»Ich bitte um Entschuldigung, Kitty«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich glaube, ich bin heute ein sehr schlechter Gesellschafter gewesen.«

»Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«

»Eine ganze Menge ist nicht in Ordnung — aber das hat nichts mit Ihnen oder mit mir und meinem schlechten Benehmen zu tun. Und jetzt mochte ich Ihnen gern ein bi?chen uber Harriet Salzmann erzahlen. Sie ist Amerikanerin. Sie mu? inzwischen weit uber Achtzig sein. Wenn wir hier beim Jischuw Leute heiligsprachen, dann ware sie unsere erste Heilige. Sehen Sie den Berg dort jenseits der Altstadt?«

»Da druben?«

»Das ist der Skopusberg. Die Gebaude, die Sie da oben sehen, sind das modernste medizinische Zentrum im Nahen Osten. Das Geld dafur stammt von der Zionistischen Frauenbewegung in Amerika, die Harriet nach dem ersten Weltkrieg organisiert hat. Die meisten Krankenhauser in Palastina sind von der Hadassa — so hei?t die Organisation, die Harriet ins Leben gerufen hat — finanziert und errichtet worden.«

»Sie scheint eine sehr bemerkenswerte Frau zu sein.«

»Ja, allerdings. Als Hitler an die Macht kam, hat Harriet die Jugend-Aliyah geschaffen. Tausende von Jugendlichen verdanken ihr das Leben. Die Jugend-Aliyah unterhalt in Palastina Dutzende von Jugendzentren. Sie werden sich sehr gut mit Harriet verstehen.« »Wieso vermuten Sie das?«

»Sehen Sie, kein Jude, der eine Zeitlang in Palastina gelebt hat, kann von hier fortgehen, ohne sein Herz hier zu lassen. Ich glaube, bei den Amerikanern ist es genauso. Harriet lebt nun schon seit vielen Jahren hier, doch ihr Herz ist zu einem sehr gro?en Teil immer noch in Amerika.«

Das kleine Orchester, das zum Essen gespielt hatte, brach ab. Stille breitete sich uber Jerusalem. Aus der Altstadt konnte man den leisen Ruf eines mohammedanischen Muezzin horen, der von seinem Minarett aus die Glaubigen zum Gebet aufrief. Danach wurde es erneut still, so still und lautlos, wie Kitty es noch nie erlebt hatte.

Das Glockenspiel in dem YMCA-Turm auf der anderen Seite der Stra?e begann zu ertonen, und die Melodie erfullte die Berge und die Taler. Dann wurde es wieder still, noch stiller als zuvor. Das Leben schien den Atem anzuhalten, die Zeit schien fur einen Augenblick stillzustehen.

»Wie wunderbar«, sagte Kitty.

»Augenblicke dieser Art sind in unserer Gegenwart selten«, sagte Ari. »Leider ist diese friedliche Stille trugerisch.«

In diesem Augenblick entdeckte er einen Mann mit olivfarbenem Teint, der an der Tur zur Terrasse stand. Ari erkannte Bar Israel, den Verbindungsmann der Makkabaer. Bar Israel nickte Ari zu und verschwand.

»Wurden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen?« sagte Ari. Er ging in die Halle, stellte sich an den Zigarettenstand, kaufte ein Packchen Zigaretten und blatterte dann scheinbar in Gedanken versunken in einer Zeitschrift. Bar Israel kam heran und blieb neben ihm stehen.

»Ihr Onkel Akiba ist in Jerusalem«, sagte Bar Israel leise. »Er wunscht Sie zu sehen.«

»Ich mu? zu der Zionistischen Siedlungsgesellschaft, doch das dauert nicht lange, und dann bin ich frei.«

»Ich erwarte Sie im Russischen Viertel«, sagte Bar Israel und verschwand.

Die King-Georg-Avenue war ein breiter Boulevard in der Neustadt, an dem Verwaltungsgebaude, Schulen und Kirchen lagen. An einer Ecke der King-Georg-Avenue stand ein gro?es, vierstockiges, ausladendes Bauwerk, in dem die Zionistische Siedlungsgesellschaft ihren Sitz hatte. Eine lange Auffahrt fuhrte zum Haupteingang. »Schalom, Ari«, rief Harriet Salzmann und kam mit einer Beweglichkeit hinter ihrem Schreibtisch hervor, die ihre Jahre Lugen strafte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, legte Ari die Arme um den Hals und ku?te ihn herzhaft auf die Wangen. »Oh, wie hast du es den Burschen auf Zypern gegeben. Bist ein feiner Kerl.« Dann wandte sich die alte Frau an Kitty, die bei der Tur stehengeblieben war.

»Und das ist also Katherine Fremont. Sie sind sehr schon, mein Kind.«

»Danke, Mrs. Salzmann.«

»Sagen Sie blo? nicht Mrs. Salzmann zu mir. Das tun nur Englander und Araber. Ich komme mir ganz alt vor, wenn ich es hore. Und jetzt setzen Sie sich, setzen Sie sich. Ich lasse uns einen Tee bringen. Oder wollen Sie vielleicht lieber Kaffee trinken?«

»Lieber Tee.«

»Da kannst du es mal sehen, Ari — so sieht eine Amerikanerin aus.« In Harriets hellen Augen blitzte der Schalk, und sie machte eine gro?artige Geste, um zu bekunden, wie schon und attraktiv sie Kitty fand.

