Sie schleicht nach drau?en. Der Wind weht ihr um die Nase, und der Gestank lasst sie beinahe wurgen. Als sie uber die Stra?e rennt, halt sie sich geduckt, um moglichst keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Die plotzliche Reizuberflutung – der Gestank, die Nahe der Horde um die Ecke und das wilde Pochen ihres Herzens – droht einen Augenblick lang, sie abzulenken. In Windeseile kampft sie sich von einer dusteren Ladenfront zur anderen vor. Zum Gluck kennt sie sich hier einigerma?en aus und findet bald den Lebensmittelladen.
Wenn man es genau nimmt, brauchte April Chalmers elf Minuten und dreiunddrei?ig Sekunden, um sich durch die Eingangstur zu zwangen, den verkommenen Laden zu betreten und alles Notige zu erledigen. Nur elfeinhalb Minuten, um eineinhalb gro?e Taschen mit genugend Essen, Trinken und sonstigen Dingen zu fullen, damit sie, ihre Familie und die Neuankommlinge wieder eine Weile Ruhe haben wurden.
Aber fur April Chalmers fuhlt es sich nicht wie elfeinhalb Minuten, sondern wie eine halbe Ewigkeit an.
Sie schnappt sich zehn Kilo Lebensmittel, zehn Liter gefiltertes Wasser, drei Schachteln rote Marlboros, Feuerzeuge, Beef-Jerky, Vitamintabletten, Hustensaft und Medikamente gegen Erkaltung, antibakterielle Salben und sechs Rollen Klopapier. All das befordert sie mit unglaublicher Geschwindigkeit in die bereitgestellten Taschen.
Das Ticken der Uhr begleitet sie standig. Sie spurt es formlich im Nacken. Schon bald wird sich die Stra?e wieder mit Kreaturen fullen. Die Bei?er werden ihr garantiert den Weg abschneiden, wenn sie sich nicht innerhalb weniger Minuten auf den Ruckweg macht.
Philip verballert ein weiteres halbes Magazin seiner Kugeln, wahrend er sich zur Ruckseite des Gebaudes zuruckkampft. Der Gro?teil der Bei?er hat sich jetzt um die brennenden Uberreste des Malibu versammelt. Sie gleichen einem Schwarm Insekten, der vom Licht angezogen wird. Philip raumt den Weg zum Innenhof frei, indem er nur zweimal abdruckt. Der erste Schuss lasst den Schadel eines Zombies in einem Jogging-Anzug explodieren, sodass er wie eine Marionette, deren Faden abgeschnitten wurden, zu Boden sturzt. Der zweite Schuss grabt eine Furche in den Kopf einer ehemaligen Obdachlosen. Ihre aufgedunsenen Augen flackern noch einmal auf, ehe auch sie leblos in sich zusammensackt.
Bevor die anderen Bei?er eine Chance haben, sich auf ihn zu sturzen, springt er uber den Zaun in den Innenhof und sprintet uber das braune Gras.
Er klettert auf ein Vordach, von wo aus eine weitere Feuerleiter circa eineinhalb Meter uber ihm an der wei? verputzten Mauer lockt. Philip greift nach einer Sprosse und klettert die Leiter hoch.
Plotzlich aber halt er inne. War der Plan vielleicht doch nicht so gut wie gedacht?
April befindet sich jetzt kurz vor dem kritischen Punkt ihrer Mission. Mittlerweile sind knapp zwolf Minuten vergangen, seitdem sie aus der Haustur geeilt ist, aber sie riskiert es trotzdem, noch einem anderen Laden einen Besuch abzustatten.
Einen halben Hauserblock weiter sudlich wartet ein Ace Hardware Store auf sie. Das Schaufenster ist wie alle anderen eingeschlagen und leer geraumt, aber die Eisenstabe sind weit genug auseinandergebogen, sodass sich eine schmale Frau wie April hindurchzwangen kann. Kurz darauf steht sie in der dusteren Eisenwarenhandlung und schaut sich um.
Sie fullt die zweite Tasche bis oben mit Wasserfiltern, um das Wasser der Toiletten und Spulkasten reinigen und trinken zu konnen, einer Schachtel Nagel, denn die alten wurden fur die Barrikaden verwendet, Filzstiften und gro?en Rollen Papier, fur Schilder, um etwaige andere Uberlebende auf sich aufmerksam zu machen, Gluhbirnen, Batterien, einigen Flaschen Spiritus und drei kleinen Taschenlampen.
Als sie zuruck in Richtung Schaufenster eilt – die Taschen wiegen jetzt weit uber zwanzig Kilo –, kommt sie an etwas vorbei, das auf dem Boden neben einigen Rollen Isoliermaterial liegt und nach einem Menschen aussieht.
April halt inne. Das tote Madchen auf dem Boden hat nur ein Bein. Es ist zusammengekauert und lehnt mit dem Rucken an der Wand. Die Spuren aus Blut und Gewebe deuten darauf hin, dass sich das Geschopf bis hierher geschleppt hat. Die Untote ist nicht viel alter als Penny. April kann sich nicht von ihr abwenden.
