wurde. War das moglich? Konnte nach diesem grauenhaften Blutbad noch irgend jemand am Leben sein? Er sprang auf, trocknete sich eilends die Tranen, die ihm uber das Gesicht liefen, und wandte sich in die Richtung, aus der diese Klagelaute heruberwehten. Sie kamen aus dem Hof, von einem Mann, der mit dem Gesicht nach unten in einer gro?en Blutlache lag. Aurelius kniete neben ihm nieder und drehte ihn behutsam um, damit er ihm ins Gesicht sehen konnte. Obwohl der Mann schon vom Tod gezeichnet war, erkannte er die Insignien und die Uniform wieder. Er murmelte: »Legionar ...«

Aurelius ruckte noch etwas naher an ihn heran. »Wer bist du?« fragte er ihn.

Der Mann atmete muhsam, und jeder Atemzug mu?te ihm schreckliche Qualen bereiten. Er antwortete: »Ich bin Flavius ... Orestes.«

Aurelius zuckte zusammen. »Kommandant«, sagte er. »Oh, ihr Gotter ... Kommandant, ich gehore zur Nova Invicta.« Und dieser Name klang in seinen Ohren wie eine Ironie des Schicksals.

Orestes zitterte und klapperte mit den Zahnen, denn die Kalte des Todes hatte sich schon in seinem Korper eingenistet. Aurelius nahm seinen Umhang ab, deckte Flavius Orestes zu, und diese Geste des Mitgefuhls schien diesen einen Moment lang zu ermutigen und ihm einen Hauch von Energie zuruckzugeben. »Meine Frau, mein Sohn ...«, sagte er. »Sie haben den Kaiser gefangengenommen. Ich bitte dich, melde das der Legion! Ihr mu?t ... sie befreien!«

»Die Legion ist von einer feindlichen Ubermacht angegriffen worden«, erwiderte Aurelius. »Ich bin gekommen, um Verstarkung anzufordern.«

Auf Orestes' Antlitz erschien ein Ausdruck tiefster Besturzung, und dennoch zitterte in seiner Stimme, wahrend er Aurelius mit tranenerfullten Augen ansah, noch ein Funkchen Hoffnung. »Rette sie«, sagte er, »ich flehe dich an.«

Aurelius gelang es nicht, der traurigen Eindringlichkeit seines Blickes standzuhalten. Er senkte die Augen und sagte: »Ich ... bin allein ubriggeblieben, Kommandant.«

Orestes schien seine Worte vollkommen zu uberhoren. Mit allerletzter Kraft versuchte er sich aufzurichten und klammerte sich mit beiden Handen an den Saum seines Brustpanzers. »Ich beschwore dich, Legionar«, rochelte er, »rette meinen Sohn, rette den Kaiser.

Wenn er stirbt, stirbt Rom. Wenn Rom stirbt, ist alles verloren.« Erschlafft glitt seine Hand zu Boden, und seine Augen verloren in der Schreckensstarre des Todes jeglichen Ausdruck.

Aurelius strich ihm mit den Fingerkuppen uber die Lider, um sie zu schlie?en. Dann nahm er seinen Umhang und ging davon, wahrend hinter ihm die Sonne, die sich inzwischen uber den Horizont erhoben hatte, den Schauplatz des Massakers und sein ganzes Grauen in ein helles Licht tauchte. Er ging zuruck zu Juba, der ruhig auf der Wiese weidete, band ihn los, schwang sich in den Sattel und trieb ihn, auf den Spuren des Feindes, nach Norden.

III

Die von Wulfila angefuhrte Kolonne war seit drei Tagen unterwegs; die beschwerliche Reise fuhrte sie uber die schneebedeckten Passe des Apennin und dann durch die Nebel verhangene Ebene. Die Strapazen und die Schlaflosigkeit bedeuteten eine schwere Prufung fur die Gefangenen, die an die Grenze ihrer Widerstandskraft gelangten. Keiner von ihnen hatte sich auch nur eine einzige Nacht lang richtig ausruhen konnen; sie vermochten nur fur ein paar Stunden vor sich hin zu dosen, doch selbst diese Stunden wurden von den Alptraumen des Massakers unterbrochen. Flavia Serena versuchte, nicht zu verzagen, denn sie war einerseits von ihrer Familie streng erzogen worden, und andererseits wollte sie ihrem Sohn Romulus mit ihrem eigenen Verhalten ein Vorbild sein. Hin und wieder lie? der Knabe den Kopf in ihren Scho? sinken und schlo? die Augen, aber kaum war er eingeschlummert, da tauchte das Bild von dem Gemetzel aus seiner verstorten Erinnerung auf, und seine Mutter spurte, wie sich seine Glieder vor Schmerz verkrampften, fast, als konne sie selbst das Grauen der Bilder sehen, die unter seinen Lidern vorbeizogen. Dann fuhr der Junge mit einem Ruck und einem Schrei hoch, die Stirn mit kalten Schwei?perlen bedeckt und die Augen vor Schreck weit aufgerissen.

Ambrosinus beruhrte ihn an der Schulter und versuchte, ihm ein wenig Warme zu spenden. »Nur nicht verzagen«, sagte er zu ihm, »fasse neuen Mut, mein Kind, das Schicksal hat dir die harteste und grausamste Prufung auferlegt, aber ich wei?, da? du sie bestehen wirst.«

Einmal trat er, als Romulus gerade eingenickt war, nahe an ihn heran und flusterte ihm etwas ins Ohr, und fur kurze Zeit wurden die Atemzuge des Knaben langer und regelma?iger, und die Zuge seines Gesichtes entspannten sich.

»Was hast du ihm gesagt?« fragte ihn Flavia Serena.

