Kunst zusammen, damit sie mit der gro?ten Barbarei wieder in Stucke gerissen werden. Warum nicht gleich die Kinder totschlagen! Ist doch viel einfacher.«
»Mein Lieber«, erwiderte der Reichstagsabgeordnete Marill,»Kinder toten ist Mord. Erwachsene toten ist eine Angelegenheit nationaler Ehre.«
»Im nachsten Krieg werden auch genug Frauenbund Kinder dabei sein«, brummte der Arzt. »Die Cholera rotten wir aus – dabei ist das eine harmlose Krankheit gegen ein bi?chen Krieg.«
»Braun!« rief der Arzt aus dem Nebenzimmer. »Rasch.«
»Ich komme!«
»Verdammt! Scheint nicht alles glatt zu gehen«, sagte Marill.
NACH EINIGER ZEIT kam Braun zuruck. Er sah verfallen aus. »Ri? im Gebarmutterhals«, sagte er. »Nichts zu machen. Die Frau verblutet.«
»Nichts zu machen?«
»Nichts. Haben alles versucht. Hort nicht auf zu bluten.«
»Konnen Sie keine Blutubertragung machen?« fragte Ruth, die in der Tur stand. »Sie konnen es von mir nehmen.«
Der Arzt schuttelte den Kopf. »Hilft nichts, Kindchen. Wenn’s nicht aufhort…«
Er ging zuruck. Die Tur blieb offen. Das helle Viereck wirkte gespenstisch. Die drei sa?en und schwiegen. Der Kellner tappte herein. -»Soll ich abraumen?«
»Nein.«
»Wollen Sie etwas trinken?« fragte Marill Ruth.
Sie schuttelte den Kopf.
»Doch, nehmen Sie was. Es ist besser.« Er go? ihr ein halbes Glas ein.
Es war dunkel geworden. Am Horizont uber den Dachern schimmerte nur noch schwachgrun und orangefarben das letzte Licht. Darin schwamm der bleiche Mond, zerfressen von Lochern wie eine alte Messingmunze. Von der Stra?e her horte man Stimmen. Sie waren laut, vergnugt und nichtsahnend. Kern erinnerte sich plotzlich an Steiner und das, was er gesagt hatte. Wenn neben dir jemand stirbt: du spurst es nicht. Das ist das Ungluck der Welt. Mitleid ist kein Schmerz. Mitleid ist eine versteckte Schadenfreude. Ein Aufatmen, da? man es nicht selber ist oder einer, den man liebt. Er blickte zu Ruth hinuber. Er konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen.
Marill horchte auf. »Was ist denn das?«
Ein langer, voller Geigenton schwang durch die anbrechende Nacht. Er verhallte, schwoll wieder an, stieg empor, sieghaft, trotzig – und dann begannen Laufe zu perlen, zarter und zarter, und eine Melodie loste sich los, einfach und traurig wie der versinkende Abend.
»Es ist hier im Hotel«, sagte Marill und spahte durchs Fenster. »Uber uns in der vierten Etage.«
»Ich glaube, ich kenne ihn«, erwiderte Kern. »Es ist ein Geiger, den ich schon einmal gehort habe. Ich wu?te nicht, da? er auch hier wohnt.«
»Das ist kein einfacher Geiger. Das ist viel mehr.«
»Soll ich hinaufgehen und ihm sagen, er mochte aufhoren?«
»Warum?«
Kern machte eine Bewegung zur Tur. Marills Brille glanzte. »Nein. Wozu? Traurig sein kann man immer. Und Sterben ist uberall. Das geht alles zusammen.«
Sie sa?en und lauschten. Nach langer Zeit kam Braun aus dem Nebenzimmer. »Aus«, sagte er. ^Exitus. Sie hat nicht viel gespurt. Wei? nur, da? ein Kind da ist. Das haben wir ihr noch sagen konnen.«
Die drei standen auf. »Wir konnen sie wieder hierher bringen«, sagte Braun. »Das Zimmer nebenan wird ja gebraucht.«
Die Frau lag wei? und plotzlich schmal in der Verwustung von blutigen Tuchern, Tupfern und Eimern und Schalen von Blut und Watte. Sie lag da mit einem fremden, strengen Gesicht, und es ging sie alles nichts mehr an. Der Arzt mit der Glatze, der sich um sie herumbewegte, wirkte wie unanstandig gegen sie: fressendes, saftevolles, zermalmendes, ausscheidendes Leben neben der Ruhe der Vollendung.
»Lassen Sie sie zugedeckt«, sagte der Arzt. »Besser Sie sehen das andere nicht. War sowieso schon ein bi?chen viel, nicht wahr, kleines Fraulein?«
Ruth schuttelte den Kopf.
