»Das hat sie schon seit langem nicht mehr gemacht«, bemerkt Philip, der in ihrer Nahe auf einer Matratze sitzt und den letzten Rest Whiskey trinkt. Er tragt ein armelloses T-Shirt und seine schmutzige Jeans; die Stiefel stehen neben der Matratze. Nachdenklich nimmt er einen Schluck und wischt sich den Mund ab.

»Was?« Brian hockt seinem Bruder im Schneidersitz gegenuber. Penny liegt in der Mitte. Er tragt seinen blutverschmierten Mantel und sieht sich vor, nicht zu laut zu sprechen. Nick dost unweit von ihnen neben einer Werkbank. Er hat sich bereits in seinen Schlafsack zuruckgezogen. Hochstens funf Grad, warmer ist es nicht in der Werkstatt.

»Den Daumen lutschen«, wiederholt Philip.

»Sie macht gerade eine Menge durch.«

»Da ist sie nicht allein.«

»Stimmt.« Brian starrt auf den Boden. »Aber das schaffen wir.«

»Schaffen? Was?«

Brian blickt seinem Bruder in die Augen. »Bis zum Fluchtlingslager. Ganz gleich, wo es ist … Wir werden es bestimmt finden.«

»Klar.« Philip leert die Flasche und stellt sie neben sich auf den Boden. »Wir werden das Lager garantiert finden – so wie die Sonne morgen aufgeht, alle Waisenkinder ein gutes Zuhause bekommen und die Tapferen stets als Sieger hervorgehen.«

»Was ist los?«

Philip schuttelt den Kopf. »Verdammt noch mal, Brian. Mach doch die Augen auf.«

»Bist du sauer auf mich?«

Philip steht auf und streckt sich. »Warum sollte ich gerade auf dich sauer sein, Kumpel? Geht doch alles seinen normalen Gang.«

»Was soll das hei?en?«

»Nichts … Leg dich einfach hin. Der Schlaf wird dir gut tun«, meint Philip und geht zum Wagen. Er kniet sich hin und wirft einen Blick auf dessen Unterboden.

Brian steht muhsam auf. Sein Herz rast. Ihm ist schwindlig. Seinem Hals geht es besser, und selbst sein Husten hat sich nach den Tagen im Haus in Wiltshire Estates gelindert. Aber er fuhlt sich bei Weitem noch nicht hundertprozentig gut. Aber wer tut das schon? Er tritt zu seinem Bruder. »Was soll das hei?en – alles geht seinen normalen Gang?«

»Es ist, was es ist«, murmelt Philip, ohne ihn anzusehen.

»Du bist sauer auf mich, weil ich den Polizisten nicht umgebracht habe«, platzt Brian heraus.

Philip richtet sich auf und sieht seinen Bruder an. »Ich habe doch gesagt, du sollst dich schlafen legen.«

»Vielleicht fallt es mir schwerer, jemanden zu erschie?en, der einmal ein Mensch war. Na und? Verklag mich doch.«

Philip packt Brian an seinem T-Shirt, wirbelt ihn um hundertachtzig Grad herum und sto?t ihn gegen die Karosse des Escalade. Der Aufschlag raubt Brian einen Moment lang den Atem, und der Larm weckt Nick. Auch Penny zuckt im Schlaf zusammen. »Jetzt hor mir mal gut zu«, knurrt Philip drohend. »Das nachste Mal, wenn du mir eine Knarre abnimmst, will ich, dass du sie auch benutzen kannst. Der Bulle war harmlos. Aber das wird nicht immer so sein, und ich werde garantiert nicht fur alle Zeiten den Babysitter spielen. Hast du mich verstanden?«

Brian nickt. Seine Kehle ist vor Angst trocken geworden. »Ja, hab ich.«

Philip packt ihn noch harter. »Du solltest dir diesen ganzen Weicheier-Mist von wegen behuteter Kindheit schnellstmoglich aus dem Kopf schlagen, anfangen, deinen Mann zu stehen und ein paar Schadel einschlagen. Denn eines kann ich dir versprechen: Ehe es besser wird, wird es noch viel, viel schlimmer.«

»Verstanden«, antwortet Brian.

Philip lasst noch immer nicht von seinem Bruder ab. Seine Augen funkeln vor Wut. »Wir werden diese Sache uberleben, indem wir gro?ere Monster werden als die da drau?en! Kapiert? Es gibt keine Regeln mehr! Keine Philosophie und vor allem keine Gnade oder Schonfrist. Es gibt nur die und uns, und alles, was diese Monster wollen, ist es, uns aufzufressen! Was machen wir also? Wir fressen die auf! Wir schnappen sie uns und spucken sie wieder aus, und wir werden das Ganze uberleben, oder ich werde hochstpersonlich ein riesiges Loch in diese verruckte Welt sprengen! Verstehst du? VERSTEHST DU?«

Brian nickt panisch.

Philip lasst ihn los und wendet sich ab.

Mittlerweile ist Nick ganz wach geworden. Er setzt sich auf und starrt die beiden verdutzt an.

