»Aber Gefangnis…«, sagte Kern.
»Das Gefangnis in Luzern ist gut. Ich kenne es… das ist der Luxus, den ich mir gonne; da? ich mir aussuche,, wo ich ins Gefangnis mochte. Meine Angst besteht nur darin, da? ich nicht hineinkomme. Da? ich allzu menschliche Richter ?nde, die mich einfach zur Grenze abschieben lassen. Dann geht es wieder von vorn an. Und fur uns sogenannte Arier ist das noch schwerer als fur Juden. Wir haben keine Kultusgemeinden, die uns unterstutzen – und keine Glaubensgenossen. Aber sprechen wir nicht von diesen Dingen…«
Er hob sein Glas. »Wir wollen auf das Schone trinken in der Welt… das ist unzerstorbar.«
Sie stie?en miteinander an. Die Glaser gaben einen reinen Klang. Kern trank den kuhlen Wein. Traubensaft, dachte er. Oppenheim. Er setzte sich zu Vogt und Ruth an den Tisch.
»Ich dachte schon, ich mu?te allein sein«, sagte Vogt. »Und nun sind Sie hier. Wie schon der Abend ist! Dieses klare herbstliche Licht.«
Sie sa?en lange schweigend auf der halb erleuchteten Terrasse. Ein paar spate Nachtschmetterlinge stie?en mit ihren schweren Leibern beharrlich gegen das hei?e Glas der elektrischen Gluhbirne. Vogt lehnte etwas abwesend und sehr friedlich in seinem Stuhl, mit schmalem Gesicht und klaren Augen, und es erschien den beiden andern plotzlich, als nahme da ein Mensch aus einem versunkenen Jahrhundert gelassen und gefa?t Abschied von seinem Leben und der Welt.
»Heiterkeit«, sagte Vogt nachdenklich, als sprache er zu sich selbst. »Heiterkeit, die gelassene Tochter der Toleranz… sie ist unserer Zeit verlorengegangen. Es gehort zu vieles dazu – Wissen, Uberlegenheit, Bescheidenheit und die ruhige Resignation vor dem Unmoglichen. Das alles ist ge?ohen vor dem wilden Kasernenidealismus, der heute unduldsam die Welt verbessern will. Weltverbesserer waren immer Weltverschlechterer – und Diktatoren sind nie heiter.«
»Die, denen sie diktieren, auch nicht«, sagte Kern.
Vogt nickte und trank langsam einen Schluck des hellen Weines. Dann zeigte er auf den See, der im Licht des halben Mondes silbern glanzte und den die Berge umrahmten wie die Wande einer kostbaren Schale. »Denen kann man nicht diktieren«, sagte er. »Den Schmetterlingen auch nicht und dem Laub der Baume. Und denen auch nicht…« Er wies auf ein paar zerlesene Bucher. »Holderlin und Nietzsche. Der eine hat die reinsten Hymnen auf das Leben geschrieben… der andere ertraumte die gottlichen Tanze dionysischer Heiterkeit – und beide endeten im Wahnsinn… als wenn die Natur irgendwo eine Grenze gesetzt hatte.«
»Diktatoren werden nicht wahnsinnig«, sagte Kern.
»Naturlich nicht.« Vogt stand auf und lachelte. »Aber auch nicht vernunftig.«
»Wollen Sie wirklich morgen zur Polizei?« fragte Kern.
»Ja, ich will. Leben Sie wohl und Dank dafur, da? Sie mir helfen wollten. Ich gehe noch eine Stunde zum See hinunter.«
Er ging langsam die Stra?e entlang. Sie war leer, und man horte seine Schritte noch eine Weile, nachdem er nicht mehr zu sehen war.
Kern sah Ruth an. Sie lachelte ihm zu. »Hast du Angst?« fragte er.
Sie schuttelte den Kopf.
»Mit uns ist das anders«, sagte er. »Wir sind jung. Wir kommen durch.«
ZWEI TAGE SPATER tauchte Binder aus Zurich auf; kuhl, elegant und sicher.
»Wie geht’s?« fragte er. »Hat alles geklappt?«
Kern berichtete sein Erlebnis mit dem Kommerzienrat Oppenheim. Binder horte aufmerksam zu. Er lachte, als Kern ihm erzahlte, er hatte Oppenheim gebeten, sich fur ihn zu verwenden. »Das war Ihr Fehler«, sagte er. »Der Mann ist die feigste Krote, die ich kenne. Aber ich werde einmal eine Strafexpedition gegen ihn unternehmen.«
Er verschwand und kam abends wieder, einen Zwanzigfrankenschein in der Hand.
»Alle Achtung«, sagte Kern.
Binder schuttelte sich. »Es war nicht schon, das konnen Sie mir glauben. Der nationale Herr Oppenheim, der alles versteht, seiner Millionen wegen. Geld macht verdammt charakterlos, was?«
»Kein Geld auch.«
»Stimmt, aber seltener. Ich habe ihn grundlich erschreckt mit wilden Nachrichten aus Deutschland. Er gibt nur aus Angst. Um sich vom Schicksal loszukaufen. Steht das nicht in der Liste?«
»Nein. Da steht: Gibt, aber nur auf Druck.«
»Das ist dasselbe. Na, vielleicht treffen wir den Kommerzienrat noch einmal als Kollegen auf der Landstra?e wieder. Das wurde mich fur vieles entschadigen.
