»Haben Sie eine Ahnung, wie es zu dieser Tragodie gekommen ist? War sie unglucklich? Vielleicht eine Liebesgeschichte?«
Miss Bulstrode schuttelte den Kopf.
»Nicht dass ich wusste – au?erdem halte ich das auch fur unwahrscheinlich. Sie war nicht der Typ…«
»Sie wurden staunen«, bemerkte Kommissar Kelsey ironisch.
»Soll ich jetzt Miss Johnson kommen lassen?«
»Ja, bitte. Nachdem ich mit ihr gesprochen habe, werde ich dann zur Turnhalle gehen.«
»Sie ist erst in diesem Jahr gebaut worden«, erklarte Miss Bulstrode. »Das Gebaude befindet sich neben dem Schwimmbad, es gibt dort darum auch einen Trockenraum fur die Badeanzuge – und einen Raum, in dem Tennis- und Hockeyschlager aufbewahrt werden; die Tennisplatze liegen gleich gegenuber.«
»Hatte Miss Springer einen besonderen Grund, sich nachts in der Turnhalle aufzuhalten?«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Gut. Dann werde ich jetzt mit Miss Johnson reden.«
Miss Bulstrode verlie? das Zimmer, das sie kurz darauf, von Miss Johnson gefolgt, wieder betrat. Nachdem sie die Leiche entdeckt hatte, war Miss Johnson ein gro?es Glas Kognak eingeflo?t worden, dessen Wirkung sich jetzt in einer ungewohnlichen Geschwatzigkeit zeigte.
»Das ist Kommissar Kelsey«, sagte Miss Bulstrode. »Sie mussen versuchen, sich zusammenzunehmen, Elsbeth, und ihm genau erzahlen, was sich ereignet hat.«
»Furchtbar, furchtbar«, jammerte Miss Johnson. »So etwas habe ich noch nie erlebt. Noch nie! Ich kann es noch immer kaum fassen. Entsetzlich! Und ausgerechnet Miss Springer!«
Kommissar Kelsey war ein aufmerksamer Zuhorer und ein guter Beobachter.
»Mir scheint, dass Sie es als besonders seltsam empfinden, dass gerade Miss Springer ermordet worden ist, nicht wahr?«
»Allerdings. Sie war so… so forsch und entschlossen. Eine Frau, die es gewiss mit einem Einbrecher aufnehmen konnte, die sich nicht furchtete.«
»Einbrecher? Gibt es in der Turnhalle irgendetwas, das einen Einbrecher reizen konnte?«, fragte Kelsey.
»Eigentlich nicht. Hochstens Badeanzuge und ein paar Sportgerate.«
»Kaum anzunehmen, dass deshalb jemand einbrechen wurde«, meinte Kelsey. »Ist die Tur gewaltsam geoffnet worden?«
»Das wei? ich leider nicht. Als wir ankamen, stand die Tur offen, und dann…«
»Sie ist nicht gewaltsam geoffnet worden«, erklarte Miss Bulstrode.
»Sie wurde also aufgeschlossen«, stellte der Kommissar fest.
»War Miss Springer beliebt?«, fragte er mit einem prufenden Blick auf Miss Johnson.
»Das ist schwer zu sagen… ich meine… sie ist doch tot, und…«
»Mit anderen Worten: Sie konnten sie nicht leiden«, schloss Kelsey, ohne Miss Johnsons Gefuhle zu schonen.
»Ich glaube nicht, dass sie sich besonderer Beliebtheit erfreute«, sagte Miss Johnson. »Sie war eigenwillig und nicht besonders hoflich, aber sie nahm ihre Arbeit ernst und war sehr tuchtig, nicht wahr, Miss Bulstrode?«
»Stimmt«, erwiderte Miss Bulstrode.
Der Kommissar kehrte zum Hauptthema zuruck.
»So, und jetzt erzahlen Sie uns genau, was sich ereignet hat, Miss Johnson«, bat er.
»Jane, eine unserer Schulerinnen, wachte mit Ohrenschmerzen auf und kam zu mir. Nachdem ich sie verarztet hatte, brachte ich sie wieder ins Bett. Ich sah, dass die Vorhange flatterten, und hielt es unter den besonderen Umstanden fur besser, die Fenster zu schlie?en. Sonst schlafen die Madchen naturlich bei offenen Fenstern. Mit den Auslanderinnen haben wir da manchmal Schwierigkeiten, aber ich bestehe immer darauf…«
»Das gehort nicht zur Sache«, unterbrach Miss Bulstrode den Redefluss. »Kommissar Kelsey interessiert sich nicht fur die hygienischen Regeln unserer Schule.«
»Naturlich nicht«, erwiderte Miss Johnson. »Ich bitte um Entschuldigung. – Ich ging, wie gesagt, zum Fenster, und als ich es zumachen wollte, sah ich zu meinem Erstaunen ein Licht in der Turnhalle, das sich hin und her zu bewegen schien.«
»Es war also nicht das normale elektrische Licht, sondern Sie glauben, den flackernden Schein einer Taschenlampe gesehen zu haben?«
»Ja, das muss es wohl gewesen sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, wer sich um diese Zeit in der Turnhalle aufhalten mochte. An Einbrecher habe ich naturlich nicht gedacht.«
»An was haben Sie denn gedacht?«, fragte Kelsey.
