waren, kehrte wieder um. Es schien etwas los zu sein.

Plotzlich, wie durch eine Explosion hervorgetrieben, quoll ein wirrer, ineinander ver?lzter Haufe von Studenten aus der Tur. Es war eine Prugelei. Kern unterschied jetzt auch die Rufe:»Juden ’raus!«-»Haut die Mosessohne in die krummen Fressen!«-»Jagt sie nach Palastina!«

Er ging rasch uber den Platz und stellte sich am rechten Flugel des Gebaudes auf. Er mu?te vermeiden, in die Prugelei zu geraten; gleichzeitig wollte er aber so nahe dabeisein, wie es ging, um Ruth herauszuholen.

Eine Gruppe von etwa drei?ig judischen Studenten versuchte zu entkommen. Dicht aneinandergedrangt, schoben sie sich die Treppe hinunter. Sie waren umringt von ungefahr hundert anderen, die von allen Seiten auf sie einschlugen.

»Haut sie auseinander!« schrie ein gro?er, schwarzhaariger Student, der judischer aussah als die meisten der Angegriffenen. »Packt sie einzeln!«

Er setzte sich an die Spitze eines Trupps, der mit gewaltigem Geschrei einen Keil in die Gruppe der Juden bohrte und nacheinander einzelne losri? und sie den andern hinwarf, die sie sofort lit Fausten, Bucherpacken und Stocken bearbeiteten.

Kern blickte unruhig nach Ruth aus. Er konnte sie nirgendwo sehen und hoffte, da? sie in der Universitat geblieben war. Oben auf der Freitreppe standen nur noch zwei Professoren. Einer, mit einem geteilten, grauen Franz-Joseph-Bart und einem rosigen Gesicht, der sich lachelnd die Hande rieb – und ein anderer, der hager und streng, mit unbewegter Miene in das Getummel hinabschaute.

Ein paar Polizisten kamen von jenseits des Platzes eilig heran. Der vorderste blieb in der Nahe Kerns stehen. »Stopp!« sagte er zu den beiden anderen. »Nicht einmischen!«

Die beiden blieben stehen. »Juden, was?«, fragte einer von ihnen.

Der erste nickte. Dann bemerkte er Kern und sah ihn scharf an. Kern tat, als habe er nichts gehort. Umstandlich zundete er sich eine Zigarette an und ging dabei wie absichtslos einige Schritte weiter fort. Die Polizisten verschrankten die Arme und sahen neugierig der Schlagerei zu.

Ein kleiner judischer Student entkam dem Getummel. Er blieb wie geblendet einen Augenblick stehen. Dann sah er die Polizisten und rannte auf sie zu.

»Kommen Sie!« schrie er. »Rasch! Helfen Sie! Man schlagt sie ja tot!«

Die Polizisten betrachteten ihn wie ein seltenes Insekt. Keiner von ihnen erwiderte etwas. Der Kleine starrte sie einen Moment fassungslos an. Dann drehte er sich ohne ein Wort wieder um und ging zuruck, auf das Getummel zu. Er war noch keine zehn Schritte weit gekommen, als sich zwei Studenten aus dem gro?en Haufen losten. Sie sturmten auf ihn zu. »Saujud!« schrie der vorderste. »Der Saujud jammert nach Gerechtigkeit! Sollst du haben!«

Er schlug ihn mit einem klatschenden Schlag ins Gesicht nieder. Der Kleine versuchte, wieder hochzukommen. Der andere stie? ihn mit einem Tritt vor den Bauch zuruck. Dann packten beide ihn an den Beinen und schleiften ihn wie einen Karren uber das P?aster. Der Kleine versuchte sich vergebens an den Steinen festzukrallen. Sein wei?es Gesicht starrte wie eine Maske des Entsetzens zuruck zu den Polizisten. Der Mund war wie ein schwarzes, offenes Loch, aus dem Blut uber das Kinn lief. Er schrie nicht.

Kern spurte seinen Gaumen trocken werden. Er hatte das Gefuhl, auf die beiden losspringen zu mussen. Aber er sah, da? die Polizisten ihn beobachteten, und steif und verkrampft vor Wut ging er zur andern Ecke des Platzes hinuber.

Die beiden Studenten kamen mit ihrem Opfer dicht an ihm voruber. Ihre Zahne schimmerten, sie lachten, und ihre Gesichter wiesen nicht die Spur von Bosheit auf. Sie leuchteten einfach nur von aufrichtigem, unschuldigem Vergnugen – als trieben sie irgendeinen Sport und schleiften nicht einen Menschen blutig.

Plotzlich kam Hilfe. Ein gro?er, blonder Student, der bisher herumgestanden hatte, verzog angewidert das Gesicht, als der Kleine an ihm vorbeigeschleppt wurde. Er streifte die Armel seiner Jacke etwas hoch, machte ein paar langsame Schritte und schlug dann mit zwei kurzen, wuchtigen Schlagen die Peiniger des Kleinen nieder.

