»Hat sie den letzten Brief Ihres Bruders erst jetzt bekommen?«

Binder schuttelte den Kopf. »Er hat sich vor einem Jahr erschossen. Seitdem schreibe ich ihr. Alle paar Wochen. In der Handschrift meines Bruders. Ich habe gelernt, sie nachzumachen. Sie darf nichts wissen. Es ist unmoglich. Finden Sie nicht auch, da? sie nichts wissen darf?« Er sah Kern drangend an. »Sagen Sie doch, was Sie meinen!«

»Ja. Ich glaube, es ist besser so.«

»Sie ist sechzig. Sechzig, und ihr Herz ist kaputt. Sie lebt nicht mehr lange. Ich werde es wohl schaffen, da? sie es nicht erfahrt. Da? er es selbst getan hat, verstehen Sie, das konnte sie nie begreifen.«

»Ja.«

Binder stand auf. »Ich mu? ihr jetzt wieder einen Brief schreiben. Von ihm. Dann habe ich es hinter mir. Ein Bild – woher soll ich nur ein Bild nehmen?«

Er nahm den Brief vom Tisch. »Nehmen Sie den Kuchen, ich bitte Sie! Wenn Sie ihn nicht haben wollen, geben Sie ihn Ruth. Sie brauchen ihr ja nicht zu sagen, was es damit auf sich hat.«

Kern zogerte. »Es ist ein guter Kuchen. Ich mochte nur ein kleines Stuckchen abschneiden… gerade nur so…«

Binder zog ein Messer aus der Tasche, schnitt einen schmalen Streifen vom Rand der Sandtorte ab und legte ihn in den Brief seiner Mutter. »Wissen Sie was?« sagte er dann, mit einem sonderbar zerfallenen Gesicht. »Mein Bruder hat meine Mutter nie sehr geliebt. Aber ich… ich; komisch, was?«

Er ging auf sein Zimmer.

ES WAR ABENDS gegen elf Uhr. Ruth und Kern sa?en auf der Terrasse. Binder kam die Treppe herunter. Er war wieder kuhl und elegant wie fruher.

»Kommen Sie mit mir noch irgendwohin?« sagte er. »Ich kann noch nicht schlafen. Und ich mochte heute nicht allein sein. Nur eine Stunde. Ich wei? ein Lokal, das sicher ist. Tun Sie mir den Gefallen.«

Kern sah Ruth an. »Bist du mude?« fragte er.

Sie schuttelte den Kopf.

»Tun Sie mir den Gefallen«, sagte Binder. »Nur eine Stunde. Um etwas anderes zu sehen.«

»Gut.«

Er fuhrte sie zu einer Cafe-Bar, in der getanzt wurde. Ruth sah hinein. »Das ist zu elegant«, sagte sie. »Das ist nichts fur uns!«

»Fur wen sollte es denn sonst sein, wenn nicht fur uns Kosmopoliten«, erwiderte Binder mit trubem Spott. »Es ist auch gar nicht so elegant, wenn Sie wirklich hinsehen. Nur gerade genug, um sicher vor Detektiven zu sein. Und ein Kognak ist hier nicht teurer als anderswo. Die Musik aber viel besser. So was braucht man manchmal auch. Kommen Sie, bitte. Da ist schon ein Platz.«

Sie setzten sich und bestellten etwas zu trinken. »Was nutzt alles«, sagte Binder und hob sein Glas. »Wir wollen frohlich sein! Das Leben ist bald zu Ende, und nachher gibt uns niemand etwas dafur, ob wir frohlich oder traurig waren.«

»Richtig.« Kern nahm ebenfalls sein Glas. »Wir wollen einfach annehmen, wir waren einmal richtige Inlander, nicht wahr, Ruth? Leute, die eine Wohnung in Zurich haben und einen Aus?ug nach Luzern machen.«

Ruth nickte und lachelte ihm zu.

»Oder Touristen«, sagte Binder. »Reiche Touristen!«

Er trank sein Glas aus und bestellte ein neues. »Nehmen Sie auch noch eins?« fragte er Kern.

»Spater.«

»Nehmen Sie noch eins. Man kommt schneller in Stimmung. Bitte tun Sie es.«

»Gut.«

Sie sa?en an ihrem Tisch und sahen den Tanzenden zu. Es war eine Menge junger Leute da, die auch nicht alter waren als sie… aber trotzdem wirkten sie auf eine sonderbare Art wie drei verirrte Kinder, die mit gro?en Augen dasa?en und nicht dazugehorten. Es war nicht ihre Heimatlosigkeit allein, die wie ein grauer Ring um sie lag – es war auch die Freudlosigkeit einer Jugend, die ohne viel Hoffnung und Zukunft war. Was ist das nur mit uns? dachte Kern, wir wollten doch froh sein! Ich habe doch alles, was ich nur haben kann, und fast noch mehr, was ist das nur?