Ihr ist klar, dass sie sich so schnell wie moglich auf den Weg machen muss. Aber sie vermag sich nicht von der erbarmlichen, zerstuckelten Leiche abzuwenden, die in ihrem eigenen Blut sitzt. Es kommt offensichtlich aus dem schwarzen Stumpen, der einmal ein Bein gewesen ist.
»Um Gottes willen! Ich kann es nicht«, flustert April. Sie ist sich nicht sicher, was sie damit eigentlich meint: die Kreatur erlosen oder sie bis in alle Ewigkeit in dieser verlassenen Eisenwarenhandlung schmoren lassen.
April zieht den Baseballschlager aus dem Gurtel und stellt die Taschen ab. Vorsichtig nahert sie sich dem Madchen. Die Tote auf dem Boden bewegt sich kaum …
»Es tut mir leid«, flustert April und versenkt den Baseballschlager im Schadel des Madchens. Der Schlag wird von einem feuchten Gerausch begleitet, das an brechendes Holz erinnert.
Der Zombie gleitet lautlos ganz zu Boden. April steht da, schlie?t fur einen Moment die Augen und versucht, den Anblick aus ihrem Gehirn zu loschen – ein Anblick, der sie wahrscheinlich trotzdem fur den Rest ihres Lebens verfolgen wird.
Zu sehen, wie der Schaft des Schlagers ein klaffendes Loch in einen Schadel rei?t, ist schlimm genug. Aber was April in dem kurzen, furchterlichen Augenblick mitbekam, bevor sie auf das Wesen einschlug, war noch schrecklicher: Entweder war es ein unbedeutendes Aufflattern bereits abgestorbener Nerven oder ein echtes Begreifen. Jedenfalls wandte sich das untote Madchen in jenem Augenblick ab, als der Baseballschlager auf es niederzischte.
Ein Gerausch aus dem vorderen Teil des Ladens rei?t April aus ihren Uberlegungen. Rasch schultert sie die Taschen und eilt zum Ausgang. Doch sie kommt nicht weit. Abrupt halt sie inne, als sie bemerkt, dass ihr ein zweites Madchen den Weg versperrt.
Es steht keine funf Meter vor April zwischen den demolierten Metallgittern und tragt das gleiche Kleid wie das Geschopf, das April gerade ins Jenseits befordert hat.
Zuerst glaubt April ihren Augen kaum zu trauen. Handelt es sich vielleicht um den Geist des Zombies, den sie soeben erlost hat? Verliert sie jetzt den Verstand? Aber als das zweite Madchen schlurfend den Gang entlang auf sie zukommt und schwarzer Speichel uber ihre aufgeplatzte Lippe lauft, fallt bei April der Groschen:
Eineiige Zwillinge.
»Na dann«, sagt April laut. Sie ist bereit, sich den Weg freizukampfen.
Langsam geht sie, den Baseballschlager wieder in den Handen, auf das kleine Monster zu und holt aus, als ein lauter Knall hinter dem Zwilling ertont. April blinzelt uberrascht.
Die Kugel schlagt in eine ubrig gebliebene Scheibe und zerschmettert den Schadel des wandelnden toten Zwillings. April zuckt zusammen, als sie ein feuchter, schwarzer Nieselregen trifft, wahrend das Madchen in sich zusammensackt. April seufzt erleichtert auf.
Philip Blake steht vor dem Laden auf der leeren Stra?e und schiebt gerade ein neues Magazin in seine Ruger.
»Bist du das?«, fragt er leise.
»Ja, ich bin hier! Es geht mir gut!«
»Ich wei?, dass es nicht hoflich ist, eine Lady zu drangen, aber sie kommen!«
April nimmt ihre geplunderten Schatze, steigt uber die blutigen Uberreste des Madchens, die ihr den Weg versperren, und zwangt sich durch die Gitterstabe hinaus auf die Stra?e. Sofort begreift sie, in welcher Situation sie sich befinden: Eine Masse von Zombies kommt mit dem kollektiven Eifer einer ausgeflippten Gemeinde um die Ecke.
Philip nimmt April eine der Taschen ab, und beide rennen so schnell sie ihre Beine tragen zum Haus zuruck.
Wenige Sekunden spater stolpern bereits funfzig Bei?er von beiden Seiten auf sie zu.
Brian und Nick spahen durch das verstarkte Glas der Eingangstur und sehen, wie sich die Situation blitzschnell andert.
Horden von Zombies kommen jetzt von beiden Seiten die Stra?e herunter auf sie zu. Wohin sie auch immer verschwunden waren – jetzt sind sie jedenfalls auf dem Ruckmarsch.
Mitten unter ihnen befinden sich zwei Menschen – ein Mann und eine Frau, wie Balljungen bei einem perversen, surrealen Sport –, die mit Taschen auf dem Rucken auf das Haus zulaufen.
»Da sind sie!«, ruft Nick, der Philip und April inmitten der Menge erspaht.
»Gott sei Dank«, erwidert Brian und senkt sein Marlin-Gewehr. Er zittert wie Espenlaub. Hastig schiebt er die linke Hand in die Hosentasche und versucht, sich zu beruhigen. Er will nicht, dass sein Bruder ihn so sieht.