ist eine Razzia. Der Wachmann Schafer hat sich um dreiviertel zwolf hier zu melden. Haben Sie verstanden?«
»Ja. Um dreiviertel zwolf.«-»Gut.« Steiner hangte ab.
Die Trautenaugasse war eine schmale, stille Stra?e, mit kahlen Kleinburgerhausern. Steiner sah sich Haus Nummer siebenundzwanzig genau an. Es unterschied sich in nichts von den andern; aber es erschien ihm besonders widerwartig. Dann ging er ein Stuck zuruck und wartete.
Der Wachmann Schafer kam eilig und wichtig aus dem Haus gepoltert. Steiner ging ihm so entgegen, da? er ihm an einer dunklen Stelle begegnete. Dort rempelte er ihn mit einem machtigen Schultersto? an.
Schafer taumelte. »Sind Sie besoffen, Mensch?« brullte er. »Sehen Sie nicht, da? Sie einen Beamten im Dienst vor sich haben?«
»Nein«, erwiderte Steiner. »Ich sehe nur einen jammerlichen Hurensohn! Einen Hurensohn, verstehst du?«
Schafer war einen Moment sprachlos. »Mensch«, sagte er dann leise. »Sie mussen verruckt sein! Das werden Sie mir bu?en! Los, mit zur Wache!«
Er versuchte, seinen Revolver zu ziehen. Steiner trat mit dem Fu? gegen seinen Arm, trat blitzschnell heran und tat das Entehrendste, was es fur einen Mann gibt; er schlug Schafer mit der ?achen Hand links und rechts ins Gesicht.
Der Wachmann rochelte und sprang auf ihn los. Steiner wich zur Seite und landete einen linken Schwinger auf Schafers Nase, die sofort blutete. »Hurensohn!« knurrte er. »Jammervoller Schei?er! Feiges Aas!«
Er zerschlug ihm mit einem trockenen Geraden die Lippen und fuhlte die Zahne unter seinen Knocheln knacken. Schafer taumelte. »Hilfe!« schrie er dann mit einer fetten, hohen Stimme.
»Halt’s Maul!« knurrte Steiner und setzte einen scharfen Rechten aufs Kinn und gleich darauf die kurz geschlagene Linke genau auf den Solarplexus. Schafer gab einen froschahnlichen Laut von sich und sturzte wie eine Saule zu Boden.
Ein paar Fenster wurden hell. »Was ist denn da schon wieder los?« schrie eine Stimme.
»Nichts«, erwiderte Steiner aus dem Dunkel. »Nur ein Besoffener!«
»Der Teufel soll die Saufbruder holen!« rief die Stimme argerlich. »Bringen Sie ihn doch zur Polizei!«
»Da soll er gerade hin!«
»Hauen Sie ihm vorher noch ein paar in das versoffene Maul!«
Das Fenster klappte zu. Steiner grinste und verschwand um die nachste Ecke. Er war sicher, da? Schafer ihn mit seinem veranderten Gesicht im Dunkel nicht erkannt hatte. Er kreuzte noch ein paar Stra?enecken, bis er in eine belebte Gegend kam. Dann ging er langsamer.
Wunderbar und gleichzeitig zum Kotzen, dachte er. So ein bi?chen lacherliche Rache! Aber es wiegt Jahre der Flucht und Geducktheit auf! Man mu? die Gelegenheit nehmen, wie sie kommt! Er blieb unter einer Laterne stehen und holte seinen Pa? heraus. Johann Huber! Arbeiter! Du bist tot und verfaulst irgendwo in der Erde von Graz – aber dein Pa? lebt und ist gultig fur die Behorden. Ich, Josef Steiner, lebe; aber ich bin ohne Pa? tot fur die Behorden. Er lachte. Tauschen wir, Johann Huber! Gib mir dein papierenes Leben und nimm meinen papierlosen Tod! Wenn die Lebenden uns nicht helfen, mussen die Toten es tun!
6
Kern kam Sonntag abend ins Hotel zuruck. In seinem Zimmer stie? er auf Marill, der sehr aufgeregt war. »Endlich irgend jemand!« rief er. »Verdammte Bude, in der ausgerechnet heute kein Aas zu ?nden ist! Alles ausgegangen! Alles unterwegs! Sogar der ver?uchte Wirt!«
»Was ist denn los?« fragte Kern.
»Wissen Sie, wo eine Hebamme wohnt? Oder ein Arzt, irgendein Frauenarzt oder so was?«
»Nein.«
»Naturlich nicht!« Marill starrte ihn an. »Sie sind doch ein vernunftiger Mensch, Kern. Kommen Sie mit. Irgend jemand mu? bei der Frau bleiben. Ich werde dann losgehen und eine Hebamme suchen. Konnen Sie das?«
»Was?«
»Aufpassen, da? sie sich nicht zuviel bewegt! Mit ihr reden. Irgendwas tun!«
Er schleppte Kern, der nicht verstand, was los war, den Korridor entlang in den unteren Stock und offnete die Tur eines kleinen Zimmers, in dem nicht viel mehr als ein Bett stand. Darin lag eine Frau und stohnte.