Miss Johnson sah Miss Bulstrode scheu von der Seite an.
»Nun… ich habe eigentlich… ich glaube, ich habe an nichts Besonderes gedacht…«
Wieder wurde sie von Miss Bulstrode unterbrochen.
»Wahrscheinlich glaubte Miss Johnson, dass eine unserer Schulerinnen ein Stelldichein mit einem jungen Mann hatte. Habe ich Recht, Elsbeth?«
Miss Johnson stockte der Atem.
»Allerdings hielt ich das tatsachlich fur moglich… ich… dachte an eine der jungen Italienerinnen. Auslanderinnen sind ja bekanntlich oft fruhreif – ganz anders als die englischen jungen Madchen.«
»Seien Sie nicht so borniert, Elsbeth! Sie wissen ganz genau, dass wir in dieser Beziehung auch schon mit Englanderinnen Schwierigkeiten hatten. Warum sollten Sie nicht daran denken? Auch ich ware an Ihrer Stelle auf diese Idee gekommen«, sagte Miss Bulstrode.
»Fahren Sie fort«, bat Kommissar Kelsey.
»Ich hielt es fur richtig, Miss Chadwick zu wecken und sie zu bitten, mit mir zu kommen«, fuhr Miss Johnson fort.
»Warum gerade Miss Chadwick?«
»Ich wollte Miss Bulstrode nicht storen, und wir wenden uns immer an Miss Chadwick, wenn Miss Bulstrode nicht da ist«, erklarte Miss Johnson. »Sie ist schon sehr lange hier und hat viel Erfahrung. Sie meinte, wir mussten unverzuglich hinuntergehen. Wir warfen nur einen Mantel uber und verlie?en das Haus durch eine Seitentur. In diesem Augenblick horten wir einen Schuss aus der Richtung der Turnhalle. Wir liefen, so schnell wir konnten, uber den Gartenweg. Dummerweise hatten wir vergessen, eine Taschenlampe mitzunehmen, und wir stolperten ein paar Mal in der Dunkelheit. Als wir ankamen, stand die Tur weit offen. Wir knipsten das Licht an…«
Kelsey unterbrach sie.
»Es war jetzt also ganz dunkel. Sie bemerkten auch keine Taschenlampe oder irgendein anderes Licht?«, fragte er.
»Nein. Es war stockdunkel. Wir knipsten das Licht an, und da lag sie… sie war…«
»Das genugt, mehr brauchen Sie mir nicht zu erzahlen«, unterbrach Kelsey freundlich. »Ich gehe jetzt zur Turnhalle ruber und werde mich selbst an Ort und Stelle uber alles informieren. Ist Ihnen jemand auf dem Weg begegnet?«
»Nein.«
»Sie horten auch niemanden fortlaufen?«
»Nein, wir haben nichts gehort.«
Kelsey wandte sich an Miss Bulstrode.
»Hat sonst noch jemand im Haus den Schuss gehort?«
Sie schuttelte den Kopf.
»Meines Wissens nicht. Die Turnhalle liegt ziemlich weit vom Haus entfernt.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Kommissar Kelsey. »Nun mochte ich zur Turnhalle gehen.«
»Ich begleite Sie«, erklarte Miss Bulstrode.
»Soll ich auch mitkommen?«, fragte Miss Johnson. »Wenn Sie es fur notig halten, tue ich es naturlich. Man soll sich nicht vor seiner Pflicht drucken, und muss den Tatsachen ins Auge sehen…«
»Vielen Dank, aber ich halte Ihre Anwesenheit im Augenblick nicht fur erforderlich«, entgegnete Kelsey.
»Eine furchtbare Tragodie, und gerade weil ich Miss Springer nicht leiden konnte, empfinde ich sie als besonders qualend«, jammerte Miss Johnson. »Erst gestern stritten wir uns im Lehrerinnenzimmer. Ich war der Ansicht, dass zu viel Sport den zarteren Madchen schaden konnte. Sie behauptete das Gegenteil und sagte, dass