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Die Laufmundung fangt zu zittern an, und Philips Finger am Abzug scheint zu erstarren. Er stohnt auf. Dann murmelt er leise: »Ich kann es nicht.«
Er senkt die Waffe und blickt seiner Tochter in die Augen. Sie steht keine zwei Meter vom ihm an den Baum gebunden und faucht mit dem wilden Hunger eines tollwutigen Hundes. Ihr Porzellanpuppengesicht ist zu einer wei?en, verschrumpelten Kalebasse eingesunken, und ihre sanften Augen haben sich zu Silbermunzen verhartet. Ihre ehemals unschuldigen Lippen sind jetzt schwarz und krauseln sich unnaturlich vor den schleimigen Zahnen. Sie erkennt ihren Vater nicht wieder.
Das ist es auch, was Philip beinahe den Verstand raubt. Er kann die Erinnerung an Pennys Blick nicht aus seinem Kopf verbannen. Wie sie ihn angesehen hat, wenn er sie vom Kindergarten oder von Tante Nina am Ende eines langen, harten Arbeitstags abgeholt hat. Das freudige Wiedererkennen und die Aufregung in den gro?en Kinderaugen, wenn sie Philip sah. Und verdammt noch mal, ja! Auch die Liebe, die er darin erkannte. Das reichte, sich ihretwegen samtliche Gliedma?en auszurei?en. Doch jetzt war dieses Leuchten fur immer verloren und durch den grauen Film der Untoten ersetzt worden.
Philip wei?, was er zu tun hat.
Penny faucht.
Philips Augen brennen vor Schmerz.
»Ich kann nicht«, murmelt er erneut und blickt zu Boden. Sie so zu sehen lost einen Zorn in ihm aus – wie der Lichtbogen eines Schwei?gerats, der ihn tief im Innersten trifft. Da hort er wieder die Stimme: Rei? die Welt in Stucke, zerfleische sie, rei? ihr das Herz aus der Brust … Warte nicht, tu es jetzt.
Er verlasst die Obstplantage, wobei es sein Herz vor Verzweiflung und Wut fast zerrei?t.
Das Anwesen, das von der milden herbstlichen Morgensonne erwarmt wird, ist ein halbmondformiges Stuck Land mit der Villa in der Mitte. Hinter dem Haupthaus auf einer kleinen Anhohe steht eine Reihe von Au?engebauden: das Kutschenhaus, ein kleiner Schuppen fur den Aufsitzmaher und den Traktor, ein zweiter Schuppen fur die Werkzeuge, ein Wagenschuppen auf Pfahlen fur Gaste und eine gro?e holzerne Scheune mit einer riesigen Windfahne auf dem Kuppeldach. Dorthin will Philip – zur Scheune, die von Holzwurmern zerfressen ist und von der Sonne zu einem hellen Pink gebleicht wurde.
Er muss unbedingt das Gift loswerden, das durch seine Adern pulsiert. Er muss Dampf ablassen.
Der Haupteingang besteht aus einer Doppeltur, die mit einem riesigen Balken auf Schulterhohe gesichert ist. Philip rei?t den Balken aus den Halterungen und offnet die quietschenden Turen. Zahllose Staubmause fegen durch die Scheune. Philip tritt ein und schlie?t die Turen hinter sich. Es stinkt nach Pferden und verschimmeltem Heu.
In einer Ecke sitzen zwei Gestalten. Sie winden sich, zappeln herum, gefangen in ihrer eigenen privaten Holle, an Handen und Fu?en gebunden und mit Klebeband geknebelt: Sonny und Cher.
Die beiden zittern auf dem Scheunenboden, den Rucken an den Verschlag einer leeren Pferdebox gepresst. Ihre Zuckungen sind die Folge irgendwelcher Entzugserscheinungen – entweder Heroin oder Crack oder sonst etwas. Aber was geht das Philip an? Das Einzige, was ihn im Augenblick interessiert, ist, dass die beiden keine Ahnung haben, wie schlecht es ihnen gleich gehen wird.
Philip tritt zu dem Duo. Die durre Frau zuckt spasmisch, ihr Gesicht ist mit einer Kruste getrockneter Tranen und Erde verklebt. Der Mann atmet schwer durch die Nase.
Philip baut sich vor den beiden auf, beleuchtet von einem einzigen staubigen Sonnenstrahl, und starrt wie eine zornige Gottheit auf sie herab. »Du«, sagt er zu Sonny. »Eine Frage: Ich wei?, dass es schwierig ist, mit festgeklebtem Kopf zu nicken. Also einmal Blinzeln fur Ja und zweimal fur Nein.«
Der Mann schielt mit seinen wassrigen Augen zu ihm auf. Er blinzelt einmal.
Philip blickt ihn an. »Willst du zuschauen?«
Blinzel, Blinzel.
