Ein abgetrenntes Ohr hangt an der Windschutzscheibe, und Philip schaltet die Scheibenwischer ein.
Sie erreichen das nordliche Ende der Maynard Terrace. Die Autobahnzufahrt liegt direkt vor ihnen. Philip tritt auf die Bremse, und der Escalade kommt mit quietschenden Reifen vor einer Massenkarambolage mit sechs Autos zum Stehen. Eine Traube Untote umkreist die Unfallstelle wie Aasgeier ihre Beute.
Philip legt den Ruckwartsgang ein und fahrt wieder los. Die Rockmusik donnert weiterhin aus den Lautsprechern. Die plotzliche Beschleunigung rei?t alle aus den Sitzen, und Brian druckt Penny zuruck auf die Bank.
Ein geschicktes Manover, und der Wagen dreht sich um hundertachtzig Grad, ehe Philip ihn die McPherson Avenue hinunterjagt, die parallel zur Interstate verlauft.
Sie legen eineinhalb Kilometer durch eine Wohngegend in weniger als zwei Minuten zuruck, wahrend die Schlagzeugeinlagen und der Bass der Musik synkopierte Akzente zu dem schrecklichen Aufprallen umherwandernder Zombies liefert, die zu langsam sind, um Philip auszuweichen. Zuerst knallen sie mit voller Wucht auf die Kotflugel und fliegen dann wie panisch flatternde Riesenvogel durch die Luft. Immer mehr Untote tauchen aus den Schatten auf und kommen hinter Baumen hervor. Offensichtlich hat sie das Brummen des V8-Motors aus ihrem tranceartigen Schlummer geweckt.
Philip bei?t die Zahne mit grimmiger Entschlossenheit zusammen, als sie sich einer weiteren Auffahrt zum Highway nahern.
Nachdem er die Faith Avenue erreicht hat, tritt er erneut auf die Bremse. Ein Burger Win steht in Flammen, und die ganze Gegend ist in einen nach altem Fett riechenden Nebel getaucht. Die Auffahrt ist noch dichter zugestopft als die zuvor. Philip unterdruckt nur muhsam einen Fluch, legt den Ruckwartsgang ein und tritt wieder aufs Gas.
Der Escalade biegt in eine Nebenstra?e ein. Philip rei?t das Steuer herum und wird schneller. Die Reifen quietschen und qualmen. Erneut schie?en sie Richtung Westen, weichen zahlreichen Stra?ensperren aus und halten stets auf die Skyline von Atlanta in der Ferne zu, die gro?er und gro?er wie eine Geistererscheinung am Horizont in den Himmel ragt.
Immer mehr Stra?en sind blockiert. Die Trummer, Autowracks und umherirrenden Untoten scheinen unuberwindbar zu sein. Aber Philip Blake lasst sich nicht so leicht unterkriegen. Angespannt sitzt er hinter dem Lenkrad und atmet schwer. Die Augen halt er auf den Horizont gerichtet. Sie rasen an einem Publix- Lebensmittelladen vorbei, der so aussieht, als ob er in einem Blitzkrieg zerbombt worden ware. Der Parkplatz ist voller umherirrender Zombies.
Philip druckt noch mehr auf die Tube, um heil durch eine Reihe von Monstern auf der Stra?e zu kommen.
Die Welle von Blut und Gewebe, die sich uber die Motorhaube des SUV ergie?t, ist geradezu spektakular – eine schreckliche Ansammlung zerstorter Menschenmasse. Die Scheibenwischer schieben die Uberreste schnarrend beiseite.
Brian wendet sich an seine Nichte. »Kleine?« Keine Antwort. »Penny?«
Aber das Kind starrt regungslos auf das Schauspiel auf der Windschutzscheibe. Sie scheint Brian im Larm der Rockmusik und der Motorengerausche nicht wahrzunehmen. Oder sie will ihn nicht horen. Oder es ist ihr alles zu viel geworden, und sie kann nichts mehr in sich aufnehmen.
Brian klopft ihr sanft auf die Schulter. Plotzlich ist sie wieder im Hier und Jetzt und schaut ihn an.
Da lehnt sich Brian uber sie hinweg und schreibt mit dem Zeigefinger ein Wort auf die feuchte Fensterscheibe:
WEG
Er erinnert sich vage daran, irgendwo gelesen zu haben, dass etwa sechs Millionen Menschen im Gro?raum Atlanta leben. Er wei? noch, wie sehr ihn diese Zahl uberrascht hat. Brian hat Atlanta schon immer als eine Art Minimetropole betrachtet, eine Vorzeigestadt des sudlichen Fortschritts, die sich in einem Meer von verschlafenen Nestern befindet. Bei den wenigen Malen, die er in Atlanta gewesen war, hatte er den Eindruck, die Stadt sei eine einzige Ansammlung von Vororten. Klar, auch Atlanta hat eine gewisse Anzahl von Wolkenkratzern im Zentrum – fur Firmen wie Turner, Coca Cola, Delta, Falcons und ahnliche. Aber die Stadt kam ihm immer wie eine kleine Schwester der gro?en Stadte im Norden vor. Brian war einmal in New York gewesen, um die Familie seiner Ex zu besuchen, und der gewaltige, schmutzige, klaustrophobisch wirkende Ameisenhaufen war ihm wie eine echte Stadt erschienen, wahrend Atlanta lediglich ein Abziehbild zu sein schien. Vielleicht lag das an der Geschichte der Stadt. Brian beschaftigte sich am College damit: Nachdem Sherman sie in Schutt und Asche gelegt hatte, entschieden sich die Verantwortlichen beim Wiederaufbau dafur, die alten historischen Wahrzeichen verschwinden zu lassen. In den folgenden hundertfunfzig Jahren wurde Atlanta mit Stahl und Glas aufgetakelt. Im Gegensatz zu anderen Stadten der Sudstaaten wie Savannah oder New Orleans, wo das Flair des alten Sudens noch prasent ist, hat sich Atlanta den langweiligen Fassaden des modernen Expressionismus verschrieben. Schau nur, scheinen sie zu sagen, wir sind so progressiv, wir sind so kosmopolitisch, wir sind so cool – nicht wie diese Landeier in Birmingham. Doch fur Brian wirkt Lady Atlanta immer uberkandidelt. Fur ihn hat Atlanta immer mehr so getan als ob.
