Binder wehrte ab. »Das ist doch selbstverstandlich bei Leuten, die ganz unten sind. Kameraderie der Illegalen – fast wie bei Verbrechern. Jeder von uns kann morgen in der Patsche sein und auch Hilfe brauchen. Also eventuell um elf hier!«
Er bezahlte den Kaffee, gab Kern die Hand und ging sicher und elegant hinaus.
Kern wartete im Cafe Greif, bis es dunkel wurde. Er lie? sich einen Stadtplan geben und zeichnete sich den Weg zu Ruths Wohnung auf. Dann brach er auf und ging rasch, in einer unruhigen Spannung, die Stra?en entlang. Es dauerte ungefahr eine halbe Stunde, ehe er das Haus fand. Es lag in einem verwinkelten, ruhigen Stadtteil und schimmerte gro? und wei? im Mondlicht. Vor der Tur blieb er stehen. Er blickte auf die breite Messingklinke, und die Spannung erlosch plotzlich. Er glaubte auf einmal nicht, da? er nur eine Treppe hinaufzugehen brauchte, um Ruth zu ?nden. Es war zu einfach, nach all den Monaten. Er war nicht gewohnt, da? etwas einfach war. Er starrte zu den Fenstern empor. Vielleicht war sie gar nicht im Hause. Vielleicht war sie auch schon nicht mehr in Zurich.
Er ging an dem Haus vorbei. Ein paar Ecken weiter war ein Tabakladen. Er trat ein. Eine murrische Frau kam hinter dem Aufbau der Theke hervor. -»Ein Paket Parisiennes«, sagte Kern.
Die Frau schob das Packchen vor ihn hin. Dann griff sie in einen Kasten unter der Theke, holte Streichholzer hervor und legte sie auf die Zigaretten. Es waren zwei Pakete, die anein-anderklebten. Die Frau sah es, loste sie voneinander und warf eins zuruck in den Kasten. »Funfzig Rappen«, sagte sie.
Kern bezahlte. »Kann ich einmal telefonieren?« fragte er.
Die Frau nickte. »Da links in der Ecke steht der Apparat.«
Kern suchte im Telefonbuch die Nummer Neumann – es schien Hunderte von Neumanns in dieser Stadt zu geben. Endlich fand er den richtigen. Er hob den Horer ab und nannte die Nummer. Die Frau blieb an der Theke stehen und beobachtete ihn. Kern drehte ihr argerlich den Rucken zu. Es dauerte lange, bis sich jemand meldete.
»Kann ich mit Fraulein Holland sprechen?« fragte er in den schwarzen Trichter hinein.
»Wer ist dort?«
»Ludwig Kern.«
Die Stimme im Telefon schwieg einen Augenblick. »Ludwig…«, sagte sie dann wie atemlos. »Du, Ludwig?«
»Ja…« Kern fuhlte plotzlich sein Herz hart schlagen, als ware es ein Hammer. »Ja, bist du es, Ruth? Ich habe deine Stimme nicht erkannt. Wir haben ja noch nie miteinander telefoniert.«
»Wo bist du denn? Von wo rufst du an?«
»Ich bin hier. In Zurich. In einem Zigarettenladen.«
»Hier?«
»Ja, in derselben Stra?e wie du.«
»Warum kommst du denn nicht her? Ist etwas passiert?«
»Nein, nichts. Ich bin heute angekommen. Ich dachte schon, du warst nicht mehr da. Wo konnen wir uns treffen?«
»Hier! Komm her. Rasch! Wei?t du das Haus? Es ist in der zweiten Etage.«
»Ja, ich wei?. Aber geht es denn? Ich meine wegen der Leute, bei denen du wohnst?«
»Es ist niemand hier. Ich bin allein. Alle sind fort uber das Wochenende. Komm!«
»Ja.«
Kern legte den Horer auf. Er sah sich abwesend um. Es schien nicht mehr derselbe Laden zu sein wie vorher. Dann ging er zur Theke zuruck. »Was kostet das Gesprach?« fragte er.
»Zehn Rappen.«
»Nur zehn Rappen?«
»Teuer genug.« Die Frau klaubte das Nickelstuck auf. »Vergessen Sie Ihre Zigaretten nicht.«
»Ach so… ja…«
Kern trat auf die Stra?e. Ich will jetzt nicht laufen, dachte er. Wer lauft, ist verdachtig. Ich will mich zusammenhalten. Steiner wurde auch nicht laufen. Ich will gehen. Niemand soll mir etwas anmerken. Aber ich kann schnell gehen. Ich kann sehr schnell gehen. Das ist ebenso rasch, als wenn ich laufe.
Ruth stand auf der Treppe. Es war dunkel, und Kern konnte sie nur undeutlich sehen. »Nimm dich in acht!« sagte er heiser und eilig,»ich bin schmutzig! Meine Sachen sind noch am Bahnhof. Ich konnte mich nicht waschen und umziehen!«
Sie erwiderte nichts. Sie stand vorgebeugt am Treppenabsatz und wartete auf ihn. Er lief die Stufen hinauf, und plotzlich war sie bei ihm, warm und wirklich, das Leben und mehr als das Leben.
