Ein winziger Fehler, eine minimale Abweichung beim Steuern, und der Escalade gerat au?er Kontrolle und fangt zu schleudern an. Aber Philip lasst ihn nicht entgleisen. Die Hande am Steuerrad, den Fu? auf dem Gaspedal und die Augen auf das Display gerichtet schie?t der Wagen immer schneller dorthin zuruck, von wo sie gekommen sind. Der Motor kreischt. Plotzlich erkennt Philip etwas Neues auf dem Display.

»Mann … Mist! Schau mal!«

Das ist Brian. Seine Stimme durchdringt das Motorengerausch, aber Philip muss gar nicht erst hinsehen. Auf dem gelblich schimmernden Monitor sieht er eine Reihe dunkler Gestalten hinter ihnen auftauchen und sich an der obersten Stelle der Brucke wie ein Zaun aufstellen. Sie bewegen sich, wenn auch langsam und unkoordiniert, und strecken die Arme nach dem Wagen aus, der auf sie zuschie?t. Philip knurrt genervt.

Mit beiden Stiefeln steigt er auf das gro?e Bremspedal, und der Escalade kommt mit quietschenden Reifen auf der Auffahrt zur Brucke zum Stehen.

Wie auch die anderen realisiert Philip, dass sie nur noch eine Chance haben und – je mehr Zeit verstreicht – diese Chance immer kleiner wird. Die Untoten, die von vorne auf sie zu stolpern, sind noch knappe hundert Meter entfernt, wahrend die Horde hinter ihnen auf der Brucke, die immer weiter anschwillt, mit erstaunlicher Geschwindigkeit naher eilt. Im Seitenspiegel entdeckt Philip eine Lucke zwischen zwei umgesturzten Lastern, die einen Duchgang zum Memorial Drive ermoglicht. Das Problem ist nur, dass die Armee hinter ihnen diese Lucke gleich schlie?en wird.

In null Komma nichts trifft er eine Entscheidung und tritt erneut aufs Gaspedal.

Der Escalade schie?t nach hinten. Alle halten sich fest. Philip fahrt direkt auf die Scharen der schlurfenden Leichname zu. Auf dem Display kann er sehen, wie sie gierig die Arme ausstrecken, die Munder weit offen. Sie werden immer gro?er, je naher er ihnen kommt.

Als er das gelbliche Schild des Memorial Drive auf dem Monitor erkennt, tritt er erneut auf die Bremse.

Das Heck des Escalade trifft mehrere Untote. Es gibt ein widerliches, ekelerregendes Gerausch, wahrend Philip den Vorwartsgang des Automatikgetriebes einlegt, ehe er mit Vollgas davonbraust. Die Mannschaft wird in die Sessel gedruckt, als der SUV nach vorne prescht und Philip das Steuer scharf nach links rei?t, um durch die knappe Lucke zu kommen, die zwischen den beiden Lastern vor ihnen zu sehen ist.

Funken fliegen, als der SUV einen der umgesturzten Lkws rammt. Doch gleich darauf haben sie es geschafft und rasen den relativ freien und vor allem endlich zombielosen Memorial Drive hinunter.

Sie fahren sechs Hauserblocks entlang, schie?en uber Schienen und gelangen immer weiter ins Stadtinnere, ehe sie wieder vermehrt auf Zombies sto?en. Die Stra?en, die sich durch die Hauserschluchten schneiden, sind voller Trummer – Reste von Explosionen, ausgebrannte Autos mit verkohlten Leichen, zerborstene Fenster, Mull und Schutt, wo man nur hinblickt.

Philip nimmt eine von Suden nach Norden verlaufende Stra?e, die sie noch weiter ins Zentrum bringt. Aber als er rechts abbiegen will – sie rasen gerade um einen demolierten Lieferwagen, der mitten auf der Kreuzung liegengeblieben ist –, tritt er plotzlich auf die Bremse, sodass der Escalade abrupt anhalt.

Einen Augenblick lang stehen sie einfach da, der Motor im Leerlauf. Philip bewegt sich nicht. Seine Hande halten noch immer das Steuer fest. Er kneift die Augen zusammen und schielt zu den Schatten der Wolkenkratzer direkt vor ihnen.

Zuerst begreift Brian nicht, was los ist. Er reckt den Kopf, um einen Blick auf die mit Trummern uberhaufte Stra?e zu werfen, die sich uber viele Hauserblocks vor ihnen erstreckt. Durch die getonten Scheiben sieht er Wolkenkratzer links und rechts der vierspurigen Avenue. Mull wird vom Herbstwind hochgewirbelt und fegt durch die Hauserschlucht.

Nick ist ebenso ahnungslos. »Philip? Warum stehen wir mitten auf der Kreuzung?«

Philip antwortet nicht. Stattdessen starrt er schweigend nach vorn. Die Stille, die nun herrscht, wird nur von seinen knirschenden Zahnen unterbrochen.

»Philip?«

Keine Antwort.

Nick dreht sich zur Heckscheibe und starrt die Stra?e hinunter. Jetzt verandert sich auch sein Gesichtsausdruck. Er versteinert formlich. Er sieht, was Philip sieht, und schweigt ebenfalls.

»Was ist hier eigentlich los?«, fragt Brian und lehnt sich nach vorne, um besser sehen zu konnen. Einen Augenblick lang kann er nur die vor ihm liegende, mit Trummern ubersate Avenue ausmachen. Aber schon bald muss er feststellen, dass er eine verwustete Stadt vor Augen hat, die sich innerhalb von Sekundenbruchteilen wie ein gigantischer Organismus durch das Eindringen fremder Bakterien verandert. Das, was Brian durch die getonten Scheiben sieht, ist so grauenhaft, dass er zwar den Mund bewegt, aber keinen Ton herausbringt.