»Ich bin uberzeugt«, sagte Ari, »da? nicht alle Amerikanerinnen so gut aussehen wie Kitty und.. .«

»Horen Sie auf damit, Sie beide. Ich werde ganz verlegen.«

»Ihr beiden Madchen braucht mich ja wohl nicht«, sagte Ari. »Ich habe noch einiges zu erledigen, und das mache ich am besten gleich. Sagen Sie, Kitty, falls ich nicht rechtzeitig zuruck bin, um Sie abzuholen — wurde es Ihnen etwas ausmachen, sich ein Taxi zu nehmen und allein zum Hotel zuruckzufahren?«

»Nun geh schon«, sagte Harriet. »Kitty und ich werden gemeinsam in meiner Wohnung zu Abend essen. Dich brauchen wir uberhaupt nicht.«

Ari lachelte und ging.

»Er ist ein feiner Kerl«, sagte Harriet Salzmann. »Es gibt bei uns eine ganze Menge solcher Burschen wie Ari. Sie arbeiten zu schwer, und sie sterben zu jung.« Sie zundete sich eine Zigarette an und hielt Kitty das Packchen hin. »Aus welcher Ecke kommen Sie eigentlich?«

»Indiana.«

»Und ich aus San Franzisko.«

»Eine wunderschone Stadt«, sagte Kitty. »Ich war einmal mit meinem Mann dort. Ich habe mir immer gewunscht, irgendwann mal wieder hinzukommen.«

»Das wunsche ich mir auch«, sagte die alte Frau. »Es scheint, als wurde meine Sehnsucht nach den Staaten von Jahr zu Jahr gro?er. Seit funfzehn Jahren war ich immer wieder fest entschlossen, fur eine Weile nach San Franzisko zuruckzugehen, doch die Arbeit hier hort uberhaupt nicht auf. All die armen kleinen Wesen, die hierherkommen. Doch allmahlich werde ich krank vor Heimweh. Vermutlich ein Zeichen von Senilitat.«

»Kaum.«

»Es ist eine gute Sache, Jude zu sein und fur die Wiedergeburt einer judischen Nation zu arbeiten — doch es ist auch sehr gut, Amerikanerin zu sein. Vergessen Sie das bitte nie, meine Liebe. Ubrigens war ich schon die ganze Zeit, seit die Sache mit der Exodus losging, sehr gespannt darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen, Katherine Fremont, und ich mu? Ihnen gestehen, da? ich au?erordentlich uberrascht bin — und mich uberrascht so leicht nichts.«

»Ich befurchte, die Zeitungen haben ein ubertrieben romantisches Bild von mir entstehen lassen.«

Bei all ihrer entwaffnenden Freundlichkeit war Harriet Salzmann zugleich durchaus wach und kritisch, und obwohl sich Kitty vollig entspannt und behaglich fuhlte, war sie sich daruber klar, da? ihr Gegenuber sie sehr genau unter die Lupe nahm. Sie tranken Tee und schwatzten uber dies und das, gro?tenteils uber Amerika. Harriet wurde dabei ganz melancholisch.

»Nachstes Jahr fahre ich hin«, sagte sie. »Ich werde mir schon etwas einfallen lassen. Vielleicht fahre ich in die Staaten, um Gelder fur unsere Zwecke aufzutreiben. Wir machen haufig solche Werbefeldzuge. Wissen Sie, da? wir von den amerikanischen Juden mehr bekommen, als alle Amerikaner insgesamt fur das Rote Kreuz stiften? Doch wozu langweile ich Sie eigentlich mit diesen Dingen. Und Sie wollen also jetzt hier bei uns arbeiten?«

»Leider habe ich meine Zeugnisse nicht bei mir.«

»Die brauchen Sie hier auch gar nicht. Wir wissen genau uber Sie Bescheid.«

»Ach, wirklich?«

»Ja, wir haben ein halbes Dutzend Berichte uber Sie bei unseren Akten.«

»Ich wei? nicht, ob ich geschmeichelt oder beleidigt sein soll.« »Seien Sie bitte nicht beleidigt. Das ist nun einmal so in dieser Zeit und in diesem Land. Uber alle, die zu uns kommen, mussen wir genau Bescheid wissen. Sie werden feststellen, da? wir hier wirklich eine sehr kleine Gemeinschaft sind und da? es kaum etwas gibt, was nicht an meine alten Ohren dringt. Tatsachlich hatte ich gerade, ehe Sie heute nachmittag hierherkamen, unsere Berichte uber Sie gelesen, und ich habe mich dabei gefragt, was Sie eigentlich zu uns gefuhrt hat.«

»Ich bin Kinderpflegerin und wei?, da? Sie Kinderpflegerinnen brauchen.«

Harriet Salzmann schuttelte den Kopf. »Aus diesem Grund kommen keine Au?enseiter zu uns. Da mu? noch etwas anderes sein. Sind Sie Ari ben Kanaans wegen nach Palastina gekommen?«

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