schon eingepackter europaischer Zigaretten. Nick treibt noch etwas anderes wahrend seiner Soloausfluge an – etwas, das er allerdings vorerst fur sich behalt.
Eine Woche nach David Chalmers’ Tod schlagt Nick vor, Philip solle ihn einmal bei einem seiner Ausfluge begleiten. Dann wurde er ihm auch zeigen, womit er seine Zeit verbracht habe. Philip ist bei dem Gedanken, den wackeligen Laufsteg zu uberqueren, nicht gerade begeistert. Er gibt vor, sich Sorgen zu machen, ob das Gebilde sein Gewicht auch tragt. Aber in Wirklichkeit leidet er unter Hohenangst. Das wei? nur niemand. »Philly, das musst du dir anschauen«, schwarmt Nick auf dem Dach. »Die Gegend hier ist eine einzige Goldmine. Du wirst schon sehen, Mann!«
Trotz seines inneren Widerstands willigt Philip endlich ein, sich uber den Laufsteg zu wagen. Auf Handen und Knien krabbelt er Nick hinterher und murrt dabei unentwegt, um seine Todesangst vor seinem Freund zu verbergen. Er traut sich nicht, nach unten zu schauen.
Endlich kommen sie am anderen Ende an, springen auf das Dach, klettern die Feuerleiter hinab und verschwinden durch ein offenes Fenster im benachbarten Haus.
Nick fuhrt Philip durch die menschenleeren Korridore der Burogebaude, in denen Steuerformulare und Dokumente herumflattern oder wie gefallenes Laub auf dem Boden liegen. »Wir sind gleich da«, versichert Nick seinem Freund und tanzelt eine Treppe hinunter, die in einem trostlosen Vorraum voll umgesturzter Mobel endet.
Philip macht sich Sorgen wegen der hallenden Schritte in den leeren Fluren. Jedes Mal, wenn er auf ein Stuck Holz oder Schutt tritt, knarrt und knarzt es laut. Jeder blinde Fleck oder leere Raum lasst sein Herz schneller schlagen. Er nimmt jedes Gerausch wahr und wartet nur auf den Augenblick, in dem Zombies hervorkommen und sie attackieren. Seine Hand ruht stets auf dem Griff seines Revolvers, der wie gewohnlich in seiner Jeans steckt. »Hier, wir mussen zum Parkhaus«, meint Nick und deutet in die Richtung.
Um die Ecke, vorbei an einem umgeworfenen Verkaufsautomaten, eine Treppe hoch, durch eine unmarkierte Metalltur – und plotzlich, ohne Vorwarnung, eroffnet sich fur Philip eine neue Welt.
»Heiliger Strohsack!«, staunt Philip, als er Nick uber die Brucke folgt. Sie ist voll Unrat und stinkt nach Urin. Die dicken Sicherheitsglasscheiben sind so mit Ru? verschmutzt, dass das Stadtbild von drau?en nur verzerrt in den ubel riechenden Gang eindringt. Aber der Ausblick ist nichtsdestoweniger spektakular. Die Brucke ist lichtdurchflutet, und man kann kilometerweit in alle Richtungen blicken.
Nick bleibt stehen. »Nicht schlecht, oder?«
»Wahnsinn, Mann.« Sie befinden sich zehn Meter uber der Stra?e. Der Wind peitscht gegen den uberdachten Gang. Unter ihnen sieht Philip vereinzelte Zombies wie exotische Fische in einem Aquarium vorbeipendeln. Er fuhlte sich wie in einem Glasbodenboot. »Wenn es diese ublen Monster nicht gabe, wurde ich das Penny zeigen.«
»Ich habe dich eigentlich aus einem anderen Grund mitgenommen«, erklart Nick und geht etwas weiter. »Siehst du den Bus? Ungefahr einen halben Hauserblock von hier?«
Philip kann ihn gut erkennen – ein gro?es, silberfarbenes Fahrzeug des stadtischen Transportunternehmens MARTA.
