Kern!« sagte er dann.
Kern ging zur Buhne und nahm Steiners Hand. Er fuhrte ihn zu Potzloch, und Steiner begann zu suchen.
»Ich bin kitzlig, Steiner«, prustete Potzloch und kreischte auf.
Nach einigen Minuten fand Steiner die Nadel. Sie wiederholten das Experiment noch ein paarmal. Kern lernte die Zeichen, und die Zeit, bis Steiner Potzlochs Zundholzschachtel fand, wurde immer kurzer.
»Ganz gut«, sagte Potzloch. »Ubt das heute nachmittag weiter. Aber nun die Hauptsache: wenn S’ als Zuschauer auftreten, mussen S’ zogern, verstehen S’? Das Publikum darf keine Lunte riechen. Deshalb mussen S’ zogern! Machen Sie’s einmal, Steiner, ich werd’s ihm zeigen!«
Er setzte sich auf einen Stuhl neben Kern.
Steiner ging zum Podium. »Und nun bitte ich«, donnerte er mit Ausruferstimme in die leere Bude,»einen der geehrten Herrschaften, sich hierher auf die Buhne zu begeben! Nur durch einen Griff an die Hand, ohne ein Wort, wird die Gedankenubertragung erfolgen und der versteckte Gegenstand gefunden werden!«
Direktor Potzloch beugte sich vor, als wollte er aufstehen und etwas sagen. Dann begann er zu zogern. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, ruckte an seinem Kneifer und blickte sich verschamt um. Dann lachelte er entschuldigend, erhob sich halb, kicherte, setzte sich schnell wieder zuruck, gab sich schlie?lich einen Ruck und schritt ernst, verlegen, neugierig und zaudernd zugleich auf den vor Lachen tobenden Steiner zu.
Vor dem Podium drehte er sich um. »Nun kopieren Sie das, junger Mann!« ermunterte er Kern selbstgefallig.
»Das ist nicht zu kopieren!« rief Steiner.
Potzloch grinste geschmeichelt. »Verlegenheit ist schwer darzustellen, das wei? ich als alter Buhnenhase. Echte Verlegenheit, mein’ ich.«
»Er ist von Natur verlegen«, erklarte Steiner. »Er wird es schon schaffen.«
»Na schon! Ich mu? jetzt zum Ringelspiel.«
Potzloch scho? davon.
»Ein vulkanisches Temperament!« au?erte Steiner anerkennend. »Uber sechzig Jahre alt! Jetzt zeige ich dir, was du zu tun hast, wenn du nicht zogern kannst. Wenn ein anderer zogert. Wir haben zehn Reihen Stuhle hier. Das erstemal, wenn du dir ubers Haar streichst, zeigst du die Zahl der Reihe, wo das Versteckte ist. Einfach soviel Finger, Das zweitemal der wievielte Stuhl von links es ist. Dann fa?t du bei dir unauffallig an die Stelle, wo es ungefahr versteckt ist. Ich ?nde es dann schon…«
»Genugt denn das?«
»Es genugt. Der Mensch ist enorm phantasielos in solchen Sachen.«
»Mir sieht es zu einfach aus.«
»Betrug mu? einfach sein. Komplizierte Betrugereien mi?lingen fast immer. Wir werden die Kiste heute nachmittag weiter uben. Lilo hilft auch mit. Jetzt zeige ich dir den Klavierschimmel. Er hat Museumswert. Eines der ersten Klaviere, die je gebaut wurden.«
»Ich glaube, ich spiele viel zu schlecht.«
»Unsinn! Such dir ein paar hubsche Akkorde ’raus. Bei der zersagten Mumie spielst du sie getragen; bei der Dame ohne Unterleib ?otter und abgehackt. Es hort dir ohnehin niemand zu.«
»Gut. Ich werde es probieren und es dir nachher vorspielen.« Kern kroch in den Verschlag hinter der Buhne, aus dem ihm das Klavier mit gelben Stockzahnen entgegengrinste. Nach einigem Nachdenken wahlte er fur die Mumie den Tempeltanz aus »Aida« und fur den fehlenden Unterleib das Salonstuck »Maikafers Hochzeitstraum«. Er trommelte auf dem Klavier herum und dachte an Ruth, an Steiner, an die Wochen der Ruhe und das Abendessen, und er glaubte, es nie in seinem Leben so gut gehabt zu haben.
Eine Woche spater erschien Ruth im Prater. Sie kam gerade, als die Nachtvorstellung des Panoramas der Sensationen begann. Kern brachte sie auf einen Platz in der ersten Reihe. Dann verschwand er ziemlich aufgeregt, um das Klavier zu bedienen. Er wechselte zur Feier des Tages das Programm. Fur die Mumie spielte er die »Japanische Fackelserenade« und fur die Dame ohne Unterleib »Gluhwurmchen, schimm’re!« Sie waren effektvoller. Hinterher gab er fur Mungo, den australischen Waldmenschen, freiwillig noch den Prolog aus dem »Bajazzo« hinzu, sein Glanzstuck, das reichlich Gelegenheit zu Arpeggios und Oktaven bot.