Er hob den verschmierten Kleinen am Kragen hoch und stellte ihn auf die Beine. »So, nun mach, da? du wegkommst«, knurrte er. »Aber schnell!«

Darauf ging er, ebenso langsam und nachdenklich wie vorher, auf den tobenden Haufen zu. Er besah sich den schwarzhaarigen Anfuhrer und gab ihm dann einen so furchtbaren Hieb auf die Nase und sofort hinterher einen fast unsichtbaren Schlag gegen das Kinn, da? er krachend aufs P?aster sturzte.

In diesem Augenblick erblickte Kern Ruth. Sie hatte ihre Mutze verloren und befand sich am Rande des Getummels. Er lief auf sie zu. »Rasch! Komm rasch, Ruth! Wir mussen hier weg!«

Sie erkannte ihn im ersten Augenblick nicht. »Die Polizei!« stammelte sie, bla? vor Erregung,»die Polizei mu? helfen!«

»Die Polizei hilft nicht! Sie darf uns hier auch nicht erwischen! Wir mussen fort, Ruth!«

»Ja.« Sie sah ihn wie erwachend an. Ihr Gesicht veranderte sich. Es schien, als wollte sie weinen. »Ja, Ludwig«, sagte sie mit einer sonderbar zerbrochenen Stimme. »Komm, fort!«

»Ja, rasch!« Kern nahm ihren Arm und zog sie mit sich. Hinter sich horten sie Geschrei. Es gelang der Gruppe judischer Studenten durchzubrechen. Ein Teil von ihnen lief uber den Platz. Das Gedrange verschob sich, und plotzlich waren Kern und Ruth mittendrin.

»Ah, Rebekka! Sarah!« Einer der Angreifer griff nach Ruth.

Kern spurte etwas wie das Abschnellen einer Feder. Er war aufs hochste uberrascht, den Studenten langsam zusammensinken zu sehen. Er war sich nicht bewu?t, geschlagen zu haben.

»Hubscher Gerader!« sagte jemand anerkennend neben ihm.

Es war der gro?e blonde Student, der soeben zwei andere mit den Kopfen zusammenschlug. »Nichts Edles verletzt!« sagte er, lie? sie fallen wie nasse Sacke und griff nach zwei andern.

Kern bekam einen Schlag mit einem Spazierstock uber den Arm. Er sprang wutend los, in einen roten Nebel hinein und schlug um sich. Er zerschmetterte eine Brille und rannte jemand um. Dann drohnte es furchtbar, und der rote Nebel wurde schwarz.

ER ERWACHTE AUF der Polizeistation. Sein Kragen war zerrissen, seine Backe blutete, und sein Kopf drohnte immer noch. Er setzte sich auf.

»Servus!« sagte jemand neben ihm. Es war der gro?e blonde Student.

»Verdammt!« erwiderte Kern. »Wo sind wir?«

Der andere lachte. »In Haft, mein Lieber. Ein, zwei Tage, dann lassen sie uns schon wieder ’raus.«

»Mich nicht.« Kern sah sich um. Sie waren zu acht. Au?er dem Blonden alles Juden. Ruth war nicht dabei.

Der Student lachte wieder. »Was sehen Sie sich so um? Sie meinen, die Falschen waren hier? Irrtum, mein Lieber! Nicht der Angreifer, der Angegriffene ist schuldig! Er ist die Ursache des Argernisses. Modernste Psychologie.«

»Haben Sie gesehen, was aus dem Madchen geworden ist, mit dem ich zusammen war?« fragte Kern.

»Das Madchen?« Der Blonde dachte nach. »Es wird ihr nichts passiert sein. Was soll ihr schon geschehen? Madchen la?t man doch in Ruhe bei einer Prugelei.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Ja. Ziemlich. Au?erdem kam ja doch gleich die Polizei.«

Kern starrte vor sich hin. Die Polizei. Das war es ja. Aber Ruths Pa? war noch gultig. Man konnte ihr nicht allzuviel tun. Doch auch das war schon zuviel.

»Sind au?er uns noch mehr verhaftet worden?« fragte er.

Der Blonde schuttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich war der letzte. An mich gingen sie nur zogernd ’ran.«

»Bestimmt nicht?«

»Nein. Dann waren sie auch hier. Wir sind ja vorlau?g noch auf der Wachstube.«

Kern atmete auf. Vielleicht war Ruth nichts passiert.

Der blonde Student betrachtete ihn ironisch. »Katzenjammer, was? Geht einem immer so, wenn man unschuldig ist. Besser, man hat einen Grund fur das, was einem passiert. Sehen Sie, der einzige, der nach gutem, altem Recht hier sitzt, bin ich. Ich habe mich freiwillig eingemischt. Deshalb bin ich auch frohlich.«

»Es war anstandig von Ihnen.«

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