Bis jetzt.
Wahrend der kommenden funfundzwanzig Minuten, die sich Philip im Zickzackkurs durch die desolaten Stra?en und Parkplatze kampft, um parallel mit der Interstate zu bleiben und sich doch stetig dem Zentrum der Stadt zu nahern, betrachtet Brian durch die getonten Scheiben des SUV das echte Atlanta wie einen flimmernden Diavortrag forensischer Fotos eines Tatorts. Er starrt auf Sackgassen voller Mull und Unrat, auf brennende Abfallberge, geplunderte Sozialwohnungen, eingeschlagene Fensterscheiben, schmutzige Laken, die aus Gebauden hangen, auf die verzweifelte Hilferufe geschmiert sind. Das hier ist wirklich eine Stadt – eine urzeitliche Totenstadt – ubervolkert und nach Tod stinkend. Und das Schlimmste ist, dass sie noch nicht einmal bis zum Zentrum vorgedrungen sind.
Um 10.22 Uhr findet Philip Blake die Capital Avenue, eine breite, sechsspurige Stra?e, die sich am Turner- Field-Baseballstadion vorbeiwindet, ehe sie in die Stadtmitte fuhrt. Er macht die Stereoanlage aus. Die Stille drohnt jetzt in ihren Ohren, als sie auf die Capital Avenue einbiegen und langsam nach Norden fahren.
Die Stra?e ist mit zuruckgelassenen Autos ubersat, die aber weit genug auseinanderstehen, sodass Philip den Escalade sicher hindurchlenken kann. Die Spitzen der Wolkenkratzer zu ihrer Linken sind so nahe, dass sie im Dunst wie Gro?segel von Rettungsschiffen leuchten.
Niemand sagt ein Wort, wahrend sie an einem Betonklotz nach dem anderen vorbeirollen. Der Parkplatz des Baseballstadions ist weitgehend leer. Hier und da liegen einige umgesturzte Golfmobile herum. Wagen von Eis- und Hamburgerverkaufern stehen verlassen und mit Graffiti verschmiert in den Ecken des Parkplatzes. Vereinzelte Tote wandeln in der Ferne durch das kalte herbstliche Licht.
Sie gleichen streunenden Wolfen, die sich vor Hunger kaum noch auf den Beinen halten konnen.
Philip fahrt das Fenster herunter und lauscht. Der Wind pfeift. Es riecht merkwurdig – eine Mischung aus verbranntem Gummi, geschmolzenen Schaltkreisen und irgendetwas Oligem, etwas wie fauliger Talg. Von weit weg dringt ein Knattern und Tuckern zu ihnen, das die Luft wie ein gewaltiger Motor vibrieren lasst.
Brians Magen dreht sich beinahe um, als bei ihm der Groschen fallt: Wenn die Fluchtlingscamps irgendwo im Osten liegen, irgendwo in den Eingeweiden der Stadt, sollte es dann nicht hier bereits Streifenwagen und Einsatzfahrzeuge geben? Schilder? Kontrollpunkte? Bewaffnete Soldaten oder Polizisten? Polzeihubschrauber? Gabe es nicht irgendeinen Hinweis darauf, dass sie Hilfe erwarten konnen? Doch wahrend ihrer ganzen Fahrt in die Stadt sahen sie lediglich wenige unklare Hinweise, dass es noch anderes Leben geben konnte. In der Glenwood Avenue glaubten sie, dass ein Motorrad an ihnen vorbeigerauscht ware, aber ganz sicher waren sie sich nicht. Spater in der Sydney Street behauptete Nick, dass er jemanden gesehen hat, der von Tur zu Tur rannte, aber beschworen wollte er es nicht.
Brian verdrangt die negativen Gedanken, als er das gewaltige Gewirr von Autobahnkreuzen und Abzweigungen in Form eines Kleeblatts gute funfhundert Meter vor sich liegen sieht.
Die riesige betonierte Flache fuhrt die Hauptverkehrsadern Atlantas zusammen und markiert das ostliche Ende der Innenstadt. Hier treffen die Interstates 20, 85, 75 und 403 aufeinander. Jetzt brennt die fahle Sonne auf das Schlachtfeld, das mit Autowracks und umgekippten Kombis verstopft ist. Brian merkt, wie sich der Escalade eine steile Brucke hocharbeitet.
Capital Avenue thront auf riesigen Pfeilern uber den Autobahnkreuzen. Philip geht vom Gas und schlangelt sich mit nicht einmal funfundzwanzig Stundenkilometern durch die herumliegenden Wracks.
Brian spurt, dass etwas seine linke Schulter beruhrt. Es ist Penny, die ihn auf etwas aufmerksam machen