»Mich haben sie nur zum zweiten Male ohne Pa? erwischt.«
»Das ist schlimmer«, grunzte der Ba?. »Rechnen Sie ruhig mit vier Wochen.«
»Mein Gott! Und ich habe ein Huhn in meinem Koffer. Ein gebratenes Huhn! Das ist dann verfault, bis ich ’rauskomme!«
»Ohne Zweifel!« bestatigte der Ba?.
Kern horchte auf. »Hatten Sie nicht schon fruher einmal ein Huhn in Ihrem Koffer?« fragte er.
»Ja! Das ist richtig!« erwiderte der Neue erstaunt nach einer Weile. »Woher wissen Sie das, mein Herr?«
»Wurden Sie damals nicht auch verhaftet?«
»Naturlich! Wer fragt mich da? Wer sind Sie? Wie kommt es, da? Sie das wissen, mein Herr?« fragte die Stimme aus dem Dunkel aufgewuhlt.
Kern lachte. Er lachte plotzlich so, da? er fast erstickte. Es war wie ein Zwang, ein schmerzhafter Krampf, es loste sich alles darin, was sich in den zwei Monaten in ihm aufgespeichert hatte, die Wut uber die Verhaftung, die Verlassenheit, die Angst um Ruth, die Energie, sich nicht zu verlieren, das Grauen vor dem Erhangten, er lachte und lachte, sto?weise und heftig und konnte nicht aufhoren. »Das Poulet!« stammelte er. »Tatsachlich, es ist das Poulet! Und wieder ein Huhn im Koffer! So ein Zufall!«
»Zufall nennen Sie das?« ?uchte das Poulet wutend. »Ein ganz verdammtes Schicksal ist so was!«
»Sie scheinen Ungluck mit Brathuhnern zu haben«, sagte der Ba?.
»Ruhe!« schnaubte ein anderer. »Die Pest uber eure Brathuhner! Einem Menschen ohne Heimat nachts einen solchen Kohldampf im Bauch zu entfachen!«
»Vielleicht besteht zwischen ihm und den Poulets ein tieferer Zusammenhang«, orakelte der Ba?.
»Er kann’s ja mal mit gebratenen Schaukelpferden versuchen!« brullte der Mann ohne Heimat.
»Oder mit einem Magenkrebs«, wieherte ein hoher Quetschtenor.
»Vielleicht war er in einem fruheren Dasein einmal ein Fuchs«, vermutete der Ba?. »Und jetzt rachen sich die Huhner dafur an ihm.«
Das Poulet kam noch einmal durch. »So eine gottverdammte Gemeinheit, einen Menschen im Ungluck noch zu verhohnen!«
»Wann denn sonst?« fragte salbungsvoll der Ba?.
»Ruhe!« schrie die Wache von drau?en. »Hier ist ein anstandiges Gefangnis und kein Nachtlokal!«
11
Kern unterschrieb seine zweite Ausweisung aus Osterreich. Sie war lebenslanglich. Er fuhlte diesmal nichts mehr dabei. Er dachte nur daran, da? er wahrscheinlich am nachsten Vormittag wieder im Prater sein wurde.
»Haben Sie in Wien noch irgendwelche Sachen mitzunehmen?« fragte der Beamte.
»Nein, nichts.«
»Sie wissen, da? Sie mindestens drei Monate Gefangnis riskieren, wenn Sie wieder nach Osterreich kommen?«
»Ja.«
Der Beamte sah Kern eine Weile an. Dann griff er in die Tasche und schob ihm einen Funfschillingschein zu. »Hier, trinken Sie eins dafur. Ich kann die Gesetze auch nicht andern. Nehmen Sie Gumpoldskirchner. Der ist dieses Jahr am besten. Und nun los!«
»Danke!« sagte Kern uberrascht. Es war das erstemal, da? er auf der Polizei etwas geschenkt bekam. »Danke vielmals! Ich kann Geld gut brauchen.«
»Schon gut, schon gut! Schauen Sie jetzt, da? Sie hinauskommen! Ihr Begleitmann wartet schon im Vorzimmer.«
Kern steckte das Geld ein. Er konnte damit nicht nur zwei Viertel Gumpoldskirchner bezahlen, sondern auch ein Stuck mit der Bahn nach Wien zuruckfahren. Das war weniger gefahrlich.
Sie fuhren denselben Weg hinaus wie das erstemal mit Steiner. Kern hatte das Gefuhl, da? es seitdem zehn Jahre her waren.