Wahrend dieses einen Augenblicks totaler Ohnmacht kehrt Brian Blake kurzfristig in Gedanken in seine Kindheit zuruck. Der Wahnsinn dessen, was er sieht, packt ihn. Einmal nahm seine Mutter ihn und Philip mit zum Zirkus Barnum & Bailey in Athens. Sie waren damals vielleicht zehn und dreizehn Jahre alt, und die Hochseilakte, die Tiger, die durch Reifen sprangen, die Manner, die aus Kanonen durch die Luft geschossen wurden, die Akrobaten, die Zuckerwatte, die Elefanten, die Nebenvorstellungen, der Schwertschlucker, die menschliche Zielscheibe, die Feuerschlucker, die Frauen mit Barten und der Schlangenbeschworer hatten es ihnen angetan. Doch das, woran sich Brians am besten erinnert und woran er auch jetzt wieder denken muss, ist das Auto mit den Clowns. An jenem Tag in Athens, mitten in der Vorstellung, fuhr ein merkwurdig aussehendes Gefahrt ins Zentrum der Manege. Es war eine Limousine mit bemalten Scheiben wie aus einem Trickfilm. Das Auto war tiefergelegt und mit einem Muster aus Leuchtfarben bemalt. Brian kann sich noch genau daran erinnern, wie er vor Lachen kaum an sich halten konnte, als sich die Clowns aus dem Auto kampften. Zuerst war es einfach nur lustig, doch dann musste er immer mehr staunen, bis es richtiggehend bizarr wurde. Denn es horte nicht auf. Immer wieder kam ein weiterer Clown aus dem Wagen. Sechs, acht, zehn, zwanzig, gro? und klein – alle kletterten aus dem Auto, als ob es sich um einen speziellen Container fur gefriergetrocknete Clowns handeln wurde. Selbst als Dreizehnjahriger war Brian vollig gebannt, obwohl er wusste, dass es ein Trick sein musste – wie eine Luke unter den Sagespanen, auf denen der Wagen geparkt war. Doch das spielte keine Rolle. Das Schauspiel, das sich ihm bot, faszinierte ihn unglaublich.

Genau das gleiche Phanomen – oder zumindest eine perverse Kopie – spielt sich jetzt erneut vor Brians Augen auf einer Stra?e mitten in der Innenstadt von Atlanta ab. Er starrt fassunglos auf die Szene und versucht vergebens, die richtigen Worte fur den Horror zu finden, der sich vor ihren Augen abspielt.

»Dreh um, Philip.« Brians Stimme klingt selbst fur ihn auffallend hohl, als er die Scharen der Untoten an jeder Ecke der Stadt aufwachen sieht. Wenn man die vorherige Horde auf ihrem Weg in die Stadt mit einer romischen Legion vergleichen konnte, dann war das hier ein ganzes Imperium.

So weit das Auge reicht, stromen Untote aus jedem Loch, jedem Gebaude, hinter jedem Auto hervor – aus Wracks, aus den Seitengassen, aus zerborstenen Schaufenstern, aus den marmornen Eingangen der Regierungsgebaude, hinter den dunnen Stammen ornamentaler Baumchen und aus den traurigen Resten zerbombter Stra?encafes. Man kann sie selbst in weiter Ferne erkennen, dort, wo die Stra?e im Schatten der Wolkenkratzer verschwindet. Ihre zerlumpten Silhouetten erinnern an einen riesigen Schwarm langsamer Insekten, die aufgeweckt wurden, weil man den Stein, unter dem sie lagen, wegnahm. Ihre gewaltige Anzahl scheint allen Regeln der Vernunft zu widersprechen.

»Nichts wie weg hier!«, presst Nick hervor.

Philip, stoisch und noch immer still, klammert sich weiterhin ans Lenkrad.

Nick wirft einen nervosen Blick nach hinten. »Wir mussen zuruck!«

»Er hat recht, Philip«, sagt Brian und legt eine Hand auf Pennys Schulter.

»Was hast du vor?«, fragt Nick und sieht Philip an. »Warum drehst du nicht um?«

Brian starrt auf den Nacken seines Bruders. »Philip, das sind zu viele. Viel zu viele.«

»Um Gottes willen, wir sind im Arsch … Wir sind im Arsch!«, stottert Nick, der von dem atemberaubenden Hindernis, das sich ihnen in den Weg stellt, wie gelahmt wirkt. Die Untoten sind kaum einen halben Hauserblock entfernt und scheinen wie die erste Welle eines Tsunamis zu sein. Es sind Buroangestellte, Manner und Frauen, noch immer in Nadelstreifenanzugen und Kostumen. Doch die Kleidung hangt nur noch in Fetzen von ihnen herab, als ob sie sich gegenseitig angebissen und durch Wagenschmiere gezogen hatten. Sie stolpern umher wie seltsam aufgebrachte Schlafwandler.

Hinter ihnen drangen sich einen Hauserblock nach dem anderen unzahlige weitere Zombies auf den Burgersteigen und der Stra?e. Falls es Sto?zeiten in der Holle gibt, dann konnen sie diesem Schauspiel ganz bestimmt nicht das Wasser reichen. Die dissonante Symphonie aus Jammern und Stohnen Hunderttausender

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