Philip fahrt mit der Hand zur Gurtelschnalle und fangt an, den Gurtel aufzumachen. »Schade. Das wird bestimmt eine unvergessliche Vorfuhrung.«
Blinzel, Blinzel.
Erneut zweimal blinzeln.
Zweimal blinzeln, zweimal blinzeln, zweimal blinzeln.
»Immer mit der Ruhe, Brian, nicht so schnell«, sagt Nick am Abend danach im Nahzimmer im ersten Stock. Im Licht der Kerosinlampe hilft Nick Brian beim Trinken durch einen Strohhalm. Brians Mund ist geschwollen und unbeweglich. Die Halfte des Wassers geht daneben. Nick hat alles getan, um Brian das Leben so angenehm wie moglich zu machen. Am wichtigsten ist es, dass Brian genugend zu sich nimmt und dass es drinbleibt. »Versuch doch noch mal die Gemusesuppe«, schlagt Nick vor.
Brian schafft zwei Loffel. »Danke, Nick.« Seine Stimme klingt gepresst. Der Schmerz schwingt horbar mit. »Danke fur alles.« Er lallt. Sein Gaumen ist angeschwollen und entzundet. Er redet zogerlich mit Unterbrechungen, wahrend er im Bett liegt. Seine gebrochenen Rippen wurden verbunden. Das Gesicht und der Nacken sind mit Pflastern ubersat, die Augen aufgedunsen und violett. Irgendetwas ist auch mit seiner Hufte passiert, aber keiner wei?, was es genau sein konnte.
»Das wird schon wieder, Alter«, sagt Nick. »Bei deinem Bruder bin ich mir da nicht so sicher.«
»Wieso?«
»Der ist ausgeflippt.«
»Er hat viel durchgemacht, Nick.«
»Wie kannst du ihn auch noch in Schutz nehmen?« Nick lehnt sich zuruck und seufzt gequalt. »Schau dir nur an, was er mit dir gemacht hat. Und fang nicht wieder mit Penny an. Wir haben alle bereits Menschen verloren, die wir geliebt haben. Er war kurz davor, dich ins Jenseits zu befordern.«
Brian wirft einen Blick auf seine ubel zugerichteten Fu?e, die aus der Bettdecke herausragen. Mit gro?er Anstrengung meint er schlie?lich: »Ich habe alles verdient, was er ausgeteilt hat.«
»Red keinen Quatsch! Es war nicht deine Schuld. Aber die Sache hat etwas bei deinem Bruder ausgelost, was mir echt Sorgen macht.«
»Der schafft das schon.« Brian schaut Nick an. »Was ist denn los? Irgendetwas beschaftigt dich.«
Nick holt tief Luft und uberlegt, ob er sich Brian anvertrauen soll. Die Blake-Bruder hatten schon immer eine komplizierte Beziehung. Nick Parsons verstand sich bisher mehr als Philips Bruder als Brian Blake. Dennoch verbindet die beiden Blakes etwas Besonderes. Es ist ein Bund, der tief in ihnen verwurzelt ist.
Endlich spricht Nick. »Ich wei?, dass du es mit der Religion nicht so hast und denkst, ich spinne ein wenig.«
»Das ist nicht wahr, Nick.«
Nick winkt ab. »Das macht nichts. Mein Glaube ist stark, und ich beurteile niemanden nach seiner Religion.«
»Was willst du damit sagen?«
Nick sieht Brian an. »Er halt sie am Leben, Brian … Leben ist in diesem Fall vielleicht nicht das richtige Wort.«
»Penny?«
»Er ist bei ihr da drau?en.«
»Wo?«
Nick erklart, was wahrend der vergangenen zwei Tage seit Pennys Tod vorgefallen ist. Wahrend sich Brian von den Schlagen seines Bruders erholte, war Philip nicht untatig. Er halt zwei der Eindringlinge – die einzigen, die das Gemetzel uberlebten – in der Scheune gefangen und behauptet, er frage sie nach weiteren Uberlebenden in der Umgebung aus. Nick aber glaubt, dass er sie foltert. Doch das ist nicht das Schlimmste. Penny Blakes Schicksal macht Nick am meisten zu schaffen. »Er hat sie an einem Baum festgebunden, also quasi angekettet wie ein gefangenes Tier«, berichtet er.
Brian runzelt mit der Stirn. »Wo genau?«
»Drau?en auf der Obstplantage. Jeden Abend geht er zu ihr und bleibt eine Weile dort.«
»Gutiger Himmel.«
»Hor zu. Ich wei?, dass du davon nichts haltst, aber ich glaube nun einmal daran. Im Universum gibt es zwei Krafte. Die eine ist gut, die andere bose.«
»Nick, ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist …«
»Nicht so schnell, lass mich ausreden. Ich glaube, dass die Plage oder wie auch immer du es nennen willst