Von der Station aus mu?ten sie noch ein Stuck gehen. Nach einiger Zeit kamen sie an einer Heurigenkneipe vorbei. Ein paar Tische und Stuhle standen drau?en im Vorgarten. Kern erinnerte sich an den Rat des Beamten. »Wollen wir ein Glas trinken?« fragte er den Begleitmann.
»Was?«
»Gumpoldskirchner. Der ist am besten dieses Jahr.«
»Konnen wir machen! Es ist sowieso noch zu hell fur den Zoll.«
Sie setzten sich in den Vorgarten und tranken den herben, klaren Gumpoldskirchner. Es war sehr still und friedlich rundumher. Der Himmel war klar und hoch und apfelgrun. Ein Flugzeug summte wie ein Falke in der Richtung nach Deutschland. Der Wirt brachte ein Windlicht und stellte es auf den Tisch. Es war Kerns erster Abend im Freien. Er hatte seit zwei Monaten keinen offenen Himmel und kein offenes Land mehr gesehen. Es schien ihm, als ob er zum erstenmal wieder atmete. Er sa? still und geno? das bi?chen Frieden, das er jetzt noch hatte. In ein, zwei Stunden wurden die Sorge und die Hetze wieder losgehen.
»Es ist doch wirklich zum Speiben!« knurrte der Beamte plotzlich.
Kern sah auf. »Das ?nde ich auch!«
»Ich meine das anders.«
»Kann ich mir denken.«
»Ich meine mit euch Emigranten«, erklarte der Beamte murrisch. »Ihr bringt einem ja direkt die Berufsehre ins Wanken! Nichts als Emigranten hat man mehr zu eskortieren! Jeden Tag dasselbe! Immer von Wien zur Grenze. Was ist das schon fur ein Leben! Nie mehr ein ehrlicher, schoner Handschellentransport!«
»Vielleicht werden Sie uns in ein, zwei Jahren auch in Handschellen zur Grenze bringen«, erwiderte Kern trocken.
»Das ist doch kein Ersatz!« Der Beamte sah ihn ziemlich verachtlich an. »Ihr seid doch nichts, im polizeilichen Sinne! Ich habe den vierfachen Raubmorder Muller II zu eskortieren gehabt, Revolver schu?bereit – und dann vor zwei Jahren den Frauenschlachter Bergmann und spater den Aufschlitzer Brust – gar nicht zu reden von dem Leichenschander Teddy Blumel! Ja, das waren noch Zeiten! Aber heute, ihr – mit euch krepiert man ja vor Langeweile!« Er seufzte und trank sein Glas aus. »Immerhin – Sie verstehen wenigstens etwas von Wein. Wollen noch ein Viertel trinken! Diesmal zahle ich.«
»Gut.«
Sie tranken eintrachtig das zweite Viertel. Dann brachen sie auf. Es war inzwischen dunkel geworden. Fledermause und Nachtschmetterlinge huschten uber den Weg.
Das Zollhaus war hell erleuchtet. Die alten Beamten waren noch da. Der Begleitmann lieferte Kern ab. »Setzen Sie sich derweil herein«, sagte einer der Beamten. »Es ist noch zu fruh.«
»Ich wei?«, erwiderte Kern.
»So, Sie wissen das schon?«
»Naturlich. Die Grenzen sind ja unsere Heimat.«
BEIM MORGENGRAUEN WAR Kern wieder im Prater. Er wagte nicht, zum Wohnwagen Steiners zu gehen, um ihn zu wecken, weil er nicht wu?te, was inzwischen passiert war. Er wanderte umher. Die Baume standen bunt im Nebel. Es war Herbst geworden, wahrend er im Gefangnis war. Vor dem grau verhangten Karussell blieb er eine Zeitlang stehen. Dann hob er die Zeltplane auf und kroch hinein. Er setzte sich in eine Gondel. So war er sicher vor umherstreifenden Polizisten.
Er erwachte, als er jemand lachen horte. Es war hell, und die Zeltplanen waren zuruckgeschoben. Rasch fuhr er hoch. Steiner stand im blauen Overall vor ihm.
Kern sprang mit einem Satz aus der Gondel. Er war plotzlich zu Hause. »Steiner!« rief er strahlend. »Gottlob, ich bin wieder da!«
»Das sehe ich. Der verlorene Sohn, heimgekehrt aus den Verliesen der Polizei! Komm, la? dich anschauen! Ein bi?chen bla? und mager geworden vom Gefangnisfra?! Warum bist du denn nicht ’reingekommen?«
»Ich wu?te nicht, ob du noch da warst.«