zukommt. Seine Augen funkeln, und er zieht seinen Sauerstofftank hektisch hinter sich her. Brian geht auf ihn zu. »Mr. Chalmers. Haben Sie sich allein den ganzen Weg hierherbemuht?«

Der alte Mann schnauft schwer, als er naher kommt. Sein keuchendes, rasselndes Atmen macht ihn fast unverstandlich. »Ich bin vielleicht krank, aber nicht hilflos … Und du kannst mich ruhig David nennen. Ich habe gesehen, wie ihr die Stockwerke aufgeraumt habt. Alles schon sauber. Dafur danke ich euch – wirklich.«

Philip und Nick drehen sich zu David Chalmers um. »Gibt es ein Problem?«, fragt Philip.

»Und was fur eines!«, bejaht der alte Mann, und seine Augen funkeln vor Wut. »Was zum Teufel denkt ihr euch dabei, einfach die Toten hinunterzuschmei?en? Damit schneidet ihr euch doch nur euren Fluchtweg ab!«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Der alte Mann grunzt frustriert. »Seid ihr taub oder was? Konnt ihr das nicht horen?«

»Was horen?«

David schlurft bis zum Dachrand. »Uberzeugt euch selbst.« Mit einem knochigen Finger deutet er auf zwei ferne Gebaude. »Seht ihr jetzt, was ihr angestellt habt?«

Philip starrt Richtung Norden. Plotzlich trifft es ihn wie ein Schlag. Er hat schon eine ganze Viertelstunde lang dieses infernalische Gerausch von tausendundeinem Stohnen gehort. Jetzt wei? er, warum. Legionen von Zombies ziehen auf sie zu, angezogen von dem Larm und dem Spektakel, das er und Nick seit geraumer Zeit veranstaltet haben.

Noch sind sie zehn, vielleicht zwanzig Hauserblocks entfernt. Aber sie kommen mit der Sicherheit eines Blutgerinnsels, das durch die Arterien gespult wird. Fur einen Moment kann Philip die Augen nicht von dem grausamen Schauspiel abwenden.

Sie wanken aus allen Richtungen auf sie zu. Sie sickern aus den Schatten, erscheinen aus Gassen, verstopfen die Hauptverkehrswege, treffen und vermehren sich an jeder Kreuzung wie eine gewaltige Amobe, die an Gro?e und Kraft standig zunimmt, unaufhaltsam durch die Prasenz von Menschen in ihrer Mitte angelockt. Philip schafft es endlich, die Augen abzuwenden und klopft dem alten Mann auf die Schulter. »Unser Fehler, David … Unser Fehler.«

Abends essen sie zusammen und geben sich Muhe, alles ganz normal wirken zu lassen. Aber das nicht enden wollende Kratzen, das von drau?en ertont, totet jedes aufkommende Gesprach sofort wieder ab. Die Gerausche sind ein andauernder Beweis ihrer Exilexistenz, der todlichen Gefahr, die auf der anderen Seite der Wand auf sie lauert, ihrer Isolation. Sie erzahlen sich ihre Lebensgeschichten und versuchen, das Beste aus dem Abend zu machen. Doch die furchterlichen Gerausche lassen niemanden wirklich entspannen.

Angesichts der Tatsache, dass es siebzehn weitere Wohnungen im Haus gibt, hatten sie sich eine gro?e Beute aus den oberen Stockwerken erhofft. Aber sie fanden lediglich Essen wie Musli und Spaghetti, vielleicht ein halbes Dutzend Konservensuppen, einen Haufen alter Kracker und die eine oder andere Flasche billigen Wein.

Seit Wochen steht das Gebaude leer, ist ohne Strom und von Untoten heimgesucht. Das Essen ist dementsprechend schon lange schlecht geworden. In den meisten Kuhlschranken fanden sie Maden, und selbst Bettwasche und Kleider waren von Schimmel befallen und stanken nach Zombies. Vielleicht hatten die Leute auch das Notigste mitgenommen, als sie flohen. Vielleicht rafften sie Wasserflaschen, Batterien, Taschenlampen, Streichholzer und Waffen zusammen, um gewappnet zu sein – fur oder gegen was auch immer.

Doch die Medizinschranke sind nicht geplundert. Tara hat im Handumdrehen eine Ansammlung aus Pillen und Tabletten zusammengesucht – von Antidepressiva bis zu Aufputschmitteln, Blutdruckmitteln, Diatpillen, Beta- Blockern, Beruhigungstabletten und Cholesterin-Blockern. Au?erdem sto?t sie auf ein paar Flaschen Bronchodilatator, die genau das Richtige fur ihren Vater sind. Philip amusiert es, wie Tara eine fadenscheinigen Ausrede nach der anderen entwickelt und sich um das Wohlbefinden der anderen besorgt gibt, obwohl er sich absolut sicher ist, dass Tara nur eines im Sinn hat: Sie sucht alles, was sie irgendwie high machen konnte. Aber kann man ihr das ankreiden? In der Situation, in der sie sich befinden, ist pharmazeutische Hilfe genauso gut oder schlecht wie alles andere.

Philip hat die Chalmers-Familie schon am zweiten Abend ins Herz geschlossen – trotz des konstanten Drohnens, das von drau?en unentwegt an ihre Ohren dringt. Er mag sie einfach. Er mag ihren Stil, der unkompliziert und bodenstandig wie er ist. Er mag ihren Mut, und au?erdem gefallt es ihm, andere Uberlebende um sich zu haben. Auch Nick scheint neue Kraft getankt zu haben, und Penny spricht sogar. Das erste Mal seit Wochen sind ihre Augen wieder klar. Die Gegenwart von zwei Frauen tut seiner Tochter gut – soweit Philip das beurteilen kann.