»Sie haben sich tapfer gehalten. Nicht gemuckt. Wissen Sie, was ich jetzt konnte, Braun? Mich aufhangen, mich glatt am nachsten Fenster aufhangen!«
»Sie haben das Kind lebendig geholt; das war eine Glanzleistung.«
»Aufhangen! Verstehen Sie, ich wei?, da? wir alles getan haben, da? man machtlos dagegen ist. Trotzdem konnte ich mich aufhangen!«
Er wurgte wutend, sein Gesicht uber dem Kragen des blutigen Kittels war rot und ?eischig. »Zwanzig Jahre mache ich das nun schon. Und jedesmal, wenn mir einer durch die Lappen geht, mochte ich mich aufhangen. Zu blodsinnig.« Er wandte sich an Kern. »Nehmen Sie mir da aus der linken Rocktasche die Zigaretten und stecken Sie mir eine in den Mund. Ja, kleines Fraulein, ich wei?, was Sie denken. So, und nun Feuer. Ich geh’ mich waschen.« Er starrte auf die Gummihandschuhe, als waren sie an allem schuld, und ging schwerfallig ins Badezimmer.
Sie trugen die Tote mit dem Bett auf den Korridor hinaus und von da in ihr Zimmer zuruck. Auf dem Korridor standen ein paar Leute, die in dem gro?en Zimmer wohnten. »Konnte man sie denn nicht in eine Klinik bringen?« fragte eine durre Frau, die einen Hals wie ein Truthahn hatte.
»Nein«, sagte Marill. »Sonst hatte man’s getan.«
»Und nun bleibt sie hier, die ganze Nacht? Eine Tote nebenan – wer kann da schlafen!«
»Dann bleiben Sie wach, Gro?mutter«, entgegnete Marill.
»Ich bin keine Gro?mutter«, fauchte die Frau.
»Das merkt man.«
Die Frau warf ihm einen bosen Blick zu. »Und wer macht das Zimmer sauber? Der Geruch geht ja nie heraus. Man hatte ja auch Nummer zehn druben dafur nehmen konnen!«
»Sehen Sie«, sagte Marill zu Ruth,»die Frau hier ist tot. Und ihr Kind hatte sie gebraucht und ihr Mann vielleicht auch. Aber dieses unfruchtbare Plattbrett da drau?en lebt. Wird wahrscheinlich steinalt zum Arger der Mitmenschen. Das ist eines der Ratsel, hinter die man nie kommt.«
»Das Bose ist harter, es halt mehr aus«, erwiderte Ruth ?nster.
Marill sah sie an. »Woher wissen Sie das denn schon?«
»Das ist heute leicht zu lernen.«
Marill erwiderte nichts. Er blickte sie nur an. Die beiden Arzte kamen. »Das Kind ist bei der Wirtin«, sagte der mit der Glatze. »Es wird abgeholt werden. Ich telefoniere gleich deswegen. Auch wegen der Frau. Kannten Sie sie naher?«
Marill schuttelte den Kopf. »Sie ist vor ein paar Tagen gekommen. Ich habe nur einmal mit ihr gesprochen.«
»Vielleicht hat sie Papiere. Die kann man dann mitgeben.«
»Ich werde nachsehen.«
Die Arzte gingen. Marill suchte den Koffer der Toten durch. Er enthielt nur Kindersachen, ein blaues Kleid, etwas Wasche und eine bunte Kinderklapper. Er packte die Sachen wieder ein. »Sonderbar, wie das alles plotzlich auch tot ist.«
In der Handtasche fand er einen Pa? und einen Meldeschein der Polizei Frankfurt an der Oder. Er hielt sie ans Licht. »Katharina Hirschfeld, geborene Brinkmann, aus Munster, geboren am siebzehnten Marz neunzehnhunderteins.«
Er stand auf und sah die Tote an – die blonden Haare und das schmale, harte westfalische Gesicht. »Katharina Brinkmann, verheiratete Hirschfeld.«
Er blickte wieder in den Pa?. »Noch drei Jahre gultig«, murmelte er. »Drei Jahre fur einen anderen. Der Meldeschein genugt auch fur ein Grab.«
Er steckte die Papiere ein. »Ich werde das erledigen«, sagte er zu Kern. »Und eine Kerze besorgen. Ich wei? nicht… man sollte ein bi?chen bei ihr bleiben. Nutzt zwar nichts, aber merkwurdig… ich habe so das Gefuhl, man sollte ein bi?chen bei ihr bleiben.«