Sie lag still in seinem Arm. Er horte sie atmen und fuhlte ihr Haar. Er stand regungslos, und die undeutliche Dunkelheit um ihn herum schien zu schwanken. Dann merkte er, da? sie weinte. Er machte eine Bewegung. Sie schuttelte den Kopf an seiner Schulter, ohne ihn loszulassen. »La? mich nur. Ich bin gleich durch.«
Unten ging eine Tur. Kern drehte sich vorsichtig und fast unmerklich zur Seite, um die Treppe ubersehen zu konnen. Er horte Schritte. Dann klickte ein Schalter, und es wurde hell. Ruth schreckte auf. »Komm! Komm rasch herein!« Sie zog ihn zur Tur.
SIE SASSENIM Wohnzimmer der Familie Neumann. Es war das erstemal seit langer Zeit, da? Kern wieder in einer Wohnung war. Das Zimmer war burgerlich und ohne viel Geschmack eingerichtet, mit gediegenen Mahagonimobeln, einem modernen Perserteppich, ein paar mit Rips uberzogenen Sesseln und einigen Lampen mit Schirmen aus farbiger Seide – aber Kern erschien es wie eine Vision des Friedens und eine Insel der Sicherheit.
»Seit wann ist dein Pa? abgelaufen?« fragte er.
»Seit sieben Wochen, Ludwig.« Ruth nahm zwei Glaser und eine Flasche aus dem Bufett.
»Hast du eine Verlangerung beantragt?«
»Ja. Ich war auf dem Konsulat hier in Zurich. Sie haben es abgelehnt. Ich habe auch nichts anderes erwartet.«
»Ich eigentlich auch nicht. Obschon ich immer noch auf irgendein Wunder gehofft habe. Wir sind ja Staatsfeinde. Gefahrliche Staatsfeinde. Sollten uns eigentlich wichtig damit vorkommen, was?«
»Mir ist es egal«, sagte Ruth und stellte die Glaser und die Flasche auf den Tisch. »Ich habe vor dir jetzt nichts mehr voraus, das ist auch etwas.«
Kern lachte. Er nahm sie um die Schultern und zeigte auf die Flasche. »Was ist denn das? Kognak?«
»Ja. Der beste Kognak der Familie Neumann. Ich will mit dir trinken, weil du wieder da bist. Es war eine schreckliche Zeit ohne dich. Und es war schrecklich zu wissen, da? du im Gefangnis warst. Sie haben dich geschlagen, diese Verbrecher! Und alles war meine Schuld!«
Sie sah ihn an. Sie lachelte, aber Kern merkte, da? sie erregt war. Ihre Stimme war fast zornig, und ihre Hand zitterte, als sie die Glaser vollschenkte. »Es war schrecklich!« sagte sie noch einmal und gab ihm sein Glas. »Aber jetzt bist du wieder da!«
Sie tranken. »Es war gar nicht schlimm«, sagte Kern. »Wirklich nicht!«
Ruth stellte ihr Glas weg. Sie hatte es mit einem Ruck ausgetrunken. Sie legte ihre Arme um Kerns Nacken und ku?te ihn. »Jetzt lasse ich dich nicht wieder weg«, murmelte sie. »Nie!«
Kern sah sie an. Er hatte sie noch nie so gesehen. Sie war vollig verandert. Etwas Fremdes, das fruher oft schattenhaft zwischen ihnen gestanden hatte, war gewichen. Sie war jetzt aufgeschlossen und ganz da, und er fuhlte zum erstenmal, da? sie zu ihm gehorte. Er hatte es fruher nie sicher gewu?t.
»Ruth«, sagte er,»ich wollte, die Decke brache auseinander und ein Flugzeug kame, und wir ?ogen zu einer Insel mit Palmen und Korallen, wo keiner wei?, was ein Pa? und eine Aufenthaltserlaubnis ist!«
Sie ku?te ihn wieder. »Ich furchte, sie wissen es auch da, Ludwig. Unter Palmen und Korallen haben sie sicher Forts und Kanonen und Kriegsschiffe und passen noch mehr auf als in Zurich.«
»Ja, bestimmt! La? uns noch ein Glas trinken.« Er nahm die Flasche und schenkte ein. »Aber Zurich ist auch schon gefahrlich. Man kann sich hier nicht lange verstecken.«
»Dann la? uns weggehen!«
Kern sah auf das Zimmer, auf die Damastvorhange, die Sessel und die gelbseidenen Lampen. »Ruth«, sagte er und machte eine Gebarde uber das alles hin,»es ist wunderbar, mit dir zusammen wegzugehen, und ich habe mir auch nie etwas anderes vorstellen konnen. Aber dies hier gibt es dann nicht mehr, das mu?t du wissen. Es gibt