Selbst Brian, dessen Erkaltung so gut wie uberstanden ist, scheint starker und selbstbewusster zu sein. Philip glaubt zwar, dass er noch einen weiten Weg vor sich hat, aber die Moglichkeit einer Art Gemeinschaft, ganz gleich wie klein und provisorisch diese auch sein mag, starkt ihm offensichtlich ebenfalls den Rucken.

Am nachsten Tag entwickeln sie rasch einen Plan. Philip und Nick beobachten die Zombies vom Dach des Gebaudes aus, wahrend Brian die Schwachstellen im Parterre im Auge behalt – die Fenster, die Notausgange, den Innenhof und den Eingangsbereich. Penny spielt mit den Chalmers-Tochtern, und David sitzt allein auf seinem Schaukelstuhl. Er kampft so gut er kann gegen seine Lungenerkrankung. Zwischen zwei Nickerchen nimmt er seinen Sauerstofftank und stattet den Neuankommlingen so oft wie moglich einen Besuch ab.

Am Nachmittag macht sich Nick an einem behelfsma?igen Laufsteg zu schaffen, der sie vom Dach ihres Gebaudes zum nachsten bringen soll. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, dass sie sich auf diese Art bis zu der Fu?gangerbrucke an der Kreuzung vorarbeiten konnen, ohne auch nur einen Fu? auf den Boden zu setzen. Philip halt das Ganze fur eine Schnapsidee, hat aber nichts dagegen, dass Nick seine Zeit verschwendet.

Dieser ist fest davon uberzeugt, dass sein Plan ihren einzigen Ausweg, den Schlussel zum Uberleben darstellt – vor allem, da ihr Proviant nicht ewig reichen wird, wie jeder von ihnen genau wei?. Das spiegelt sich in jedem Gesicht wider, das einmal kurz in die Kuche schaut. Au?erdem gibt es kein flie?endes Wasser mehr. Doch die Tatsache, dass sie ihre Ausscheidungen im Eimer vom Badezimmer zum Hinterzimmer tragen mussen, um sie dann in den Hinterhof zu werfen, stort sie allerdings noch am wenigsten. Viel schlimmer ist, dass ihnen langsam das Wasser ausgeht.

Nach dem Abendessen, kurz nach zwanzig Uhr, verstummt das Gesprach angesichts der unheimlichen Kratzgerausche, die von drau?en zu ihnen dringen. Plotzlich hat Philip eine Idee. »Warum spielt ihr nicht etwas fur uns?«, schlagt er vor. »Dann mussen wir uns wenigstens diesen Larm von drau?en nicht mehr anhoren.«

»He«, stimmt Brian mit ein. »Das ist eine Superidee!«

»Uns fehlt ein bisschen die Ubung«, erklart der alte Mann in seinem Schaukelstuhl. Er macht einen muden, abgespannten Eindruck. Seine Krankheit macht ihm sichtbar zu schaffen. »Ehrlich gesagt haben wir kein Instrument mehr in Handen gehabt, seitdem das alles hier angefangen hat.«

»Feigling«, spottet Tara, die es sich auf der Couch bequem gemacht hat und gerade etwas aus den letzten Tabakbroseln, Samen und Stangeln bastelt.

»Los, Daddy«, fordert April David auf. »Wir konnten ›The Old Rugged Cross‹ versuchen.«

»Quatsch. Die wollen doch kein religioses Gesulze horen. Insbesondere nicht jetzt.«

Tara hievt bereits ihren nicht unbetrachtlichen Korperumfang durch das Wohnzimmer zu dem Koffer, in dem sich ihr Bass befindet. In ihrem Mundwinkel steckt der behelfsma?ige Joint. »Daddy, sag, was wir spielen, und ich schaue, was ich auf dem Bass zusammenbekomme.«

»Ach, was soll’s? Kann ja nicht schaden«, meint David Chalmers schlie?lich und rappelt sich auf.

Die Chalmers holen ihre Instrumente aus den Koffern und stimmen sie. Als sie so weit sind, stellen sie sich nebeneinander auf. Sie wirken ungefahr so entschlossen wie eine Einheit der Marines. April ist vorne an der Gitarre, wahrend David und Tara seitlich etwas weiter hinten mit Bass und Mandoline stehen. Philip kann sich gut vorstellen, wie sie auf der Buhne der Grand Ole Opry stehen. Er sieht, wie Brian die Atmosphare in sich aufsaugt und es sichtlich genie?t. Wenn sich Brian Blake mit etwas auskennt, dann mit Musik. Philip hat seinen Bruder schon immer wegen seiner Kenntnisse bewundert, und er ist sich sicher, dass er jetzt geradezu im siebten Himmel ist, da er endlich wieder Musik horen darf.

Die drei fangen zu spielen an.

Philip wird ganz ruhig.

Es kommt ihm so vor, als ob sein Herz plotzlich mit Helium gefullt wurde.

Es liegt nicht nur an der schlichten und unerwarteten Schonheit der Musik – die erste Nummer ist ein wunderbarer irischer Volkstanz mit einer traurigen, kraftigen Bassstimme und einem energischen Gitarrenriff, der an einen hundert Jahre alten Leierkasten erinnert. Es ist auch nicht die su?e kleine Penny, die anscheinend von dem Lied ergriffen ist und mit einem vollig vertraumten Ausdruck auf dem Boden sitzt. Es hat auch nichts mit der einfachen, aber doch zarten Melodie zu tun, die angesichts der ganzen Schrecklichkeiten, die um sie herum

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