»Siebenter Monat! Fehlgeburt oder so was! Beruhigen Sie sie, wenn Sie konnen! Ich hole einen Arzt.«
Er war drau?en, ehe Kern etwas erwidern konnte.
Die Frau im Bett stohnte. Kern trat auf Zehenspitzen heran.
»Kann ich Ihnen etwas geben?« fragte er.
Die Frau stohnte weiter. Sie hatte klatschnasse, verschwitzte Haare von einem verblichenen Blond und ein graues Gesicht, aus dem dicke Sommersprossen sonderbar dunkel hervorschimmerten. Die Augen waren verdreht; unter den halbgeschlossenen Lidern war fast nur das Wei?e zu sehen. Die dunnen Lippen waren zuruckgezogen, die Zahne ge?etscht und fest aufeinandergebissen. Sie leuchteten sehr wei? aus dem Halbdunkel.
»Kann ich Ihnen etwas geben?« fragte Kern noch einmal.
Er sah sich um. Ein billiger, dunner Staubmantel hing uber einem Stuhl, wie hingeworfen. Vor dem Bett standen ein Paar ausgetretene Schuhe. Die Frau lag mit ihren Kleidern im Bett, wie hineingesturzt. Auf dem Tisch stand eine Flasche mit Wasser und neben dem Waschtisch ein Koffer.
Die Frau stohnte. Kern wu?te nicht, was er tun sollte. Die Frau warf sich hm und her. Er erinnerte sich an das, was Marill ihm gesagt hatte, und an das wenige, was er von dem einen Jahr an der Universitat wu?te, und versuchte, die Schultern der Frau festzuhalten. Aber es war, als wollte er eine Schlange festhalten. Wahrend er sich bemuhte und sie ihm entglitt und ihn wegstie?, ri? sie plotzlich die Hande hoch und krallte sich augenblicklich mit aller Kraft an seinen Armen fest.
Er stand wie festgeschmiedet. Er hatte nie geglaubt, da? die Frau eine solche Kraft haben konnte. Sie drehte den Kopf langsam, als ware er eine Schraube, und stohnte grauenvoll, als kame ihr Atem aus der Erde.
Der Korper zuckte, und plotzlich sah Kern unter der Bettdecke, die sich verschoben hatte, einen schwarzroten Fleck hervorkriechen, das Leintuch entlang, gro?er werden und sich ausbreiten. Er versuchte, sich loszumachen, aber die Frau hielt ihn eisern fest. Wie gebannt starrte er auf den Fleck, der zu einem breiten Streifen wurde, bis er die Kante des Leintuchs erreichte und von da zur Erde tropfte und eine schwarze Lache bildete.
»Loslassen! Lassen Sie los!« Kern wagte nicht die Arme zu bewegen, weil er dann den Korper der Frau geschuttelt hatte. »Loslassen!« knirschte er. »Loslassen!«
Plotzlich erschlaffte der Korper der Frau. Sie lie? los und ?el in die Kissen. Kern griff nach der Decke und hob sie etwas hoch. Ein Schwall Blut quoll hervor und klatschte auf den Boden. Er sprang auf und rannte hinauf zu dem Zimmer, in dem Ruth Holland wohnte.
Sie war da. Sie sa? allein auf ihrem Bett zwischen ihren aufgeschlagenen Buchern. »Kommen Sie!« rief Kern. »Unten verblutet eine Frau!«
Sie liefen hinunter. Das Zimmer war dunkler geworden. Im Fenster ?ammte das Abendrot und warf einen dusteren Schein uber den Boden und den Tisch. Ein roter Re?ex funkelte wie ein Rubin in der Wasser?asche. Die Frau lag jetzt ganz still. Sie schien nicht mehr zu atmen.
Ruth Holland hob die Bettdecke auf. Die Frau schwamm in Blut. »Machen Sie Licht«, rief das Madchen.
Kern lief zum Schalter. Das Licht der schwachen Birne mischte sich mit dem Abendrot zu einer truben Helligkeit. In diesem gelbroten Brodem lag die Frau auf dem Bett. Sie schien nichts zu sein als ein unformiger Bauch mit verschobenen, blutigen Kleidern, unter denen die Beine mit herabgerutschten, schwarzen Strumpfen herausragten, sonderbar in sich verdreht und erschlafft.
»Geben Sie das Handtuch! Sie mu? aufhoren zu bluten! Vielleicht ?nden Sie irgend etwas!«
Kern sah, wie Ruth die Armel hochschob und die Kleider der Frau zu losen versuchte. Er gab ihr das Handtuch vom Waschtisch. »Der Arzt mu? gleich kommen! Marill ist unterwegs.«
Er suchte nach Verbandszeug und stulpte den Koffer hastig um.
»Geben Sie her, was Sie ?nden«, rief Ruth.
Auf dem Boden lag ein Haufen Sauglingswasche – kleine Hemden, Windeln, Tucher und dazwischen ein paar