Pennys Augen sind ebenfalls weit aufgerissen. Sie nuckelt wie wild an ihrem Daumen und blickt ihrem Vater hinterher, der durch die Werkstatt zu tigern beginnt. Als er an den Toren vorbeikommt, halt er inne und starrt durch die eisernen Gitterstabe nach drau?en in die Nacht, die Hande zu Fausten geballt.

Am anderen Ende der Werkstatt lehnt Brian noch immer am Escalade und ficht eine stille Schlacht mit sich selbst, um nicht wie ein Weichei loszuheulen, das eine behutete Kindheit genie?en durfte.

Am nachsten Morgen erhellt eine schwache Herbstsonne ihre Bleibe. Hastig nehmen sie ihr Fruhstuck in Form von Musliriegeln und Wasser zu sich, ehe sie das Benzin aus drei Zwanzig-Liter-Kanistern in den Tank des Escalade schutten und ihre Habe in den Wagen packen. Die getonten Scheiben sind feucht von Kondenswasser. Brian und Penny machen es sich wie immer auf der Ruckbank bequem, wahrend Nick neben dem Tor steht und auf Philips Zeichen wartet. Da der Strom ausgefallen ist – anscheinend in der ganzen Stadt –, mussen sie das Tor manuell bedienen.

Philip setzt sich hinter das Lenkrad des Escalade und startet den Wagen. Der riesige V8-Motor mit sechs Litern Hubraum beginnt zu schnurren, und das Armaturenbrett leuchtet auf. Philip legt den ersten Gang ein, gibt Nick ein Zeichen und beginnt langsam vorwarts zu fahren.

Nick rei?t das Tor auf. Die Rollen quietschen und setzen sich in Bewegung. Frische Morgenluft und Sonnenstrahlen stromen in die Garage, wahrend Nick zur Beifahrertur lauft und in den Wagen steigt.

Philip zogert einen Moment lang. Er blickt zuerst auf das Armaturenbrett und dann auf die Mittelkonsole.

»Was ist?«, will Nick nervos wissen. Er fuhlt sich immer ein wenig unsicher, wenn er Philips Handeln hinterfragt. »Sollten wir uns nicht langsam auf die Socken machen?«

»Einen Augenblick«, gebietet Philip und offnet ein Fach in der Mittelkonsole.

In dem Fach befinden sich zwei Dutzend CDs, die alle vom vorherigen Eigentumer – einem gewissen Calvin R. Donlevy, wohnhaft in 601 Greencove Lane S. E. laut Fahrzeugpapieren im Handschuhfach – geordnet worden waren. »Jetzt sind wir startbereit«, erklart Philip, nachdem er die CDs durchgesehen hat. Calvin R. Donlevy aus der Greencove Lane war offensichtlich ein Liebhaber klassischen Rocks, denn unter anderen finden sich Led Zeppelin, Black Sabbath und Jimi Hendrix in seiner Sammlung. »Ein bisschen Musik ware doch nicht schlecht, damit wir uns besser konzentrieren konnen.«

Kaum erklingen die ersten Tone einer Cheap-Trick-CD aus den Lautsprechern, tritt Philip aufs Gaspedal.

Die Kraft der vierhundertfunfzig Pferdestarken druckt die Mannschaft in die Sitze, und der uberbreite Escalade schie?t durch die Tore. Philip bleibt gerade noch genug Raum, ohne die Au?enspiegel abzurei?en oder Kratzer im Lack zu verursachen. Das Sonnenlicht durchflutet den Innenraum. Das kreischende Gitarrensolo der Partyhymne »Hello There« plarrt aus der 5.1 Surround-Sound-Bose-Anlage, wahrend sie aus der Werkstatt uber den Vorplatz auf die Stra?e rasen.

Der Sanger von Cheap Trick fragt die Konzertganger auffordernd: »Are you ready to rock?«

Philip schnellt um die Ecke und fahrt erst einmal auf die Maynard Terrace. Die Stra?e wird breiter. Billige Hauser rauschen links und rechts an ihnen vorbei. Ein umherirrender Zombie in einem Regenmantel taucht zu ihrer Rechten auf, und Philip steuert direkt auf ihn zu.

Der widerlich dumpfe Schlag beim Aufprall ist uber das Heulen des Motors und den donnernden Schlagzeugrhythmen von Cheap Trick kaum wahrzunehmen. Brian sinkt tief in seine Ruckbank. Ihm dreht sich der Magen um, und er macht sich Sorgen um Penny, die zusammengesackt neben ihm sitzt und vor sich hin starrt.

Brian lehnt sich zu ihr hinuber, schnallt sie an und versucht, das Madchen anzulacheln.

»Etwas nordlich von hier sollte es eine Auffahrt geben«, brullt Philip so laut er kann, wobei seine Stimme in der Musik und dem Motorengerausch fast untergeht. Zwei weitere Untote torkeln zu ihrer Linken durch die Gegend – ein Mann und eine Frau in Lumpen. Philip lenkt das Auto in ihre Richtung, um sie wie zwei schwache Kegel umzumahen.

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