Drau?en erwischte ihn Leopold Potzloch. »Prima!« sagte er anerkennend. »Viel feuriger als sonst! Was getrunken?«
»Nein«, erwiderte Kern. »Nur eben so eine Stimmung…«
»Junger Mann!« Potzloch griff nach seinem Kneifer. »Sie scheinen mich bis jetzt betrogen zu haben! Ich mu?te Gage von Ihnen zuruckverlangen! Von heute an sind Sie verp?ichtet, immer in Stimmung zu sein. Ein Kunstler kann das, verstehen Sie?«
»Ja.«
»Und als Ausgleich spielen Sie von nun an auch bei den zahmen Seehunden. Irgendwas Klassisches, verstanden?«
»Gut«, sagte Kern. »Ich kann ein Stuck aus der Neunten Symphonie; das wird passen.«
Er ging in die Bude und setzte sich in eine der hinteren Reihen. Zwischen einem Federhut und einer Glatze sah er weit vorn, umwolkt von Zigarettenrauch, Ruths Kopf. Er schien ihm plotzlich der schmalste und schonste Kopf der Welt zu sein.
Manchmal verschwand er, wenn die Zuschauer sich bewegten und lachten; dann, uberraschend, war er wieder da, wie eine ferne, sanfte Vision, und Kern konnte sich nur schwer vorstellen, da? er zu jemand gehorte, mit dem er nachher sprechen und neben dem er gehen wurde.
Steiner trat auf die Buhne. Er trug ein schwarzes Trikot, auf das ein paar astrologische Zeichen gemalt waren. Eine dicke Dame versteckte ihren Lippenstift in der Brusttasche eines Junglings, und Steiner forderte jemand auf, zu ihm auf die Buhne zu kommen.
Kern begann zu zogern. Er zogerte geradezu meisterhaft; selbst als er schon in der Mitte des Ganges war, wollte er noch einmal zuruck. Potzloch warf ihm einen zustimmenden Blick zu – irrtumlicherweise, denn es war keine reife kunstlerische Nuance, sondern Kern hatte nur einfach plotzlich das Gefuhl, nicht an Ruth vorbeigehen zu konnen.
Dann aber klappte alles und war ganz leicht.
Potzloch winkte Kern nach der Vorstellung zu sich. »Junger Mann«, sagte er,»was ist heute los mit Ihnen? Sie haben erstklassig gezogert. Sogar mit dem Schwei? der Verlegenheit auf der Stirn. Schwei? ist schwer darzustellen, das wei? ich. Wie haben Sie’s gemacht? Atem angehalten?«
»Ich glaube, es war nur Lampen?eber.«
»Lampen?eber?« Potzloch strahlte. »Endlich! Die echte Erregung des wirklichen Kunstlers vor dem Auftritt! Ich will Ihnen was sagen: Sie spielen bei den Seehunden und von jetzt an auch bei dem Waldmenschen aus Neukolln, und ich erhohe Ihr Gehalt um funf Schilling. Einverstanden?«
»Einverstanden!« sagte Kern. »Und zehn Schilling Vorschu?.« Potzloch starrte ihn an. »Das Wort Vorschu? kennen Sie auch schon?« Er zog einen Zehnschillingschein aus der Tasche. »Jetzt gibt’s keinen Zweifel mehr: Sie sind tatsachlich ein Kunstler!«
»ALSO, KINDER«, SAGTE Steiner,»lauft los! Aber seid um ein Uhr wieder hier zum Essen. Es gibt hei?e Piroggen, die heilige russische Nationalspeise. Nicht wahr, Lilo?«
Lilo nickte.
Kern und Ruth gingen uber die Wiese hinter der Schie?bude entlang, dem Larm der Karussells zu. Die Lichter und die Musik des gro?en Platzes schlugen ihnen wie eine helle, strahlende Woge entgegen und ubersturzten sie mit dem Gischt gedankenloser Frohlichkeit.
»Ruth!« Kern nahm ihren Arm. »Du sollst heute einen gro?en Abend haben! Mindestens funfzig Schilling werde ich fur dich ausgeben.«
»Das wirst du nicht!« Ruth blieb stehen.
»Doch! Ich werde funfzig Schilling fur dich ausgeben. Aber so wie das Deutsche Reich. Ohne sie zu haben. Du wirst es sehen. Komm!«
Sie gingen zur Geisterbahn. Es war ein Riesenkomplex mit hoch in die Luft gebauten Schienen, uber die kleine Wagen voll Gelachter und Geschrei sausten. Vor dem Eingang stauten sich die Menschen. Kern drangte sich durch und zog Ruth hinter sich her. Der Mann an der Kasse sah ihn an. »Hallo, George«, sagte er. »Auch wieder da? Geht hinein!«