will. Er dreht sich um und blickt sie fragend an.
Sie lehnt sich zu ihm hin und flustert ihm etwas zu. Es klingt wie: »Ich muss sein machen.«
Brian ist verdutzt. »Du musst sein machen?«
Sie schuttelt den Kopf und flustert es erneut.
Jetzt versteht Brian sie. »Ach so! Klein. Geht es noch eine Minute, Penny?«
Philip horcht auf und wirft den beiden einen Blick uber den Ruckspiegel zu. »Was ist los?«
»Sie muss mal.«
»Ach du meine Gute«, stohnt Philip. »Tut mir leid, Schatz, aber das geht jetzt ganz schlecht. Halte bitte noch etwas durch, ja?«
Penny flustert Brian zu, dass sie wirklich dringend mal muss.
»Philip, entweder jetzt oder es ist zu spat«, informiert Brian seinen Bruder.
»Versuch es dir zu verkneifen, Schatz.«
Sie kommen an den Scheitelpunkt der Brucke. Nachts, wenn man auf der Capital Avenue uber Atlanta steht, muss der Anblick der Stadt majestatisch sein. In etwa hundert Metern wird der Escalade aus dem Schatten eines gro?en Gebaudes tauchen. Nachts leuchten die angestrahlten Gebaude der Stadt auf und geben ein atemberaubendes Panorama mit der Kuppel des Kapitols im Vordergrund ab, eingerahmt von der funkelnden Kathedrale aus Wolkenkratzern.
Dann tauchen sie aus dem Schatten des Gebaudes auf und erblicken die vor ihnen liegende Stadt in ihrer ganzen Pracht. Philip macht eine Vollbremsung.
Der Escalade kommt abrupt zum Stehen.
Einen unendlich langen Augenblick sitzen sie wie gelahmt da.
Die linke Stra?e fuhrt an der marmornen Fassade des altehrwurdigen Kapitols vorbei. Es ist eine Einbahnstra?e, die mit verlassenen Autos vollgestopft ist. Doch deshalb sind sie nicht wie vom Blitz getroffen. Es ist vielmehr das, was auf der Capitol Avenue von Norden her auf sie zukommt.
Penny macht in die Hose.
Das Empfangskomitee, zahlreich wie eine romische Armee und planlos wie eine Herde gigantischer Arachnoiden, stolpert vom Martin Luther King Drive auf sie zu. Es ist noch einen guten Hauserblock entfernt. Die Zombies kommen aus dem Schatten der Regierungsgebaude. Es sind so viele, dass es eine Weile dauert, bis die vier das wahre Ausma? wahrzunehmen vermogen. Jedes Stadium der Verwesung ist vertreten. Sie kriechen aus Hausern, Turen, Fenstern, Gassen, begrunten Parks – aus allen Ecken und Winkeln. Die gesamte Stra?e ist uberfullt. Die Welle rollt wie ein durchgedrehter Spielzeugzug auf sie zu, angelockt von dem Gerausch des Autos, dem Geruch und der Tatsache, dass Frischfleisch auf sie wartet.
Alt und Jung, Schwarz und Wei?, Manner und Frauen, ehemalige Geschaftsleute, Hausfrauen, Beamte, Zuhalter, Kinder, Verbrecher, Lehrer, Anwalte, Krankenpfleger, Polizisten, Mullmanner und Prostituierte. Jedes Gesicht faulig und zersetzt – wie die in der Sonne verrottenden Fruchte einer Obstplantage. Tausende von leblosen, metallisch wirkenden Augen richten sich wie eine Einheit auf den Escalade, Tausende von wild gewordenen Ortungssystemen aus der Urzeit starren hungrig auf die Neuankommlinge.
Wahrend dieses Augenblicks des totalen Horrors und der Stille wird Philip blitzschnell einiges klar.
Er merkt, dass der verraterische Gestank der Horde durch das offene Fenster, vielleicht sogar durch das Ventilationssystem der Klimaanlage eindringt – dieser widerliche, nach ranzigem Speck und Schei?e stinkende Geruch. Schlimmer noch: Er merkt, dass das merkwurdige Gerausch, das dumpfe Drohnen, das sie zuvor gehort haben, als er das Fenster herunterlie? – das vibrierende Surren in der Luft, als ob eine Million Hochspannungsleitungen unter voller Belastung stunden –, das Gerausch einer Stadt voller Toter gewesen ist.