»Uber der Tur beim Spiegel rechts. Siehst du es?«
Tatsachlich. Philip erkennt eine Art Symbol. Es steht uber der Eingangstur und wurde mit der Hand hingekritzelt. Ein hastig gespruhter roter Stern mit funf Zacken. »Und was soll das?«
»Die Zone ist sicher.«
»Die was?«
»Ich habe mich ein bisschen in der Gegend umgeschaut – die Stra?e hier hinunter und die andere wieder hoch«, erklart Nick mit dem naiven Stolz eines kleinen Jungen, der seinem Vater die erste selbstgebastelte Seifenkiste zeigt. »Da druben ist ein Friseur. Lupenrein sauber und sicher wie eine Bank. Die Tur ist nicht einmal abgeschlossen.« Dann deutet er weiter die Stra?e hinauf. »Da um die Ecke steht ein leerer Sattelanhanger, der noch relativ in Ordnung ist. Er steht einfach da und hat eine richtig widerstandsfahige … Wie hei?t es noch mal? Falttur? Hinten – du wei?t schon.«
»Nick, was soll das?«
»Es sind alles sichere Zonen. In denen man sich schnell mal verstecken kann. Sagen wir, du bist gerade dabei, Proviant zu holen, und es passiert etwas. Sichere Zonen gibt es uberall. Jeden Tag finde ich eine neue. Und ich markiere sie, sodass wir alle Bescheid wissen. Es gibt so viele Verstecke, man sollte es nicht glauben.«
Philip blickt ihn an. »Du bist bis zum Ende der Stra?e gegangen? Allein?«
»Naturlich. Wei?t du …«
»Verdammt noch mal, Nick! Du solltest dich nicht so weit hinauswagen. Vor allem nicht ohne Verstarkung.«
»Philly …«
»Nein! Dein ›Philly‹ kannst du dir in diesem Fall sparen, Mann. Ich meine es ernst. Ich will, dass du dich vorsiehst, verstehst du mich? Ich meine es todernst.«
»Okay, okay. Ist ja gut.« Nick schlagt Philip zur Beruhigung auf den Oberarm. »Ich hab’s kapiert.«
»Gut.«
»Aber du musst zugeben – das hier ist cool. Vor allem, wenn man bedenkt, in welcher Schei?e wir stecken.«
Philip zuckt mit den Schultern und schaut auf die Stra?e mit den kleinen Kannibalenfischen, die ziellos umherirren. »Ja, nicht ubel.«
»Wir konnten es schlechter getroffen haben, Philly. Die Gebaude hier sind niedrig, sodass man die Gegend gut uberblicken kann. Au?erdem haben wir genugend Platz in unserem Haus, um uns nicht gegenseitig auf die Zehen zu treten, und es gibt Lebensmittelladen und andere Geschafte direkt um die Ecke. Ich glaube, wir konnten sogar einen Generator auftreiben und vielleicht ein Auto kurzschlie?en, um ihn zu uns zu transportieren. Ich kann mir vorstellen, dass wir es uns in diesem Haus noch ein wenig gemutlicher einrichten, Philly … Ich wei? nicht … Vielleicht sogar fur langer.« Er scheint den Gedanken zu mogen. »Vielleicht fur immer … Verstehst du?«
Philip starrt durch die schmierigen Scheiben auf die Totenstadt voll leerer Gebaude und umherwandelnder Zombies. »Inzwischen ist
Brian fangt in der Nacht wieder zu husten an. Das Wetter hat umgeschlagen. Mit jedem Tag wird es kalter und feuchter, und Brians Immunsystem hat mit den neuen Bedingungen zu kampfen. Kaum ist die Sonne untergegangen, kuhlt die Wohnung radikal ab. Am nachsten Morgen fuhlt sie sich wie eine Tiefkuhltruhe an, und der Boden unter Brians Socken hat sich in eine Eisflache verwandelt. Mittlerweile tragt er drei Pullover und einen gestrickten Schal, den ihm Nick von Dillard’s mitgebracht hat. Mit seinen fingerlosen Handschuhen, dem Schopf widerspenstiger schwarzer Haare und seinen eingefallenen Edgar-Allan-Poe-Augen sieht er immer mehr wie ein Obdachloser aus einem Charles-Dickens-Roman aus.
»Ich glaube, dass es Penny guttut, hier zu sein«, meint Brian zu Philip, als sie abends auf einem Balkon im ersten Stock stehen. Die Blake-Bruder genie?en ein Glas des billigen Weins nach dem Abendessen und betrachten die desolate Skyline. Die kuhle Abendbrise zerzaust ihnen die Haare, und der Gestank der Zombies lauert hinter dem Geruch frischen Regens.
Brian starrt auf die entfernten Silhouetten dunkler Gebaude, als ob er in Trance verfallen ware. Fur jemanden im Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist es so gut wie unmoglich, eine gro?e Metropole stockfinster zu sehen. Aber genau das ist der Anblick, der sich jetzt den Blake-Brudern bietet: eine Skyline so schwarz, dass sie einem Gebirgszug bei Neumond gleicht. Ab und zu glaubt Brian, das Flackern eines Feuers oder ein aufblitzendes Licht inmitten des schwarzen Nichts zu erkennen, aber vielleicht bildet er es sich auch nur ein.
»Ich glaube, dass diese Frau, diese April, fur Penny am besten uberhaupt ist«, gibt Philip zu bedenken.
»Ja, die beiden verstehen sich.« Brian hat sich selbst mehr als nur an April gewohnt. Auch die Tatsache, dass sich Philip vielleicht in sie verliebt hat, ist ihm nicht entgangen. Nichts wurde Brian glucklicher machen, als dass sein Bruder endlich wieder etwas Ruhe und Stabilitat in der Beziehung zu einer Frau finden konnte.
»Die andere ist allerdings vollig daneben«, meint Philip nach einer Weile.
»Tara? Ja, die ist unberechenbar.«
Wahrend der letzten Tage hat Brian versucht, Tara Chalmers aus dem Weg zu gehen. Sie gleicht einem wandelnden Geschwur – gereizt, paranoid und in tiefer Trauer um ihren Vater. Aber Brian glaubt, dass sie das irgendwann verarbeiten und uberwinden wird. »Eigentlich scheint sie ganz nett zu sein.«
»Sie begreift nicht, dass ich ihr das Leben gerettet habe«, giftet Philip.
Brian hustet drei- oder viermal und meint dann: »Daruber wollte ich mit dir reden.«