Gleichgultigkeit oder Feindlichkeit, wie sie die Kinder in den anderen Araberdorfern bemerkt hatten. Die Bewohner von Abu Yesha winkten ihnen freundlich zu.
Hinter Abu Yesha kamen sie an einer Markierung vorbei, auf der angegeben war, da? man sich hier sechshundert Meter uber dem Meeresspiegel befand. Dann ging es noch ein Stuck weiter hinauf zu dem Jugend- Aliyah-Dorf Gan Dafna — »Garten der Dafna«. In der Mitte der Siedlung hielten sie vor einer Grunflache, die rund hundert Meter lang und funfzig Meter breit war. Ringsum lagen die Verwaltungsgebaude, und von diesem Mittelpunkt erstreckte sich das ubrige Dorf mit seinen Hauschen nach allen vier Richtungen. Uberall waren Rasenflachen mit Blumenbeeten, Buschen und Baumen. Als die Kinder von der Exodus aus den Autobussen ausstiegen, wurden sie vom Orchester des Jugenddorfes mit einem festlichen Begru?ungsmarsch empfangen.
In der Mitte des Rasens stand eine lebensgro?e Statue von Dafna, dem Madchen, nach dem das Jugenddorf benannt war: Eine Bronzefigur mit einem Gewehr in der Hand, die ins Hule-Tal hinunter sah, ganz so wie Dafna an jenem Tage in Hamischmar, als die Araber sie ermordet hatten.
Neben der Statue stand Dr. Liebermann, der Grunder und Leiter des Jugenddorfes, ein kleiner Mann mit einem leichten Buckel, der eine gro?e Pfeife rauchte, wahrend er die Neuen willkommen hie?. Er erzahlte ihnen in kurzen Worten, da? er 1934 Deutschland verlassen und 1940 Gan Dafna gegrundet habe, auf dem Stuck Land, das Kammal, der damalige Muktar von Abu Yesha, gro?zugig der Jugend-Aliyah zur Verfugung gestellt hatte. Dann begru?te Dr. Liebermann jeden einzelnen der funfzig Jugendlichen in einem halben Dutzend verschiedener Sprachen mit ein paar personlichen Worten. Als Karen ihn ansah, kam es ihr vor, als habe sie ihn irgendwo schon einmal gesehen. In seiner au?eren Erscheinung und in seiner ganzen Art erinnerte er sie an die Professoren in Koln. — Doch das war so lange her, und sie war damals noch sehr jung gewesen.
Dann wurde jedes Kind von einem Mitglied des Jugenddorfes in Empfang genommen.
»Bist du Karen Clement?«
»Ja.«
»Ich bin Yona«, sagte eine agyptische Judin, die etwas alter als Karen war. »Wir beide wohnen zusammen. Komm, ich will dir unser Zimmer zeigen. Es wird dir hier bei uns gefallen.«
Karen rief Dov zu, da? sie sich spater treffen wollten, und ging dann mit Yona, an den Verwaltungsgebauden und den Schulraumen vorbei, zu dem Teil der Siedlung, wo kleine Bungalows zwischen Buschen und Strauchern standen. »Wir haben es gut«, sagte Yona. »Wir bekommen diese Einzelhauschen, weil wir zu den alteren Jahrgangen gehoren.«
Karen blieb einen Augenblick verwundert vor dem Bungalow stehen. Dann ging sie mit Yona hinein. Die Einrichtung war sehr einfach, doch fur Karen war es das schonste Zimmer, das sie je im Leben gesehen hatte. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl — und das alles fur sie, fur sie ganz allein.
Es wurde Abend, ehe Karen einen freien Augenblick hatte. Nach dem Abendessen sollte fur die Neuen im Freilufttheater eine Begru?ungsauffuhrung stattfinden.
Karen traf Dov auf der Grunflache, nicht weit von der Dafna-Statue. Seit vielen Wochen hatte sie zum erstenmal wieder gern getanzt. Die Luft war so frisch, und das ganze Jugenddorf war einfach wunderbar! Karen trug olivfarbene lange Hosen, einen hochgeschlossenen Farmerkittel und neue Sandalen. »Oh, Dov!« rief sie. »Das ist der herrlichste Tag meines ganzen Lebens! Yona ist ein reizendes Madchen. Sie hat mir gesagt, Dr. Liebermann sei der netteste Mensch, den man sich uberhaupt vorstellen kann.« Sie lie? sich ins Gras fallen, sah nach oben in den Himmel und seufzte. Dov stand neben ihr und sagte kein Wort. Sie setzte sich und zog ihn bei der Hand.
»La? das«, sagte er.
Doch Karen lie? nicht locker, und Dov setzte sich schlie?lich neben sie. Er wurde verlegen, als sie seine Hand druckte und ihren Kopf auf seine Schulter legte. »Freu dich doch auch, Dov«, sagte sie. »Bitte sei froh und glucklich.«
Er zuckte die Schulter und ruckte von ihr weg.
