur aufmachte, warf einen Blick auf sein blutbeschmiertes Gesicht und seine zerfetzte Kleidung; sie schrie laut auf. Ari stand einen Augenblick wortlos vor ihr, dann bi? er die Zahne aufeinander, schob sich an seiner Mutter vorbei, rannte in sein Zimmer und schlo? sich ein. Obwohl seine Mutter ihn anflehte, die Tur aufzumachen, kam er erst wieder zum Vorschein, als Barak von einer Versammlung nach Hause kam.
Mit geschwollenen und aufgeplatzten Lippen stand er vor seinem Vater. »Ich habe versagt. Ich habe das Mehl nicht zuruckgebracht.« »Nein, mein Sohn«, sagte Barak. »Ich bin es, der hier versagt hat.« Sara sturzte zu Ari und nahm ihn in die Arme. »Schick den Jungen nicht wieder allein los, nie mehr, nie mehr!« Sie ging mit ihm fort, um ihm das Blut abzuwaschen. Barak sagte nichts.
Am nachsten Morgen nach dem Fruhstuck nahm Barak, bevor er aufs Feld hinausging, Ari bei der Hand und fuhrte ihn zur Scheune. »Ich habe bei deiner Erziehung etwas vergessen«, sagte er und nahm seinen alten Ochsenziemer vom Haken.
Dann baute er eine Strohpuppe und nagelte sie an die Scheunenwand. Er zeigte Ari, wie man die Entfernung schatzt, wie man zielt, ausholt und das Leder durch die Luft sausen la?t. Beim Gerausch des ersten Schlages kam Sara mit Jordana im Arm angelaufen.
»Bist du wahnsinnig geworden, dem Jungen beizubringen, wie man mit einem Ochsenziemer umgeht?«
»Schweig!« brullte Barak in einem Ton, wie sie ihn in ihrer mehr als zwanzigjahrigen Ehe noch nie von ihm gehort hatte. »Der Sohn Barak ben Kanaans ist ein freier Mann! Er soll niemals ein GhettoJude sein. Und jetzt verschwinde hier — wir haben zu tun.«
Von morgens bis abends ubte sich Ari im Gebrauch des Ochsenziemers. Er schlug den Strohmann kurz und klein. Er zielte nach Steinen, Konservendosen und leeren Flaschen, bis er sie mit einer raschen Drehung des Handgelenks traf. Er ubte so lange, bis er den Arm kaum noch heben konnte.
Nach zwei Wochen belud Barak den Eselskarren abermals mit einem Dutzend Kornsacken. Er legte seinem Sohn den Arm um die Schulter, ging mit ihm zu dem Karren und uberreichte ihm den Ochsenziemer.
»Fahr mit dem Korn nach Ata und la? es mahlen.«
»Ja, Vater«, sagte Ari ganz ruhig.
»Und vergi? eines nicht, mein Sohn: was du da in deiner Hand haltst, ist Wehr und Waffe der gerechten Sache. Verwende sie nie im Zorn oder aus Rache. Nur zur Verteidigung.«
Ari sprang auf den Karren und fuhr los zum Tor nach Yad El. Sara ging in ihr Schlafzimmer und weinte leise vor sich hin, wahrend sie ihrem Sohn nachsah, der die Stra?e entlangfuhr und schlie?lich verschwand.
Barak tat etwas, was er viele, viele Jahre lang nicht getan hatte. Er setzte sich in eine Ecke und las in der Bibel.
Auch diesmal kamen die Araber wieder aus ihrem Hinterhalt hervor, als Ari auf dem Ruckweg nach Yad El ein Stuck au?erhalb von Ata war. Diesmal hielt Ari die Augen offen und war auf der Hut vor der Gefahr. Er dachte an die Worte seines Vaters und blieb ganz ruhig. Als die ersten Steine geflogen kamen, sprang er mit einem Satz vom Wagen, nahm sich den Anfuhrer der Araber aufs Korn, lie? den machtigen Ochsenziemer pfeifend durch die Luft sausen, da? sich das Ende um den Hals des Arabers wickelte, und ri? ihn mit einem Ruck zu Boden. Dann lie? er das Leder mit solchem Schwung heruntersausen, da? es seinem Gegner ins Fleisch schnitt. Das alles ging sehr rasch.
Barak ben Kanaans Gesicht wurde bleich, als die Sonne zu sinken begann und Ari noch immer nicht zuruck war. Zitternd stand er am Tor von Yad El. Endlich sah er den Eselskarren auf der Stra?e herankommen, und sein Gesicht begann zu strahlen. Ari hielt bei seinem Vater an.
»Nun, Ari, wie war die Fahrt?«
»Ganz in Ordnung!«
»Ich werde die Sacke abladen. Du gehst vielleicht besser gleich zu deiner Mutter. Sie scheint sich aus irgendeinem Grund Sorgen gemacht zu haben.«
Ari ben Kanaan hatte nicht nur die Statur seines Vaters; er war ihm auch im Wesen sehr ahnlich. Er war von der gleichen Besonnenheit und Entschiedenheit, und auch er hielt es fur wichtig, den arabischen Nachbarn genauer kennenzulernen. Taha blieb einer seiner nachsten Freunde, und auch allen anderen Arabern begegnete er mit Verstandnis und Teilnahme.
Ari verliebte sich in ein Madchen namens Dafna, deren Familie ganz in der Nahe auf einem Bauernhof lebte. Niemand wu?te genau, wie und wann es eigentlich passiert war, doch es stand fur alle fest, da? Ari und Dafna eines Tages heiraten wurden. Die beiden hatten nur fureinander Augen.
Die kleine rothaarige Jordana war ein sehr lebhaftes Madchen, wild und eigensinnig. In vieler Weise war sie typisch fur die in Palastina geborenen Kinder der Neusiedler. Die Eltern dieser Kinder, die im Ghetto aufgewachsen waren und erfahren hatten, wie schlimm und erniedrigend es oft war, Jude zu sein, waren entschlossen, dieses Gefuhl der neuen Generation zu ersparen. Sie taten des Guten fast zuviel, standig bestrebt, ihre Kinder zu freien und furchtlosen Menschen zu erziehen.
Im Alter von funfzehn Jahren gehorte Ari der Hagana an, der geheimen judischen Armee. Im Alter von dreizehn Jahren verstand Dafna, mit einem halben Dutzend Waffen umzugehen; denn diese Generation, die einen neuen Typ von Juden darstellte, war zugleich eine Generation, die mit einem geschichtlichen Auftrag heranwuchs, der noch wichtiger und schwieriger war als die Aufgabe der zweiten und dritten Aliyah-Welle.
Die Hagana war inzwischen stark genug geworden, um dampfend und besanftigend auf die Storungsmanover des Mufti zu wirken. Doch sie war nicht in der Lage, dem Ubel an die Wurzel zu gehen. Die Englander setzten abermals Untersuchungsausschusse ein, und abermals wurden die Araber reingewaschen.
Die britische Angstlichkeit fuhrte dazu, da? der Mufti dreister wurde.
Kurze Zeit, nachdem die Unruhen abgeklungen waren, berief Hadsch Amin el Husseini fuhrende Moslems aus aller Welt zu einem Kongre? nach Jerusalem. Er konstituierte eine Panarabische Foderation, an deren Spitze er selbst stand und proklamierte seinen Kampf zur Verteidigung des Islams gegen Englander und Juden. Die Vernichtung der judischen Heimstatte wurde als »heilige Mission« aller Araber erklart. Doch wahrend die arabischen Demagogen Brandreden hielten und bald gegen die Englander, bald gegen die Juden wetterten, nahmen die Englander alles schweigend hin.