»Ich habe mit der Stimme seines Vaters zu ihm gesprochen«, erwiderte Ambrosinus geheimnisvoll. »Das war es, was er horen wollte und was er brauchte.«

Flavia sagte nichts und starrte wieder auf die Stra?e, die jetzt an den ausgedehnten Lagunen der Kuste vorbeifuhrte, auf deren Wasser, niedergedruckt von einem bleiernen Himmel, fahlblauer Schaum schwamm. Als sie am Abend des funften Tages die Umgebung von Ravenna erreichten, wurde es schon dunkel. Die Kolonne zog auf einem der vielen Damme dahin, die an der Lagune entlang fuhrten, bis zu jener Gruppe von Inseln, auf denen sich einst die Stadt erhoben hatte und die jetzt wie angeschwei?t am Ende einer langen Kustendune lagen. Zu dieser Stunde stieg der Nebel auf und waberte uber die Oberflache der Gewasser bis hin zum Ufer, um sich von dort aus uber das Festland zu verbreiten und uber die kahlen Baume und die vereinzelt stehenden Hutten der Fischer und Bauern hinwegzustreichen. Ab und zu horte man die Rufe eines Nachttieres oder aus einem fernen Gehoft das einsame Bellen eines Hundes. Die Kalte und die Feuchtigkeit krochen ihnen bis ins Mark, und dieses starke Unbehagen verstarkte noch die ohnehin schon fast unertragliche Mudigkeit.

Plotzlich erhoben sich vor ihnen die Turme von Ravenna wie Riesen im Nebel. Wulfila schrie etwas in seiner kehligen Sprache. Das Tor offnete sich, und die Reiter zogen im Gleichschritt in die menschenleere, Nebel verhangene Stadt ein. Die Bewohner schienen wie vom Erdboden verschluckt: Alle Turen waren verrieselt, samtliche Fenster geschlossen.

Man horte nur das Glucksen des Wassers in den Kanalen, wenn ein Boot, von Rudern langsam angetrieben, wie ein Gespenst voruberglitt. Die Kolonne machte vor dem Eingang des Kaiserpalastes halt, der aus roten Ziegeln erbaut und dessen Fassade mit Saulen aus istrischem Stein geschmuckt war. Wulfila befahl, die Mutter von ihrem Sohn zu trennen und den Jungen in seine Gemacher zu bringen.

»Erlaube, da? ich mit ihm gehe«, bat Ambrosinus rasch. »Er hat Angst und ist erschopft und braucht jemanden, der ihm Gesellschaft leistet. Ich bin sein Erzieher und wei?, wie ich ihm helfen kann: Ich bitte dich, machtiger Herr.«

Wulfila, dem diese fur ihn ungewohnte Anrede schmeichelte, stimmte mit einem unartikulierten Laut zu, und Ambrosinus durfte seinem Schuler, der soeben fortgefuhrt wurde, folgen. Da wandte sich Romulus um und rief: »Mutter! Mutter!« Flavia Serena warf ihm einen traurigen, schmerzerfullten Blick zu, der dennoch voller Wurde war - eine stumme Ermahnung, sich nicht der Verzweiflung hinzugeben. Dann entfernte sie sich, von zwei Wachen flankiert. Mit festem Schritt und geradem Rucken ging sie einen Korridor entlang; die Arme hielt sie uber der Brust gekreuzt, um das zu bedecken, was ihre zerfetzten Kleider entblo?ten.

Odoaker war bereits verstandigt worden und wartete auf dem Elfenbeinthron der letzten Casaren; ein Zeichen von ihm genugte, um Wulfila und den Wachen zu bedeuten, da? er mit der Frau allein sein wollte. Unterhalb des Thrones stand ein Sessel fur sie bereit, und Odoaker forderte sie auf, Platz zu nehmen, aber Flavia Serena blieb hocherhobenen Hauptes stehen, und ihre Augen starrten ins Leere. Trotz der zerrissenen Kleider, der verfilzten Haare, der Blutspritzer, die noch immer ihre Tunika befleckten, trotz der ru?verschmierten Stirn und der zerkratzten Wangen gelang es ihr, den Zauber einer ungebandigten und stolzen Weiblichkeit auszustrahlen. Man spurte, da? ihre Schonheit unter der ganzen Gewalt zwar gelitten hatte, doch im wesentlichen unberuhrt geblieben war, was sich schon daran zeigte, wie selbstbewu?t und zugleich zart ihre Gesichtszuge waren, wie wei? ihr Hals und wie formvollendet ihre Schultern und der Busen, den ihre vor der Brust gekreuzten Arme nicht ganz bedecken konnten. Sie spurte den Blick des Barbaren auf sich ruhen, auch wenn sie ihn nicht ansah, und fuhlte, wie sie vor Emporung und ohnmachtiger Wut errotete. Nur die Blasse der Mudigkeit, des Fastens und der Schlaflosigkeit hielt ihre wahren Gefuhle wie unter einem Leichentuch verborgen.

»Ich wei?, da? du mich verachtest«, sagte Odoaker. »Barbaren nennt ihr uns, als ob ihr besser waret! Doch ihr seid ein Volk, das infolge jahrhundertelang praktizierter Laster, Machtmi?brauch und Korruption jetzt am Ende ist. Ich habe deinen Mann umbringen lassen, weil er es verdiente, denn er hat mich verraten und sein Wort nicht gehalten. Ich mu?te ein Exempel statuieren, damit alle begreifen, da? man Odoaker nicht ungestraft betrugen kann, und das Exempel mu?te so furchterlich ausfallen, damit es auch wirklich jedermann Angst einjagt. Und zahle

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