»Gefallt es dir?« fragte Ruth.

»Ja, sehr«, erwiderte sie.

Das Lokal verdunkelte sich, ein bunter Scheinwerfer huschte uber die Tanz?ache, und eine hubsche schlanke Tanzerin wirbelte uber das Parkett.

»Wunderbar, was?« fragte Binder und klatschte.

»Hervorragend!« Kern klatschte mit.

»Die Musik ist gro?artig, nicht wahr?«

»Erstklassig!«

Sie sa?en da und waren sehr bereit, alles herrlich zu ?nden und leicht und frohlich zu sein; aber es war etwas wie Staub und Asche in allem, und sie wu?ten nicht, woher es kam.

»Warum tanzen Sie nicht einmal zusammen?« fragte Binder.

»Wollen wir?« Kern stand auf.

»Ich glaube nicht, da? ich es kann«, sagte Ruth.

»Ich kann es auch nicht. Das macht es einfacher.«

Ruth zogerte einen Augenblick; dann ging sie mit Kern zur Tanz?ache. Die bunten Scheinwerfer glitten uber die Tanzenden. »Da kommt gerade violettes Licht«, sagte Kern. »Eine gute Gelegenheit, unterzutauchen!«

Sie tanzten vorsichtig und etwas scheu miteinander. Allmahlich wurden sie sicherer, besonders als sie merkten, da? niemand sie beobachtete. »Wie schon das ist, mit dir zu tanzen«, sagte Kern. »Es gibt immer neue schone Dinge mit dir. Nicht allein, da? du da bist… alles rundherum wird auch anders und schon.«

Sie ruckte ihre Hand naher an seine Schulter und lehnte sich an ihn. Langsam glitten sie in den Rhythmus der Musik. Die Scheinwerfer spielten wie farbiges Wasser uber sie hin, und einen Augenblick verga?en sie alles andere – sie waren nur noch weiches, junges Leben, das zueinanderstrebte und gelost war von den Schatten der Angst, des Versteckens und des Mi?trauens.

Die Musik brach ab. Sie gingen zu ihrem Tisch zuruck. Kern sah Ruth an. Ihre Augen glanzten, und ihr Gesicht war bewegt. Es hatte plotzlich einen strahlenden, selbstvergessenen und fast kuhnen Ausdruck. Verdammt, dachte er, leben zu konnen, wie man wollte… und war eine Sekunde furchtbar erbittert.

»Sehen Sie mal, wer da kommt!« sagte Binder.

Kern blickte auf. Der Kommerzienrat Arnold Oppenheim durchquerte den Raum und ging dem Ausgang zu. Neben ihrem Tisch stutzte er und blieb stehen. Eine Weile starrte er die drei an. »Ganz interessant!« knurrte er dann. »Au?erst lehrreich!«

Niemand antwortete. »Das hat man also fur seine Gute und Unterstutzung!« fuhr Oppenheim emport fort. »In Bars wird das Geld sofort wieder verjubelt!«

»Ein bi?chen Vergessen ist manchmal notwendiger als ein Abendessen, Herr Kommerzienrat«, erwiderte Binder ruhig.

»Redensarten! So junge Leute haben in Bars nichts zu suchen.«

»Auf der Landstra?e auch nicht«, antwortete Binder.

»Darf ich bekannt machen?« sagte Kern. Er wandte sich an Ruth. »Der Herr, der sich hier uber uns aufregt, ist der Kommerzienrat Oppenheim. Er hat mir ein Stuck Seife abgekauft. Ich habe daran vierzig Centimes verdient.«

Oppenheim sah ihn verdutzt an. Dann schnaufte er etwas, das wie »Frechheit« klang, und stapfte davon.

»Was war denn das?« fragte Ruth.

»Das Alltaglichste von der Welt«, erwiderte Binder mit einer Stimme voll Hohn. »Bewu?te Wohltatigkeit. Harter als Stahl.«

Ruth stand auf. »Er wird doch sicher die Polizei holen! Wir mussen fort.«

»Dazu ist er viel zu feige. Es wurde ihm Unbequemlichkeiten machen.«

»Wir wollen doch lieber gehen!«-»Gut.«

Binder bezahlte, und sie brachen auf und gingen zu ihrer Pension. In der Nahe des Bahnhofs kamen ihnen zwei Manner entgegen. »Achtung!« ?usterte Binder. »Ein Detektiv! Unbefangen bleiben.«

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