»Nein. Halbjude.«
»Religion?«
»Evangelisch.«
»Evangelisch, ach so! Da konnen wir wenig fur Sie tun. Unsere Mittel sind sehr beschrankt, und als religiose Gemeinde sind unsere Hauptsorge naturlich die – Sie verstehen – Juden unseres Glaubens.«
»Ich verstehe«, sagte Kern. »Aus Deutschland bin ich ’rausge?ogen, weil ich einen judischen Vater habe. Sie hier konnen mir nicht helfen, weil ich eine christliche Mutter habe. Komische Welt!«
Der junge Mann zuckte die Achseln. »Es tut mir leid. Aber wir haben nur private Spenden zur Verfugung.«
»Konnen Sie mir wenigstens sagen, wo ich ein paar Tage unangemeldet wohnen kann?« fragte Kern.
»Leider nicht. Ich kann es nicht und darf es auch nicht. Die Vorschriften sind sehr streng, und wir haben uns genau daran zu halten. Sie mussen zur Polizei gehen und um eine Aufenthaltserlaubnis ersuchen.«
»Na«, sagte Kern,»darin habe ich schon eine gewisse Erfahrung.«
Der junge Mann sah ihn an. »Warten Sie doch bitte noch einen Augenblick.« Er ging in ein Buro im Hintergrunde und kam bald darauf wieder. »Wir konnen Ihnen ausnahmsweise mit zwanzig Franken helfen. Mehr konnen wir leider nicht fur Sie tun.«
»Danke vielmals! So viel habe ich gar nicht erwartet!«
Kern faltete den Schein sehr sorgfaltig zusammen und steckte ihn in seine Brieftasche. Es war das einzige Schweizer Geld, das er hatte.
Auf der Stra?e blieb er stehen. Er wu?te nicht, wohin er gehen sollte.
»Nun, Herr Kern«, sagte da jemand hinter ihm etwas spottisch.
Kern fuhr herum. Ein junger, ziemlich elegant angezogener Mensch, ungefahr in seinem Alter, stand hinter ihm. Er lachelte. »Erschrecken Sie nicht! Ich war auch eben dort oben.« Er wies auf die Tur der Kultusgemeinde. »Sie sind das erstemal in Zurich, wie?«
Kern sah ihn eine Sekunde mi?trauisch an. »Ja«, sagte er dann. »Ich bin sogar das erstemal in der Schweiz.«
»Das habe ich mir gedacht. Ihre Geschichte war so. Etwas ungeschickt – verzeihen Sie. Es war nicht notwendig, da? Sie sagten, Sie waren evangelisch. Aber Sie haben ja auch so eine Unterstutzung bekommen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein paar Aufklarungen geben. Ich hei?e Binder. Wollen wir einen Kaffee trinken?«
»Ja, gern. Gibt es hier ein Emigrantencafe oder so etwas?«
»Mehrere. Wir gehen am besten ins Cafe Greif. Das ist nicht weit von hier, und die Polizei kennt es noch nicht so genau. Bis jetzt war wenigstens noch keine Razzia da.«
Sie gingen zum Cafe Greif. Es glich dem Cafe Sperler in Wien wie ein Ei dem andern.
»Woher kommen Sie?« fragte Binder.
»Aus Wien.«
»Da mussen Sie einiges umlernen. Passen Sie auf! Sie konnen naturlich bei der Polizei eine kurze Aufenthaltserlaubnis bekommen. Nur fur ein paar Tage selbstverstandlich, dann mussen Sie ’raus. Die Chance, ohne Papiere eine zu bekommen, ist augenblicklich keine zwei Prozent; die Chance, sofort ausgewiesen zu werden, etwa achtundneunzig. Wollen Sie das riskieren?«
»Auf keinen Fall.«
»Richtig! Sie riskieren namlich au?erdem, da? Ihnen sofort die Einreise gesperrt wird – auf ein Jahr, drei Jahre, funf und mehr, je nachdem. Wenn Sie danach erwischt werden, gibt es Gefangnis.«
»Das wei? ich«, sagte Kern. »Wie uberall.«
»Gut. Sie schieben das hinaus, wenn Sie illegal bleiben. Naturlich nur, bis Sie zum erstenmal erwischt werden. Das ist Geschicklichkeits- und Gluckssache.«
Kern nickte. »Wie steht es mit Arbeitsmoglichkeiten?«
Binder lachte. »Ausgeschlossen. Die Schweiz ist ein kleines Land und hat selbst genug Arbeitslose.«
»Also das Ubliche: legal oder illegal verhungern oder gegen die Gesetze versto?en.«
»Exakt!« erwiderte Binder glatt und gewandt. »Nun zur Frage der Zonen. Zurich ist sehr hei?. Sehr eifrige Polizei. In Zivil, das ist das Unangenehme. Hier halten sich nur Routiniers. Keine Dilettanten. Gut ist augenblicklich die franzosische Schweiz. Genf vor allem. Sozialistische Regierung. Das Tessin ist auch nicht schlecht, aber die Stadte sind zu klein. Wie arbeiten Sie? Glatt oder mit Pelle?«
»Was hei?t das?«
»Das hei?t, ob Sie nur versuchen, eine Unterstutzung zu bekommen, oder ob Sie dasselbe tun, indem Sie etwas zu verkaufen bei sich haben.«
»Ich mochte etwas verkaufen.«
»Gefahrlich. Gilt als Arbeit. Doppelt strafbar. Illegaler Aufenthalt und illegale Arbeit. Besonders, wenn Sie angezeigt werden.«
»Angezeigt?«
»Mein Lieber«, erwiderte der Fachmann Binder geduldig belehrend,»ich bin schon einmal von einem Juden angezeigt worden, der mehr Millionen hat als Sie Franken. Er war entrustet, weil ich ihn um Geld fur eine Fahrkarte nach Basel bat. Also, wenn Sie etwas verkaufen, nur kleine Sachen: Bleistifte, Schnursenkel, Knopfe, Radiergummi, Zahnbursten und so etwas. Nie einen Koffer, einen Kasten, nicht einmal eine Aktentasche mitnehmen. Selbst damit sind schon Leute ’reingefallen. Alles am besten in den Taschen bei sich tragen. Das wird jetzt im Herbst leichter, weil Sie einen Mantel anziehen konnen. Womit handeln Sie?«
»Seife, Parfums, Toilettewasser, Kamme, Sicherheitsnadeln und so was Ahnliches.«
»Gut. Je wertloser ein Gegenstand, desto besser ist der Verdienst. Ich selbst handle grundsatzlich nicht. Ich bin ein einfacher Unterstutzungstiger. Vermeide so den Paragraphen wegen illegaler Arbeit und falle nur unter Bettelei und Landstreicherei. Wie ist es mit Adressen? Haben Sie welche?«
»Was fur Adressen?«
Binder lehnte sich zuruck und sah Kern erstaunt an. »Um des Himmels willen!« sagte er. »Das ist doch das wichtigste! Adressen von Leuten, an die Sie sich wenden konnen, naturlich. Sie konnen doch nicht aufs Geratewohl von Haus zu Haus laufen! Dann sind Sie ja in drei Tagen erledigt.«
Er bot Kern eine Zigarette an. »Ich werde Ihnen eine Anzahl zuverlassiger Adressen geben«, fuhr er fort. »Drei Serien – fromm judische, gemischte und christliche. Sie bekommen sie umsonst. Ich selbst habe fur meine ersten zwanzig Franken zahlen mussen. Die Leute sind naturlich zum Teil furchtbar uberlaufen; aber sie machen Ihnen wenigstens keine Schwierigkeiten.«
Er musterte Kerns Anzug. »Ihre Kleidung ist in Ordnung. Man mu? in der Schweiz darauf halten. Wegen der Detektive. Wenigstens der Mantel mu? gut sein; er deckt unter Umstanden einen zerfetzten Anzug, der Argwohn erwecken konnte. Allerdings gibt es eine Menge Leute, die einem eine Unterstutzung verweigern, wenn man noch einen Anzug tragt, den man schont und p?egt. Haben Sie eine gute Geschichte, die Sie erzahlen konnen?«
Er sah auf und bemerkte Kerns Blick. »Mein Lieber«, sagte er,»ich wei?, was Sie jetzt denken. Ich habe es auch einmal gedacht. Aber glauben Sie mir; selbst sich im Elend zu erhalten, ist schon eine Kunst. Und die Wohltatigkeit ist eine Kuh, die wenig und schwer Milch gibt. Ich kenne Leute, die drei verschiedene Geschichten auf Lager haben, eine sentimentale, eine brutale und eine sachliche; je nachdem, was der Mann, der seine paar Franken Unterstutzung ’rausrucken soll, horen will. Sie lugen, gewi?. Aber nur, weil sie mussen. Die Grundgeschichte ist immer dieselbe: Not, Flucht und Hunger.«
»Ich wei?«, erwiderte Kern. »Daran habe ich auch gar nicht gedacht. Ich war nur verblufft, da? Sie so viel und alles so genau wissen.«
»Konzentrierte Erfahrung von drei Jahren aufmerksamsten Lebenskampfes. Ich bin gerissen, ja. Das sind wenige. Mein Bruder war es nicht. Er hat sich vor einem Jahr erschossen.«
Binders Gesicht war einen Augenblick verzerrt. Dann wurde es wieder glatt. Er stand auf. »Wenn Sie nicht wissen, wohin Sie sollen, konnen Sie die Nacht bei mir schlafen. Ich habe zufallig fur eine Woche eine sichere Bude. Das Zimmer eines Zuricher Bekannten, der auf Urlaub ist. Ich bin ab elf Uhr hier. Um zwolf ist Polizeistunde. Seien Sie vorsichtig nach zwolf. Es wimmelt dann von Detektiven auf den Stra?en.«
»Die Schweiz scheint verdammt hei? zu sein«, sagte Kern. »Gott sei Dank, da? ich Sie getroffen habe. Ohne Sie ware ich wahrscheinlich schon am ersten Tage erwischt worden. Ich danke Ihnen herzlich! Sie haben mir sehr geholfen!«