Ihr kollektives Gestohne, wie sie jetzt gleich einem einzigen gigantischen Lebewesen auf den Escalade zustromen, lasst Philip erschauern.
Das alles bringt Philip Blake zu einer Erkenntnis, die ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers trifft. Bei dem Anblick der beinahe traumerisch langsamen Bewegungen der Zombies fallt bei ihm der Groschen: Ihr Vorhaben, ein Fluchtlingscamp in dieser Stadt aufzusuchen, scheint auf einmal so vernunftig zu sein, wie beispielsweise eine Stecknadel in einer Kloake zu suchen.
In diesem Sekundenbruchteil des Horrors, in diesem Moment eingefrorener Stille wei? Philip, dass morgen wohl kaum die Sonne aufgehen wird, die Waisenkinder Waisenkinder bleiben und die Guten diesmal nicht gewinnen.
Ehe er am Schalthebel rei?t, wendet er sich zu den anderen um und verkundet mit einer Stimme, die voll Bitterkeit klingt. »Alle, die noch immer das Fluchtlingslager suchen wollen, heben die Hand.«
TEIL 2
Atlanta
Wer mit Ungeheuern kampft,
mag zusehen, dass er nicht dabei
zum Ungeheuer wird.
Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Neun
Wenige Autos – zumindest die aus den USA – fahren schnell ruckwarts. Zuallererst ist da das Problem mit der Umsetzung. Die meisten Wagen, die von der Fertigungsstra?e rollen, ganz gleich ob Van, SUV, Kombi oder Sportler, sind mit funf oder sechs Vorwartsgangen, aber nur einem Ruckwartsgang ausgestattet. Zweitens ist die Federung einzig und allein auf das Vorwarts- und nicht das Ruckwartsfahren ausgerichtet. Das bedeutet, dass es dem Fahrer unmoglich gemacht wird, mit Geschwindigkeit ruckwartszupreschen. Und drittens muss man beim Ruckwartsfahren uber die Schulter schauen und gleichzeitig lenken. Sollte man es trotzdem schaffen, mit Schwung nach hinten zu fahren, so endet dies meistens mit spektakularen Missgeschicken.
Der Schlitten, den Philip Blake fahrt, ist ein Platinum Cadillac Escalade aus dem Jahre 2011 mit Allradantrieb und fein ausgeklugelten Torsionsfedern, sodass der Meistermechaniker Calvin R. Donlevy aus der Greencove Lane so ziemlich alles offroad unternehmen konnte, was das Hinterland von Mittel-Georgia in glucklicheren Zeiten zu bieten hatte. Das Auto wiegt knappe vier Tonnen, ist uber funf Meter lang und ruhmt sich eines sogenannten StabiliTrak, eines elektronischen Stabilitatssystems, dem Standard fur alle Platinum-Modelle. Am coolsten aber ist die Tatsache, dass es mit einer Kamera zum Ruckwartsfahren ausgestattet ist. Das Bild wird auf einem relativ gro?en Display wiedergegeben, das in das Armaturenbrett eingebaut ist.
Ohne zu zogern – sein Nervensystem scheint direkt mit seiner rechten Hand verbunden zu sein –, wirft Philip den Ruckwartsgang ein und starrt auf das gelb flackernde Bild auf dem Display vor seinen Augen. Er sieht einen teilbewolkten Himmel uber dem Horizont aus Beton hinter ihnen: der Scheitelpunkt der Brucke.
Ehe das immer naher ruckende Bataillon von Zombies bis auf funfzig Meter an sie herankommt, schie?t der Escalade ruckwarts.
Die Insassen werden beinahe aus den Sitzen gerissen. Brian und Nick schaffen es dennoch, sich umzudrehen, um einen Blick auf die Brucke durch die Heckscheibe zu werfen. Das Auto droht zu schleudern, fangt sich aber wieder und wird noch schneller. Philips Bleifu? lasst den Motor aufheulen. Aber er dreht sich nicht um, sondern richtet die Augen auf das Display, auf dem die Brucke immer gro?er wird.