Kern ?ng leise an zu pfeifen, nahm Ruths Arm und ging langsamer. Er spurte, da? Ruth schneller gehen wollte. Er druckte ihren Arm, lachte und schlenderte langsam weiter.
Die beiden Manner gingen voruber. Einer von ihnen trug einen steifen Hut und rauchte gleichmutig eine Zigarre. Der andere war Vogt. Er erkannte sie und machte ein fast unmerkliches bedauerndes Zeichen mit den Augen.
Kern sah sich nach einer Weile um. Die beiden Manner waren verschwunden. »Richtung Basel, Zug zwolf Uhr funfzehn zur Grenze«, erklarte Binder fachmannisch.
Kern nickte. »Hat einen zu menschlichen Richter gehabt.«
Sie gingen weiter. Ruth frostelte. »Es ist auf einmal etwas unheimlich hier«, sagte sie.
»Frankreich«, erwiderte Binder. »Paris. Eine gro?e Stadt ist das beste.«
»Warum gehen Sie nicht auch hin?«
»Ich kann kein Wort Franzosisch. Und dann bin ich Spezialist fur die Schweiz. Au?erdem…« Er brach ab.
Sie gingen schweigend weiter. Ein kuhler Wind kam vom See. Der Himmel stand gro? und eisengrau und fremd uber ihnen.
VOR STEINER SASS der ehemalige Rechtsanwalt Dr. Goldbach II vom Kammergericht Berlin. Er war das neue telepathische Medium. Steiner hatte ihn im Cafe Sperler gefunden.
Goldbach war etwa funfzig Jahre alt und als Jude aus Deutschland ausgewiesen worden. Er handelte mit Krawatten und schwarzen juristischen Ratschlagen. Damit verdiente er aber nur gerade so viel, um nicht zu verhungern. Er hatte eine sehr schone Frau von drei?ig Jahren, die er liebte. Sie lebte vorlau?g vom Verkauf ihres Schmuckes; aber er wu?te, da? er sie wahrscheinlich nicht behalten wurde. Steiner hatte seine Geschichte angehort und ihm die Stelle fur die Abendvorstellungen verschafft. Tagsuber konnte er dann seinen ubrigen Berufen nachgehen.
Nach kurzer Zeit zeigte es sich, da? Goldbach als Medium ungeeignet war. Er verwechselte alles und schmi? die Vorstellungen. Nachts sa? er dann verzweifelt vor Steiner und ?ehte ihn an, ihn nicht hinauszuwerfen.
»Goldbach«, sagte Steiner,»heute war es besonders schlimm! So geht es wirklich nicht weiter! Sie zwingen mich ja, tatsachlich hellzusehen!«
Goldbach blickte ihn an wie ein sterbender Schaferhund.
»Es ist doch so einfach«, fuhr Steiner fort. »Die Anzahl Ihrer Schritte bis zur ersten Zeltstange bedeutet, die wievielte Stuhlreihe es ist. Rechtes Auge geschlossen bedeutet Dame – linkes Herr. Anzahl der Finger, unauffallig gezeigt, der wievielte von links. Vorgesetzter rechter Fu?: am Oberkorper versteckt – linker: Unterkorper. Je weiter vorgesetzt, desto hoher oder tiefer. – Wir haben das System schon Ihretwegen geandert, weil Sie so zappelig sind.«
Der Anwalt ?ngerte nervos an seinem Kragen herum. »Herr Stemer«, sagte er dann schuldbewu?t,»ich habe es auswendig gelernt, probe es jeden Tag… wei? der Himmel, es ist wie verhext…«
»Aber Goldbach!« sagte Steiner geduldig. »In Ihrer Praxis mu?ten Sie doch viel mehr im Kopf behalten.«
Goldbach rang die Hande. »Ich kann das Burgerliche Gesetzbuch auswendig, ich kenne Hunderte von Zusatzen, Entscheidungen, glauben Sie mir, Herr Steiner, ich war mit meinem Gedachtnis der Schrecken der Richter… aber dieses hier ist wie verhext…«
Steiner schuttelte den Kopf. »Ein Kind kann das doch behalten. Acht verschiedene Zeichen, nicht mehr! Und dann noch vier fur seltene Falle.«
»Ich kenne sie ja! Mein Gott, ich ube sie ja taglich. Es ist nur die Aufregung…«
Goldbach sa? klein und geduckt auf seiner Kiste und sah ratlos vor sich hin.
Steiner lachte.
»Aber Sie waren doch im Gerichtssaal nie aufgeregt! Sie haben doch gro?e Prozesse durchgefuhrt, bei denen Sie eine schwierige Materie vollkommen und kaltblutig beherrschen mu?ten!«
»Jaja, das war leicht. Aber hier! Bevor es anfangt, wei? ich jede Einzelheit genau – doch sowie ich in die Bude trete, verwechsle ich alles in meiner Aufregung…«
»Weshalb, um Himmels willen, sind Sie denn so aufgeregt?«
Goldbach schwieg eine Weile. »Ich wei? es nicht«, sagte er dann leise. »Da kommt wohl vieles zusammen.«
Er erhob sich. »Wollen Sie es morgen noch einmal mit mir probieren, Herr Steiner?«
»Naturlich. Aber morgen mu? es klappen. Sonst kommt uns Potzloch auf den Kopf!«
Goldbach ?schte in der Tasche seines Jacketts umher und holte eine in Seidenpapier gewickelte Krawatte hervor. Er hielt sie Steiner hin. »Ich habe Ihnen hier eine Kleinigkeit mitgebracht. Sie haben so viel Muhe mit mir…«
Steiner wehrte ab. »Ausgeschlossen! Das gibt’s bei uns nicht…«
»Sie kostet mich nichts.«
Steiner klopfte Goldbach auf die Schulter. »Bestechungsversuch durch einen Juristen. Was bringt das mehr an Strafe in einem Proze??«
Goldbach lachelte schwach. »Das mussen Sie den Staatsanwalt fragen. Einen guten Rechtsanwalt fragt man nur: Was bringt es weniger. Das Strafma? ist ubrigens gleich; nur mildernde Umstande sind ausgeschlossen. Der letzte gro?ere Fall dieser Art war die Affare Hauer und Konsorten.«
Er belebte sich etwas. »Die Verteidigung damals hatte Freygang. Ein geschickter Mann mit etwas zuviel Freude an Paradoxen. Ein Paradox als Detail ist unschatzbar, weil es verblufft; nicht aber als Grundlage der Verteidigung. Daran scheiterte Freygang. Er wollte fur einen Landgerichtsrat auf mildernde Umstande pladieren wegen…«, er lachte angeregt,»Unkenntnis der Gesetze.«
»Guter Einfall«, sagte Steiner.
»Fur einen Witz – nicht fur einen Proze?.«
Goldbach stand da, den Kopf etwas schraggelegt, das Auge plotzlich scharf, die Lider eingekniffen – er war auf einmal nicht mehr der armselige Emigrant und Krawattenhandler, er war wieder Dr. Goldbach II vom Kammergericht, der gefurchtete Tiger im Dschungel der Paragraphen.
SCHNELL, GERADE, AUFGERICHTET, wie lange nicht, ging er die Hauptallee des Praters hinunter. Er sah nichts von der Schwermut der klaren Herbsmacht – er stand wieder im uberfullten Gerichtssaal, seine Notizen vor sich, er war an der Stelle des Rechtsanwalts Freygang, er sah, wie der Staatsanwalt, der seine Anklagerede beendet hatte, sich setzte, er schob seinen Talar zurecht, er stutzte die Knochel der Hande leicht auf, wiegte sich ein wenig wie ein Fechter und begann mit metallener Stimme:»Hoher Gerichtshof – der Angeklagte Hauer…«
Satz folgte auf Satz, kurz und scharf, unanfechtbar in seiner Logik. Er nahm die Motive des Staatsanwaltes auf, eines nach dem andern, er schien der Beweisfuhrung zu folgen, er schien anzuklagen und nicht zu verteidigen, der Saal wurde still, die Richter hoben die Kopfe – aber plotzlich, mit einer virtuosen Wendung, drehte er um, zitierte den Bestechungsparagraphen und beleuchtete in vier harten Fragesatzen seine Zweideutigkeit, um dann, peitschend und rasch, das Entlastungsmaterial zu bringen, das jetzt eine ganz neue Wirkung hatte.
Er stand vor dem Haus, in dem er wohnte. Langsam ging er die Treppe hinauf – immer zogernder, immer langsamer.
»Ist meine Frau schon da?« fragte er das verschlafene Madchen, das ihm offnete.
»Sie ist vor einer Viertelstunde gekommen.«
»Danke.« Goldbach ging den Korridor entlang in sein Zimmer. Es war schmal und hatte ein kleines Fenster zum Hof.
Er burstete sich die Haare. Dann klopfte er an die Zwischentur.
»Ja…«
Die Frau sa? vor dem Spiegel und betrachtete aufmerksam ihr Gesicht. Sie wandte sich nicht um. »Was gibt’s?« fragte sie.
»Wie geht es dir, Lena?«
»Wie soll es schon gehen bei dem Leben! Schlecht! Wozu fragst du eigentlich so was?« Die Frau prufte ihre Augenlider.
»Warst du fort?«
»Ja.«
»Wo warst du?«