»Vorlau?g noch. Aber nun wollen wir erst mal fruhstucken. Danach sieht die Welt anders aus. Lilo!« rief Steiner zum Wagen hinuber. »Unser Kleiner ist wieder da! Er braucht ein kraftiges Fruhstuck!« Er wandte sich wieder Kern zu. »Gewachsen und etwas mannlicher geworden! Was gelernt, Baby, in der Zeit?«

»Ja. Da? man hart werden mu?, wenn man nicht krepieren will. Und da? sie mich nicht kaputtkriegen werden! Au?erdem Sacke nahen und Franzosisch. Und da? befehlen oft mehr nutzt als bitten.«

»Allerhand!« Steiner schmunzelte. »Allerhand, Kindchen!«

»Wo ist Ruth?« fragte Kern.

»In Zurich. Sie ist ausgewiesen worden. Sonst ist ihr nichts passiert. Lilo hat Briefe fur dich. Sie ist unser Postamt. Hat ja als einzige richtige Papiere. Ruth hat an sie fur dich geschrieben.«

»In Zurich…«, sagte Kern.

»Ja, Baby. Ist das schlimm?«

Kern sah ihn an. »Nein.«

»Sie wohnt da bei Bekannten. Du wirst eben auch bald in Zurich sein, das ist alles. Hier wird es ohnedies langsam hei?.«

»Ja…«

Lilo kam. Sie begru?te Kern, als sei er auf einem Spaziergang gewesen. Fur sie waren zwei Monate nichts, was zu erortern war. Sie lebte seit fast zwanzig Jahren au?erhalb Ru?lands und hatte Menschen von China und Sibirien wiederkommen sehen, die zehn, funfzehn Jahre verschollen gewesen waren. Mit ruhigen Bewegungen stellte sie ein Tablett mit Tassen und einer Kanne Kaffee auf den Tisch.

»Gib ihm seine Briefe, Lilo«, sagte Steiner. »Er fruhstuckt doch nicht eher.«

Lilo zeigte auf das Tablett. Die Briefe lehnten dort an einer Tasse. Kern ri? sie auf. Er begann zu lesen, und plotzlich verga? er alles. Es waren die ersten Briefe, die er von Ruth bekam. Es waren die ersten Liebesbriefe seines Lebens. Alles ?el durch Zauberei von ihm ab – die Enttauschung, da? sie nicht da war, die Unruhe, die Angst, die Unsicherheit, das Alleinsein -, er las und die schwarzen Tintenstriche begannen zu leuchten und zu phosphoreszieren – da war auf einmal ein Mensch, der sich um ihn sorgte, der verzweifelt war uber das, was geschehen war, und der ihm sagte, da? er ihn liebe. Deine Ruth. Deine Ruth. Mein Gott, dachte er, deine Ruth! Deine! Es schien fast unmoglich. Deine Ruth. Was hatte ihm bisher schon gehort? Was war sein gewesen? Ein paar Flaschen, etwas Seife und die Sachen, die er trug. Und jetzt ein Mensch? Ein ganzer Mensch? Das schwere, schwarze Haar, die Augen! Es war fast unmoglich!

Er blickte auf. Lilo war zum Wagen gegangen. Steiner rauchte eine Zigarette. »Alles in Ordnung, Baby?« fragte er.

»Ja. Sie schreibt, ich solle nicht kommen. Ich solle nicht noch einmal ihretwegen etwas riskieren.«

Steiner lachte. »Was sie alles so schreiben, was?« Er go? ihm eine Tasse Kaffee ein. »Komm, trink das erst einmal und i?.«

Er lehnte sich an den Wagen und sah Kern zu, wie er a? und trank. Die Sonne kam durch den dunnen, wei?en Nebel. Kern fuhlte sie auf seinem Gesicht; er fuhlte sie, als atme er Wein ein. Am Morgen vorher hatte er aus einer abgesto?enen Blechschale in einem stinkenden Raum eine lauwarme Bruhe geloffelt, und der Landstreicher Leo hatte dazu ein Furzkonzert gegeben – seine Spezialitat nach dem Aufwachen. Jetzt wehte ein leichter, frischer Morgenwind uber seine Hande, er a? wei?es Brot und trank guten Kaffee dazu, ein Brief Ruths knisterte in seiner Tasche, und Steiner lehnte neben ihm am Wagen.

»Einen Vorteil hat es, wenn man im Kasten war«, sagte er. »Alles nachher ist wunderbar.«

Steiner nickte. »Du mochtest am liebsten heute abend los, was?« fragte er.

