Untoter, die durch die Entluftungsschlitze und Fenster des Escalade dringt, stellt Brian die Nackenhaare auf. Er lehnt sich nach vorne, um seinem Bruder vorsichtig auf die Schulter zu klopfen. »Philip, die Stadt ist verloren.«
»So ist es. Erledigt. Wir mussen sofort umdrehen«, drangt Nick panisch.
»Einen Augenblick«, erklart Philip mit kalter Stimme. »Wartet noch.«
»Philip, lass das«, ermahnt ihn Brian. »Die Stadt gehort den Zombies.«
»Ich habe gesagt, dass wir noch etwas warten!«
Brian starrt erneut auf den Nacken seines Bruders, und ihm lauft es kalt den Rucken hinunter. Jetzt wei? er, was Philip vorhat. ›Einen Augenblick‹ bedeutet nicht ›Wartet mal kurz, wahrend ich uberlege‹ oder ›Mir kommt gleich die zundende Idee‹.
Was Philip Blake mit ›Einen Augenblick‹ meint, ist …
»Seid ihr alle angeschnallt?«, fragt Philip eher rhetorisch. Brian wird es erneut eiskalt.
»Philip, bitte …«
Aber Philip hort nicht auf ihn, sondern tritt aufs Gaspedal. Der Escalade explodiert formlich, als er losschie?t. Philip steuert schnurstracks auf den wimmelnden Mob zu. Brian verschlagt es einen Moment lang die Sprache.
»PHILLY! NEIN!«
Nicks Schrei wird von Aufprallgerauschen ubertont. Als ob ein Riese unentwegt auf eine gewaltige Trommel schlagen wurde, fegt der Escalade uber den Burgersteig und zerfetzt dabei mindestens drei Dutzend Untote in Stucke.
Gewebe und Blut regnen auf das Auto nieder.
Brian ist so geschockt, dass er sich auf den Boden wirft und gemeinsam mit Penny den Ort namens Weg aufsucht.
Die kleineren Zombies stellen kein gro?es Hindernis dar. Sie sind eher wie Schie?budenfiguren. Sie zerplatzen unter dem Gewicht der Reifen und hinterlassen lediglich eine Spur verwesender Innereien. Die Gro?eren aber prallen von den Kotflugeln ab und fliegen durch die Luft, bis sie gegen Gebaude klatschen und wie uberreife Fruchte platzen.
Die Toten scheinen lernresistent zu sein. Selbst eine Motte flattert davon, sobald sie einmal der Flamme zu nahe gekommen ist. Aber dieser gewaltige Verband herumwandelnder Leichen in Atlanta hat offensichtlich nicht den geringsten Schimmer, warum man das glanzende schwarze Etwas, das auf sie zurast, nicht fressen kann – das gleiche schwarze Etwas, das ihre Kumpanen Sekunden zuvor in Brei verwandelt hat. Sie kommen weiterhin und denken nicht einmal daran, innezuhalten oder die Richtung zu andern.
Philip ist uber das Lenkrad gebeugt. Die Knochel wei? vor Anstrengung, betatigt er immer wieder die Scheibenwischer, damit die Windschutzscheibe nicht vollig verschmutzt und er noch sehen kann, wohin er das Auto lenkt. Mit einer Geschwindigkeit zwischen funfzig und achtzig Kilometer die Stunde pflugt er den Weg zur Innenstadt frei.
Manchmal schlagt er eine Schneise durch die dichte Menge, dass man meinen konnte, sie befanden sich in einem Wald voll blutender Fruchte. Die herumfliegenden Arme und Finger gleichen Asten, die sich an den Seiten des Escalade verklemmen. Es gibt auch freie Stra?enabschnitte, auf denen der SUV lediglich einige wenige Zombies auf den Burgersteigen oder am Rande der Stra?e trifft und Philip richtig Gas geben kann, wahrend er von einer Seite zur anderen kurvt, um jeden Untoten mitzunehmen, den er kriegen kann. Dann kommt plotzlich wieder eine Wand aus Kreaturen auf sie zu. Das macht ihm am meisten Spa?, denn nur so fliegen die Fetzen so richtig.
Er fahrt um eine Kurve und rast in eine neue Wand von Untoten, die auf den Wagen zustolpern.
Das Merkwurdigste sind die sich wiederholenden Einschlage des gleichen Gewebes und der gleichen Organe. Manche sind zu erkennen, andere weniger. Eingeweide fliegen wahllos umher, landen auf der Windschutzscheibe und rutschen uber die Motorhaube. Bruchstucke von Zahnen sammeln sich wiederholt in den Scheibenwischern, und etwas anderes, pinkfarbenes wie Fischrogen verfangt sich im Falz zwischen Kotflugel und Motorhaube.
Philip sieht ein totes Gesicht nach dem anderen. Jedes ist nur fur den Bruchteil einer Sekunde sichtbar, ehe es dem nachsten Platz macht. Er befindet sich jetzt in einer Zwischenzone – irgendwo anders, aber nicht hier, nicht im SUV, nicht hinter dem Steuer, sondern mitten im Mob, in der Stadt der Untoten. Er arbeitet sich durch ihre Reihen, verschlingt Unmengen von Monstern. Was sie konnen, kann Philip schon lange. Er ist das schlimmste Monster von allen, und er wird es durch dieses Meer von Grauen schaffen, selbst wenn das gesamte Universum daran glauben muss.
Brian wei? genau, was passiert. Dazu muss er nicht erst die Augen offnen. Zehn qualende Minuten, nachdem sie angefangen haben, sich durch das Meer von Zombies zu kampfen – immerhin dreiundzwanzig Hauserblocks weiter –, gerat der Escalade ins Schlingern.
Die Zentripetalkraft druckt Brian noch tiefer zu Boden. Er schafft es erst wieder, sich aufzurichten und einen Blick uber den Vordersitz zu wagen, als der SUV seitwarts uber unzahlige Kadaver schlittert. Er hat keine Zeit, aufzuschreien, um die anderen zu warnen. Er kann sich und Penny lediglich so gut wie moglich festhalten und auf den unweigerlichen Aufprall warten.
Der Wagen, die Reifen schmierig vor Blut und Gewebe, dreht sich einmal um sich selbst. Das Heck befordert noch die letzten wandelnden Leichen in die Holle. Drau?en rast die Stadt an ihnen vorbei. Philip rei?t am Lenkrad und versucht den Wagen unter Kontrolle zu bekommen, aber die Reifen schlingern auf einem Meer von Eingeweiden, Blut und glitschigen Organen.
Brian schreit erneut auf, ehe ihm die Luft im Hals stecken bleibt, als das Auto auf eine Schaufensterfront zuschlittert.
Im Augenblick vor dem Aufprall erkennt Brian eine Reihe geborstener Schaufenster – Schaufensterpuppen ohne Perucke, leere Schmuckvitrinen, durchtrennte elektrische Kabel, die aus dem Boden ragen, alles hinter scharfen Scherben, in denen noch der Sicherheitsdraht steckt. Doch alles ist wie hinter einem Schleier, denn der Wagen schlittert derart heftig, dass Brian nichts deutlich erkennen kann.
Dann kracht der Escalade mit der rechten Seite zuerst in ein Schaufenster.
Der Aufprall lasst die Fensterscheibe in tausend Stucke bersten. Fur Brian bleibt die Zeit einen Moment lang stehen. Der Larm des explodierenden Glases erinnert an eine Flutwelle, die auf einen Wellenbrecher trifft. Der Escalade durchtrennt die Gitterstabe und verschwindet seitlich in dem dunklen Schatten von Goldberg Fine Jewelry Center of Atlanta.
Verkaufstische und Vitrinen detonieren, und eine funkelnde, silberne Schicht breitet sich im ganzen Laden aus, wahrend alle nach rechts geschleudert werden. Die Airbags des Escalade offnen sich bereits beim kleinsten Aufprall. Gro?e Ballons aus Nylon fullen den Innenraum. Nick wird seitlich gegen den wei?en Stoff gedruckt. Philip knallt gegen Nick, wahrend Penny mit voller Wucht gegen Brian geschleudert wird.
Der Escalade schlittert eine halbe Ewigkeit lang durch den leeren Laden.
Erst als er mit voller Wucht gegen einen tragenden Pfeiler in der Mitte des Geschafts prallt, kommt er zum Stehen. Die gesamte Mannschaft wird noch einmal mit voller Wucht in die Airbags gedruckt. Eine ganze Weile nach dem Aufschlag bewegt sich niemand.
Die Luft in dem Juwelierladen fullt sich mit einer wei?en feinen Substanz, die auf sie herabschneit. Ein Knarzen unterbricht die laute Stille. Etwas scheint jeden Moment einzusturzen. Brian wirft einen Blick durch die kaputte Heckscheibe auf die Ladenfront und entdeckt heruntergefallene Stahltrager, die das Loch versperren, wo einmal das Fenster war. Die Stra?e ist vor lauter Staub kaum auszumachen.
Philip dreht sich um, das Gesicht aschfahl und vor Panik ganz verzerrt. »Schatz? Schatz? Geht es dir gut? Sprich mit mir, Kleines. Wie geht es dir?«
Brian wendet sich Penny zu, die noch immer auf dem Boden liegt. Sie wirkt benebelt, als ob sie unter Schock stehen wurde, scheint aber sonst keinen Schaden genommen zu haben. »Es geht ihr gut, Philip. Es geht ihr gut«, versichert Brian seinem Bruder und tastet ihren Kopf nach Blut oder sonstigen Verletzungen ab. Doch er findet nichts Beunruhigendes.
»Wie sieht es mit euch aus?« Philip schaut sich im dichten Staub um. Nur ein dunner Sonnenstrahl erhellt den ansonsten dusteren Laden. In den sparlichen Lichtverhaltnissen kann Brian die Gesichter der anderen gerade so ausmachen. Sie sind verschwitzt und vor Angst wie versteinert. Ihre Augen funkeln panisch.
Nick hebt den Daumen. »Alles klar.«
Brian erklart, dass auch ihm nichts passiert sei.
Philip hat bereits die Fahrertur geoffnet und kampft sich unter dem Airbag ins Freie hinaus. »Nehmt alles mit, was ihr tragen konnt«, befiehlt er. »Am wichtigsten sind Gewehre und Munition. Verstanden?«
Klar haben sie ihn verstanden. Jetzt klettern auch Brian und Nick aus dem Wagen. Innerhalb einer Minute