»Bitte sei glucklich.«
»Wen geht das etwas an?«
»Mich«, sagte Karen. »Weil du mich etwas angehst.«
»Kummere dich lieber um dich selber.«
»Das tue ich au?erdem.« Sie kniete vor ihm und ergriff seine Schultern. »Hast du dein Zimmer gesehen und dein Bett? Wie lange ist es her, seit du in einem solchen Zimmer gewohnt hast?« Dov wurde rot und sah zu Boden. »Denk doch nur, Dov!« sagte Karen. »Kein Fluchtlingslager mehr, kein Internierungslager mit Stacheldraht, nie mehr auf ein illegales Schiff. Wir sind zu Hause, Dov, und es ist sogar noch schoner, als ich es mir ausgemalt hatte.« Dov stand langsam auf und drehte ihr den Rucken zu. »Fur dich mag das hier gut und richtig sein. Aber ich habe andere Plane.« »Denk bitte nicht mehr daran«, sagte sie.
Das Orchester begann zu spielen. »Es wird Zeit, da? wir zum Theater gehen«, sagte Karen.
Als Ari und Kitty Tel Aviv wieder verlassen hatten und an dem riesigen britischen Lager bei Sarafand vorbeifuhren, bekam Kitty erneut die Spannung zu spuren, die in Palastina in der Luft lag. Auf dem Wege nach Jerusalem durch die rein arabische Stadt Ramie bemerkte Kitty, wie die Araber sie mit feindlichen Blicken musterten. Ari dagegen schien weder die Araber noch Kittys Gegenwart wahrzunehmen. Er hatte den ganzen Tag kaum drei Worte mit ihr gesprochen.
Kurz hinter Ramie begann Bab el Wad, eine Stra?e, die in Windungen hinauf in die Berge von Judaa fuhrt. Auf den Hangen der Schluchten rechts und links der Stra?e wuchsen junge Waldungen, die von den Juden angepflanzt worden waren. Terrassen aus alter Zeit ragten aus dem kahlen Erdreich heraus, wie die Rippen eines verhungerten Hundes. Einstmals hatten hier in den Bergen Hunderttausende von Menschen gelebt und auf diesen Terrassen ihre Nahrung gefunden. Heute war der Boden vollig verwittert und unfruchtbar. Auf den Gipfeln der Berge lagen, eng zusammengedrangt, die wei?en Hutten der Araberdorfer.
Hoher und hoher fuhren sie hinauf, und ihre Spannung wurde immer gro?er. Jetzt erschienen in der Ferne uber dem Horizont als undeutlicher Umri? die Zinnen von Jerusalem, und Kitty verspurte eine sonderbare Erregung.
Sie kamen in die von den Juden erbaute Neustadt und fuhren durch die Jaffa-Stra?e auf die alte Stadtmauer zu. Vor dem Jaffa-Tor bog Ari in die King-David-Avenue ein und hielt wenige Augenblicke spater vor dem gro?en Gebaude, dem beruhmten King-David-Hotel. Kitty stieg aus und schnappte nach Luft, als sie sah, da? der rechte Flugel des Hotels zerstort war.
»Dort befand sich fruher das britische Hauptquartier«, sagte Ari. »Doch die Makkabaer haben alles grundlich verandert.«
Kitty kam als erste zum Essen herunter. Sie nahm auf der Terrasse hinter dem Hotel Platz, von der aus man uber ein kleines Tal hinweg die alte Stadtmauer erblickte.
Als Ari etwas spater auf die Terrasse herauskam, blieb er wie angewurzelt stehen. Kitty sah wunderbar aus. Er hatte sie noch nie so gesehen. Sie hatte ein sehr elegantes Cocktail-Kleid an, dazu einen Hut mit breitem Rand und wei?e Handschuhe. Er fuhlte sich plotzlich sehr weit von ihr entfernt. Sie sah ganz so aus wie alle die reizvollen, gutangezogenen Frauen in Rom, Paris und Berlin, die zu einer Welt gehorten, die ihm fremd und auch nicht ganz verstandlich war. Zwischen den beiden Frauen Kitty und Dafna war ein himmelweiter Unterschied. Doch sie war schon, wunderschon.
Er kam an ihren Tisch und setzte sich. »Ich habe eben mit Harriet Salzmann telefoniert«, sagte er. »Wir sollen gleich nach dem Essen zu ihr kommen.«
»Danke«, sagte Kitty. »Ich finde es sehr aufregend, in Jerusalem zu sein.«
»Ja, diese Stadt hat eine geheimnisvolle Anziehungskraft. Jeder, der zum erstenmal hierherkommt, ist fasziniert. Denken Sie zum Beispiel an David ben Ami. Ihn la?t Jerusalem uberhaupt nicht mehr los. Er hat ubrigens die Absicht, mit Ihnen morgen durch die Altstadt zu gehen, wenn der Sabbat beginnt.«
»Ich finde es reizend von ihm, da? er sich um mich kummern will.«
Ari sah sie aufmerksam an. Aus der Nahe erschien sie ihm noch schoner als vorhin. Er sah beiseite, winkte einen Kellner heran, bestellte und starrte dann vor sich hin. Kitty hatte allmahlich das Gefuhl, da? sich Ari eine Verpflichtung aufgeladen hatte, die er moglichst bald hinter sich bringen wollte. Zehn Minuten lang sagte keiner von beiden ein Wort. Kitty stocherte in ihrem Salat.
»Bin ich Ihnen sehr lastig?« fragte sie schlie?lich.
»Nein«, sagte er. »Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«
»Seit Sie gestern abend von Ihrer Verabredung zuruckgekommen sind, haben Sie sich benommen, als ob ich gar nicht existieren wurde.«