dann sah er den vom Schicksal zerschlagenen Mann vor sich, der ihn mit entsetzlicher Demut anblickte, und er dachte: Kaputt! Fertig! Und der Krampf loste sich, und er war nichts mehr als grenzenloses Mitleid.

»Sie haben mich zweimal ausgewiesen, Ludwig. Wenn ich nur einen Tag wieder da war, haben sie mich gefunden. Sie waren nicht bose. Aber sie konnen uns ja nicht alle hierbehalten. Ich wurde krank; es regnete immerfort. Lungenentzundung mit einem Ruckfall. Und da… sie hat mich gep?egt – ich ware sonst umgekommen, Ludwig. Und sie meint es nicht schlecht…«

»Sicher, Vater«, sagte Kern ruhig.

»Ich arbeite auch etwas. Ich verdiene das, was ich koste. Es ist nicht so… du wei?t… so nicht. Aber ich kann nicht mehr auf Banken schlafen und immer die Angst haben, Ludwig…«

»Ich verstehe das, Vater.«

Der Alte sah vor sich hin. »Ich denke manchmal, Mutter sollte sich scheiden lassen. Dann konnte sie doch wieder zuruck nach Deutschland.«

»Mochtest du denn das?«

»Nein, nicht fur mich. Fur sie. Ich bin doch schuld an allem. Wenn sie nicht mehr mit mir verheiratet ist, kann sie doch zuruck. Ich bin doch schuld. An dir auch. Meinetwegen hast du keine Heimat mehr.«

Es war Kern schrecklich zumute. Das war nicht mehr sein heiterer, lebensfroher Vater aus Dresden; – das war ein ruhrender, alterer, hil?oser Mann, der mit ihm verwandt war, und der mit dem Leben nicht mehr fertig werden konnte. Er stand in seiner Verwirrung auf und tat etwas, was er noch nie getan hatte. Er nahm ihn um die schmalen, gebeugten Schultern und ku?te ihn.

»Du verstehst es, Ludwig?« murmelte Siegmund Kern.

»Ja, Vater. Es ist nichts dabei. Gar nichts dabei.« Er klopfte ihm zart mit der Hand?ache auf den knochigen Rucken und starrte uber seine Schulter hinweg auf das Bild der Schneeschmelze in Tirol, das uber dem Klavier hing.

»Ich werde dann jetzt gehen…«

»Ja.«

»Ich will nur noch die Zitrone bezahlen. Ich habe dir auch eine Schachtel Zigaretten mitgebracht. Du bist gro? geworden, Ludwig, gro? und kraftig.«

Ja, und du alt und zittrig, dachte Kern. Hatte ich doch nur einen von denen druben, die dich soweit gebracht haben, hier, um ihm das satte, zufriedene, dumme Gesicht zu zerschlagen!

»Du hast dich auch gut gehalten, Vater«, sagte er. »Die Zitrone ist schon bezahlt. Ich verdiene jetzt etwas Geld. Und wei?t du, womit? Mit unseren alten eigenen Sachen. Mit deiner Mandelcreme und deinem Farr- Toilettewasser. Ein Drogist hier hat noch einen Stock davon, bei dem kaufe ich es ein.«

Die Augen Siegmund Kerns belebten sich etwas. Dann lachelte er traurig. »Und nun mu?t du damit hausieren. Du mu?t mir verzeihen, Ludwig.«

»Ach wo!« Kern schluckte etwas jah in seinem Halse Aufsteigendes hinunter. »Es ist die beste Schule der Welt, Vater. Man lernt das Leben von unten kennen. Die Menschen auch. Man kann spater nie mehr enttauscht werden.«

»Werde nur nicht krank.«

»Nein, ich bin sehr abgehartet.«

Sie gingen hinaus. »Du hast so viel Hoffnung, Ludwig…« Mein Gott, Hoffnung nennt er das, dachte Kern. »Es wird auch alles wieder in Ordnung kommen«, sagte er. »So kann es ja nicht bleiben.«

»Ja…« Der Alte blickte vor sich hin. »Ludwig«, sagte er dann leise,»wenn wir wieder zusammen sind – und wenn Mutter auch wieder da ist – «er machte eine Bewegung hinter sich -»das ist dann alles vergessen – wir denken nicht mehr daran, was?«

Er sprach leise und kindlich und zutraulich; es war wie das Gezwitscher eines muden Vogels. »Ohne mich konntest du nun studieren, Ludwig«, sagte er ein wenig klagend und mechanisch, wie jemand, der so oft daruber nachgegrubelt hat, da? sein Schuldbewu?tsein mit der Zeit etwas Automatisches angenommen hat.

»Ohne dich ware ich gar nicht am Leben, Vater«, erwiderte Kern.

»Bleib gesund, Ludwig. Willst du nicht die Zigaretten nehmen? Ich bin doch dein Vater, ich mochte dir gern etwas geben.«

»Gut, Vater. Ich werde sie behalten.«

»Vergi? mich nicht ganz«, sagte der alte Mann, und seine Lippen zitterten plotzlich. »Ich habe es gut gewollt, Ludwig.« Es schien, als konne er sich von dem Namen nicht trennen; er wiederholte ihn immer wieder. »Wenn ich es auch nicht fertiggebracht habe, Ludwig. Ich wollte fur euch sorgen, Ludwig.«

»Du hast fur uns gesorgt, solange du es konntest.«

»Dann werde ich jetzt gehen. Alles Gute fur dich, mein Kind.«

Kind, dachte Kern. Wer von uns beiden ist das Kind? Er sah seinen Vater langsam die Stra?e hinuntergehen, er hatte ihm versprochen, er wurde ihm schreiben und ihn wiedersehen, aber er wu?te, es war das letztemal, da? er ihn sah. Er blickte ihm mit weiten Augen nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann wurde es leer.

Er ging zuruck. Auf der Terrasse sa? Marill und las mit einem Gesicht voll Abscheu und Hohn noch immer in seiner Zeitung. Merkwurdig, wie schnell etwas einsturzen kann, dachte Kern… schon, wahrend ein anderer immer noch die Zeitung liest. Vollwaise, Funfzigjahriger – er lachelte krampfhaft und mit trubem Spott – Vollwaise… als ob man es nicht werden konnte, ohne da? Vater und Mutter tot waren…

DREI TAGE SPATER reiste Ruth Holland nach Wien. Sie hatte ein Telegramm einer Freundin erhalten, bei der sie wohnen konnte, und sie wollte versuchen, Arbeit zu bekommen und zur Universitat zu gehen.

Am Abend ihrer Abreise ging sie mit Kern in das Restaurant »Zum schwarzen Ferkel«. Beide hatten bislang jeden Tag in der Volkskuche gegessen; fur den letzten Abend jedoch hatte ihr Kern vorgeschlagen, etwas Besonderes zu unternehmen.

Das »Schwarze Ferkel« war ein kleines, verrauchertes Lokal, das nicht teuer, aber sehr gut war. Marill hatte es Kern genannt. Er hatte ihm auch die genauen Preise gesagt und ihm besonders die Spezialitat des Wirtes, Kalbsgulasch, empfohlen. Kern hatte sein Geld gezahlt und ausgerechnet, da? es sogar noch fur Kasekuchen hinterher als Dessert reichen mu?te. Ruth hatte ihm einmal gesagt, das sei eine Leidenschaft von ihr. Als sie ankamen, erwartete sie jedoch eine peinliche Uberraschung. Es gab kein Gulasch mehr. Sie waren zu spat gekommen. Sorgenvoll studierte Kern die Speisekarte. Die meisten anderen Sachen waren teurer. Neben ihm leierte der Kellner seine Litanei herunter. »Geselchtes mit Kraut, Schweinskotelett mit Salat, Paprikahuhn, frische Gansleber…«

Gansleber, dachte Kern – der Narr scheint uns fur Multimillionare zu halten. Er gab Ruth die Karte. »Was mochtest du statt Gulasch haben?« fragte er. Er hatte festgestellt, da?, wenn er Koteletts bestellte, die Kasekuchen dahin waren.

Ruth warf einen kurzen Blick auf die Karte. »Wurstchen mit Kartoffelsalat«, sagte sie. Es war das Billigste.

»Ausgeschlossen«, erklarte Kern. »Das ist kein Abschiedsessen.«

»Ich esse sie sehr gerne. Nach den Suppen der Volkskuche sind sie schon ein Fest.«

»Und was meinst du zu einem Fest mit Schweinskoteletts. Aber gro?e!«

»Sind alle eins wie’s andere«, erwiderte der Kellner ungeruhrt.

»Was vorher? Suppe, Hors d’?uvre, Sulze?«

»Nein«, sagte Ruth, bevor Kern sie fragen konnte.

Sie bestellten noch eine Karaffe billigen Wein, dann zog der Kellner ziemlich verachtlich ab – als ahnte er, da? Kern bereits eine halbe Krone an seinem Trinkgeld fehlte.

Das Lokal war fast leer. An einem Tisch in der Ecke sa? nur noch ein einziger Gast. Es war ein Mann mit einem Monokel und mit Schmissen im breiten, roten Gesicht. Er sa? vor einem Glase Bier und betrachtete Kern und Ruth.

»Schade, da? der da sitzt«, sagte Kern.

Ruth nickte. »Wenn es noch jemand anderes ware! Aber das… das erinnert einen…«

»Ja, das ist bestimmt kein Emigrant«, sagte Kern. »Eher das Gegenteil.«

»Wir wollen gar nicht hinsehen…«

Er tat es aber doch. Und er bemerkte, da? der Mann sie unentwegt weiter ansah.

»Ich wei? nicht, was er will«, sagte er argerlich. »Er la?t ja kein Auge von uns.«

»Vielleicht ist es ein Agent der Gestapo. Ich habe gehort, da? es hier von Spitzeln wimmelt.«

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