Kern lachte. »Der ?ndet schon ’raus. Aber weshalb sind Sie in Luzern?«
»Es wurde etwas zu hei? in Zurich. Ein Detektiv war hinter mir her. Und dann…« sein Gesicht verschattete sich,»komme ich von Zeit zu Zeit her, um Briefe aus Deutschland abzuholen.«
»Von Ihren Eltern?«
»Von meiner Mutter.«
Kern schwieg. Er dachte an seine Mutter. Er hatte ihr ab und zu geschrieben. Aber er konnte keine Antwort bekommen, weil seine Adresse standig wechselte.
»Essen Sie gern Kuchen?« fragte Binder nach einer Weile.
»Ja, naturlich. Haben Sie welchen?«
»Ja. Warten Sie einen Augenblick.«
Er kam mit einem Paket zuruck. Es war ein Pappkarton, in dem, sorgfaltig in Seidenpapier gewickelt, eine kleine Sandtorte lag.
»Heute vom Zoll gekommen«, sagte Binder. »Die Leute hier haben sie abgeholt.«
»Aber die essen Sie doch selber«, sagte Kern. »Ihre Mutter hat sie selbst gebacken, das sieht man sofort!«
»Ja, sie hat sie selbst gebacken. Deshalb will ich sie ja nicht essen. Ich kann es nicht. Nicht ein Stuck!«
»Das verstehe ich nicht. Mein Gott, wenn ich von meiner Mutter einen Kuchen bekame! Einen Monat wurde ich daran essen! Jeden Abend ein kleines Stuck.«
»Aber verstehen Sie doch!« sagte Binder mit unterdruckter, heftiger Stimme. »Sie hat ihn nicht fur mich geschickt! Er ist fur meinen Bruder.«
Kern starrte ihn an. »Sie haben doch gesagt, Ihr Bruder sei tot.«
»Ja, naturlich. Aber sie wei? es noch nicht.«»Sie wei? es nicht?«
»Nein. Ich kann es ihr nicht schreiben. Ich kann es einfach nicht. Sie stirbt, wenn sie es erfahrt. Er war ihr Liebling. Mich mochte sie nie besonders. Er war auch besser als ich. Deshalb hat er auch nicht ausgehalten. Ich komme durch! Naturlich! Sie sehen es ja!« Er schleuderte das Geld Oppenheims auf den Fu?boden.
Kern hob den Schein auf und legte ihn wieder auf den Tisch, Binder setzte sich auf einen Stuhl und zundete sich eine Zigarette an. Dann zog er einen Brief aus der Tasche. »Hier… das ist ihr letzter Brief. Er lag dabei. Wenn Sie das lesen, werden Sie verstehen, da? es einem an die Knochen geht.«
Es war ein Brief auf bla?blauem Papier, mit einer weichen, schragen Handschrift, wie von einem jungen Madchen geschrieben. »Mein innigstgeliebter Leopold. Deinen Brief habe ich gestern erhalten, und ich habe mich so daruber gefreut, da? ich mich erst einmal hinsetzen mu?te und abwarten, bis ich ruhiger wurde. Dann habe ich ihn aufgemacht und angefangen zu lesen. Mein Herz ist nicht mehr so gut durch alle die Aufregungen, das kannst Du Dir sicher wohl denken. Wie froh bin ich, da? Du nun endlich Arbeit gefunden hast! Wenn Du auch nicht viel verdienst, mach Dir nichts daraus; wenn Du ?ei?ig bist, wird es schon vorwartsgehen. Dann kannst Du spater auch wohl wieder studieren. Lieber Leopold, achte doch auf Georg. Er ist so schnell und unbedacht! Aber solange Du da bist, bin ich ruhig. Ich habe Dir heute morgen einen Kuchen gebacken von der Sandtorte, die Du immer so gerne gegessen hast. Ich schicke ihn Dir, hoffentlich kommt er nicht zu trocken an. Obwohl, Sandtorte darf ja ruhig etwas trocken sein, deshalb habe ich.Dir die gebacken, sonst hatte ich Dir einen Frankfurter Kranz geschickt, den magst Du ja am liebsten. Aber der verdirbt sicher unterwegs. Lieber Leopold, schreib mir bald wieder, wenn Du Zeit hast. Ich bin immer so unruhig. Hast Du nicht ein Bild von Dir? Hoffentlich sind wir bald alle wieder zusammen. Vergi? mich nicht. Deine Dich liebende Mutter. Gru?e Georg.«
Kern legte den Brief auf den Tisch. Er gab ihn Binder nicht in die Hand; er legte ihn neben ihm auf den Tisch.
»Ein Bild«, sagte Binder. »Wo soll ich denn ein Bild herkriegen?«