schwaches Licht am Horizont des Nachthimmels zu. Sie sind gezwungen, sich so langsam durch die Wracks zu schlangeln, dass sie beinahe die Geduld verlieren. Doch immerhin schaffen sie beinahe zehn Kilometer, ehe es anfangt, wirklich schwierig zu werden.

Philip ist die meiste Zeit in Gedanken an Bobby vertieft. Was hatten sie blo? tun konnen, um ihm das Leben zu retten? Leid und Trauer graben sich jetzt tief in sein Bewusstsein – wie ein Krebsgeschwur, dessen Metastasen immer weiter wuchern. Um die dusteren Gedanken zu vertreiben, denkt er an ein altes Trucker-Sprichwort: Immer nur kurz anschauen, aber nicht anstarren. Er halt das Lenkrad mit der Lassigkeit eines alten Fernfahrers, richtet sich auf, konzentriert sich und versucht zu sehen, was sich an den Leitplanken abspielt.

Uber acht Kilometer hinweg sieht er lediglich eine Handvoll Toter im Lichtkegel der Scheinwerfer.

In der Nahe von Conyers kommen sie an zwei Nachzuglern vorbei, die auf dem Haltestreifen daherschlurfen wie blutbesudelte Kriegsgefangene. Als sie an der Stonecrest Mall voruberfahren, bemerken sie eine Traube dunkler Gestalten, die in einem Graben hockt und sich anscheinend an etwas labt – ob an Mensch oder Tier, das kann man in der Dunkelheit nicht sagen. Sonst sehen sie niemanden – zumindest wahrend der ersten acht Kilometer nicht. Philip fahrt stete und sichere funfzig. Sicher, weil bei weniger als funfzig Stundenkilometern die Gefahr besteht, ein Monster mitzunehmen, ohne es zu zerfetzen, und weil sie bei mehr als funfzig garantiert an dem einen oder anderen Autowrack ansto?en und ins Schleudern geraten wurden.

Das Radio funktioniert nicht mehr. Sie kurven ohne ein Wort zu sagen um die verlassenen Wagen herum, den Blick auf die Landschaft gerichtet.

Langsam nahern sie sich Atlanta. Sie lassen die ersten Trabantenstadte links liegen, die von Pinienwaldern oder auch Einkaufszentren durchbrochen werden. Gro?e Autohauser stehen duster wie Leichenschauhauser an der Interstate. Im milchigen Mondlicht gleichen die endlosen Reihen von Neuwagen zahllosen Sargen. Sie fahren an einer leer stehenden Waffelbackerei vorbei. Die Fenster sind eingeschlagen. Verlassene Burogebaude mit ihren riesigen Parkplatzen erinnern an Kriegsgebiete. Die Restaurants, Caravan-Parks, K-Marts und Wohnmobilzentren links und rechts der Autobahn sind verwustet. Kleine Feuer brennen hier und da, die Parkplatze wirken wie dustere Spielwiesen, die herrenlosen Autos auf dem Burgersteig wie Spielzeuge, die jemand wutend weggeworfen hat. Uberall liegt zerbrochenes Glas herum und schimmert unheilvoll im Mondlicht.

In weniger als eineinhalb Wochen hat die Plage das Randgebiet von Atlanta vollig zerstort. Hier, inmitten der Naturparks, Burolandschaften und Vorstadtsiedlungen – dem Traum des typischen Mittelstandlers, um dem muhsamen Pendeln von weit drau?en herein ebenso wie den wahnwitzigen Hypotheken und dem stressvollen Leben in der Stadt zu entrinnen –, hat die Epidemie alles in wenigen Tagen in Schutt und Asche gelegt. Aus irgendeinem Grund verstort Philip der Anblick der zerstorten Kirchen am meisten.

Jedes Gotteshaus, an dem sie vorbeifahren, sieht noch schlimmer aus als das vorherige: Aus dem New Birth Missionary Baptist Center kurz vor Harmon steigt Rauch auf. Das verkohlte Kreuz auf dem Dach ragt anklagend in den Himmel. Zwei Kilometer weiter entdecken sie am Luther Rice Seminary hastig gepinselte Schilder uber der Eingangstur, auf denen Voruberfahrende darauf hingewiesen werden, dass das Ende nahe und keine Hoffnung mehr fur die Sunder sei. Die Unity Faith Christian Cathedral sieht so aus, als ob sie zuerst geplundert worden ware, ehe man sie anderweitig entweihte. Der Parkplatz von St. John the Revelator Pentecostal Palace wiederum gleicht einem mit Leichen ubersaten Schlachtfeld, auch wenn sich viele der Toten mit der fur Zombies typischen Tragheit und dem Hunger der Untoten noch immer durch die Gegend schleppen. Welcher Gott lasst das zu? Und wenn wir schon beim Thema sind: Welcher Gott lasst einen schlichten, unschuldigen Menschen wie Bobby Marsh so sterben? Welcher …

»Mist!«

Dieser Ausruf kommt vom Rucksitz und katapultiert Philip in die Gegenwart zuruck. »Was ist los?«

»Dort druben«, erwidert Brian mit schwacher Stimme, die entweder von seiner Erkaltung oder der Angst kommt, die er empfindet. Vielleicht auch von beidem. Philip blickt in den Ruckspiegel und sieht den unruhigen Gesichtsausdruck seines Bruders. Brian zeigt nach Westen.

Philip konzentriert sich erneut auf das, was vor ihm liegt, bremst aber instinktiv ab. »Was ist los? Ich kann nichts sehen.«

»Verdammt«, flucht nun auch Nick vom Beifahrersitz. Er starrt durch eine Schneise im Pinienwald zu ihrer Rechten. Ein seltsames Licht schimmert durch die Baume.

Circa funfhundert Meter vor ihnen macht die Interstate eine lange Rechtskurve durch ein Stuck Wald, um sich dann in Richtung Nordwesten weiter auf die Stadt zuzuschlangeln. Hinter den Baumen sind Flammen zu sehen.

Die Autobahn steht in Flammen.

»Verflucht!«, entfahrt es Philip, ehe er den Fu? vom Gas nimmt, um die Situation erst einmal etwas besser einschatzen zu konnen.

Sekunden spater sehen sie einen umgesturzten Tankwagen, der in zwei Teilen in lodernden Flammen mitten auf der Stra?e liegt. Er versperrt den Weg in das Innere der Stadt. Das Fuhrerhaus hat sich beim Aufprall oder der darauf folgenden Explosion uber die gesamte Fahrbahn verstreut. Ein gro?es Teil klemmt zwischen zwei Fahrzeugen und versperrt nicht nur den Mittelstreifen, sondern auch die gegenuberliegenden Fahrspuren. Die ausgebrannten Karossen anderer Autos liegen hinter dem Tanker.

Noch weiter dahinter … Fast konnte man glauben, dass die Interstate ein Parkplatz ist. Dort stehen unzahlige Wagen, von denen manche brennen, die meisten aber Opfer einer Massenkarambolage geworden sind.

Philip fahrt an die Seite und halt den SUV auf dem Standstreifen keine funfzig Meter von den lodernden Flammen entfernt an. »Das ist ja gro?artig«, sagt er, ohne sich an jemanden im Besonderen zu wenden. Er will gerade eine Salve von Schimpfwortern von sich geben, als er innehalt. Schlie?lich sitzt Penny auf der Ruckbank.

Auch aus dieser Entfernung sind selbst in der flackernden Dunkelheit einige Dinge klar. Zum einen bleibt ihnen nichts anderes ubrig, als entweder eine Feuerwehr und ein Raumfahrzeug ausfindig zu machen, um weiterfahren zu konnen, ha,ha – oder aber einen verdammten Umweg auf sich zu nehmen. Zum anderen scheint das, was hier geschehen ist, erst heute passiert zu sein – vielleicht sogar erst wenige Stunden zuvor. Der Teer um das Wrack ist noch schwarz und die Oberflache rau, als ob ein Meteor dort eingeschlagen ware. Selbst die Baume am Stra?enrand sind vom plotzlichen Flammenmeer verkohlt worden.

»Was machen wir jetzt?«, will Brian wissen.

»Umdrehen«, antwortet Nick und wirft einen Blick uber seine Schulter.

»Lasst mich einen Augenblick nachdenken«, meint Philip und starrt auf die Uberreste der Fahrerkabine, deren Dach wie eine Fischkonserve aufgerissen ist. Verbrannte Leichen liegen uberall uber den Mittelstreifen verstreut. Manche von ihnen zucken mit den Wellenbewegungen einer erwachenden Schlange.

»Los, Philip. Uns bleibt nichts anderes ubrig, als umzudrehen«, drangt Nick.

»Vielleicht konnen wir die 278 nehmen«, schlagt Brian vor.

»VERFLUCHT, KONNT IHR NICHT ENDLICH DIE KLAPPE HALTEN UND MICH NACHDENKEN LASSEN!«

Der plotzliche Wutanfall lasst Philips Kopf mit der Wucht einer Migrane pochen. Er bei?t die Zahne zusammen, ballt die Hande zu Fausten und schiebt die Stimme in seinem Inneren beiseite: Es erst aufbrechen, dann aufrei?en. Hol dir das Herz …

»Tut mir leid«, sagt Philip schlie?lich und wischt sich den Mund mit dem Handrucken ab. Er dreht sich um und sieht seine kleine Tochter an, die sich angstlich auf der Ruckbank zusammenkauert. »Es tut mir leid, Schatz. Daddy hat die Kontrolle verloren, aber jetzt ist alles wieder gut.«

Das kleine Madchen starrt auf den Boden.

»Was willst du machen?«, fragt Brian leise. Der verloren klingende Ton in seiner Stimme lasst vermuten, dass er seinem Bruder in die Flammen der Holle folgen wurde, wenn Philip das so bestimmen wurde.

»Die letzte Abfahrt war … Wie weit ist die entfernt? Eineinhalb Kilometer?« Philip wirft einen Blick nach hinten. »Ich finde, dass wir versuchen sollten …«

Das Klatschen kommt vollig unerwartet aus dem Nichts und unterbricht Philip mitten im Satz.

Penny schreit auf.

»MIST!«

Nick schreckt vom Beifahrerfenster zuruck, an dem ein verkohlter Leichnam kratzt, der sich lautlos in der Dunkelheit an sie herangeschlichen hat.

»Runter mit dir, Nick!« Philips Stimme bleibt emotionslos wie der eines Funkers, als er sich rasch zum Handschuhfach vorbeugt, die Klappe offnet und nach etwas sucht. Das Wesen auf der Stra?e druckt gegen die

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