Kern sah ihn an. »Ich mochte weg, und ich mochte hierbleiben. Ich wollte, wir konnten alle zusammen gehen.«

Steiner gab ihm eine Zigarette. »Bleib vorlau?g mal zwei, drei Tage hier«, sagte er. »Du siehst erbarmlich aus. Der Gefangnisfra? hat dich ’runtergebracht. Futtere dich hier etwas heraus. Du brauchst Mark in den Knochen fur die Landstra?e. Besser, du wartest ein paar Tage, als da? du unterwegs zusammenklappst und geschnappt wirst. Die Schweiz ist kein Kinderspiel. Fremdes Land – da mu? man gut beieinander sein.«»Kann ich hier denn irgend etwas tun?«

»Du kannst in der Schie?bude helfen. Und abends beim Hellsehen. Dafur habe ich zwar schon jemand anders nehmen mussen; aber zwei sind immer besser.«

»Gut«, sagte Kern. »Du hast sicher recht. Ich mu? mich wohl erst etwas zurecht?nden, bevor ich losgehe. Ich habe irgendwie einen entsetzlichen Hunger. Nicht nur im Magen – in den Augen, im Kopf, uberall. Besser, ich werde erst einmal ein bi?chen klarer.«

Steiner lachte. »Richtig! Da kommt Lilo mit hei?en Piroggen. I? grundlich, Baby. Ich gehe inzwischen Potzloch aufwecken.«

Lilo stellte die Platte vor Kern hin. Er begann aufs neue zu essen. Zwischendurch tastete er nach seinen Briefen.

»Bleiben Sie hier?« fragte Lilo in ihrem langsamem, etwas harten Deutsch.

Kern nickte.

»Keine Angst«, sagte Lilo. »Sie mussen keine Angst haben um Ruth. Sie kommt durch. Ich kenne Gesichter.«- Kern wollte ihr sagen, da? er deswegen keine Angst habe. Da? er nur Sorge habe, sie konne in Zurich gefa?t werden, bevor er ankame… Doch ein Blick in das dunkle, von einer ungeheuren Trauer uberschattete Gesicht der Russin lie? ihn verstummen. Alles war klein und belanglos dagegen. Aber sie schien trotzdem etwas gespurt zu haben. »Nicht schlimm«, sagte sie. »Solange anderer lebt, nie schlimm.«

ES WAR ZWEI Tage spater, nachmittags. Ein paar Leute schlenderten auf die Schie?bude zu. Lilo war mit einer Gruppe junger Burschen beschaftigt, und die Leute kamen zu Kern. »Los! Schie?en wir einmal!«

Kern gab dem ersten eine Buchse. Die Leute schossen zunachst ein paarmal auf Figuren, die herunterrasselten, und auf dunne Glaskugeln, die im Strahl eines kleinen Springbrunnens tanzten. Dann begannen sie die Pramientafel zu studieren und forderten Scheiben, um sich Gewinne zu erschie?en.

Die ersten beiden schossen vierunddrei?ig und vierundvierzig Punkte. Sie gewannen einen Pluschbaren und ein versilbertes Zigarettenetui. Der dritte, ein untersetzter Mann mit hochstehenden Haaren und einer dichten, braunen Schnurrbartburste, zielte lange und sorgfaltig und kam auf 48 Ringe. Seine Freunde brullten Beifall. Lilo warf einen kurzen Blick heruber. »Noch mal funf Schu?!« forderte der Mann und schob den Hut zuruck. »Mit demselben Gewehr.«

Kern lud. Der Mann machte mit drei Schu? 36 Ringe. Jedesmal eine Zwolf. Kern sah den silbernen Obstkorb mit den Bestecken, das Erb- und Familienstuck, das ungewinnbar war, in Gefahr. Er nahm eine von Direktor Potzlochs Gluckskugeln. Der nachste Schu? war eine Sechs.

»Holla!« Der Mann setzte das Gewehr ab. »Da stimmt was nicht. Ich bin tadellos abgekommen.«

»Vielleicht haben Sie doch etwas gezuckt«, sagte Kern. »Es ist ja dasselbe Gewehr.«

»Ich zucke nicht«, erwiderte der Mann gereizt. »Ein alter Polizeifeldwebel zuckt nicht. Ich wei?, wie ich schie?e.«

Diesmal zuckte Kern. Ein Polizist, auch in Zivil, ging ihm auf die Nerven. Der Mann starrte ihn an. »Da stimmt was nicht, Sie!« sagte er drohend.

Kern erwiderte nichts. Er reichte ihm das geladene Gewehr wieder hin. Diesmal hatte er eine normale Kugel hineingegeben. Der Feldwebel sah ihn noch einmal an, ehe er zu zielen begann. Er scho? eine Zwolf und setzte das Gewehr ab. »Na?«

»Kommt vor«, sagte Kern.

»Kommt vor? Kommt nicht vor! Vier Zwolfer und einen Sechser! Das glauben Sie doch wohl selber nicht, was?«

Kern schwieg. Der Mann naherte ihm sein rotes Gesicht. »Ich kenne Sie doch irgendwoher…«

Seine Freunde unterbrachen ihn. Larmend verlangten sie einen Freischu?. Der Sechser sei ungultig. »Ihr habt was mit den Kugeln, ihr Bruder!« schrien sie.

Lilo kam heran. »Was ist los?« fragte sie. »Kann ich Ihnen helfen? Der junge Mann ist noch neu hier.«

Die anderen redeten auf sie ein. Der Polizist sprach nicht mit. Er blickte Kern an und in seinem Kopf arbeitete es. Kern hielt den Blick aus. Er erinnerte sich an alle Lehren, die ihm sein unruhiges Leben gegeben hatte. »Ich will mit dem Direktor sprechen«, sagte er nachlassig. »Ich kann hier nichts entscheiden.« Er dachte daran, dem Polizisten einen Schu? frei zu geben. Aber er sah Potzloch bereits tosen, wenn das Erbstuck der Familie seiner

Вы читаете Liebe Deinen Nachsten
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ОБРАНЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату