»Irgendwo. Ich kann doch nicht den ganzen Tag hier sitzen und die Wande anstarren.«

»Das sollst du ja auch nicht. Ich bin doch froh, wenn du Unterhaltung hast.«

»Na also, dann ist es ja gut.«

Die Frau begann langsam und sorgfaltig eine Creme auf ihre Haut zu reiben. Sie sprach mit Goldbach wie mit einem Stuck Holz – ohne jede Erregung, mit einer entsetzlichen Gleichgultigkeit. Er stand an der Tur und sah ihr zu – hungrig nach einem guten Wort. Sie hatte eine ?eckenlose, rosige Haut, die im Lichte der Lampe schimmerte. Ihr Korper war uppig und weich. »Hast du etwas gefunden?« fragte sie.

Goldbach sank in sich zusammen. »Du wei?t doch, Lena – ich habe noch keine Arbeitserlaubnis. Ich war beim Kollegen Hopfner; er kann auch nichts machen. Es dauert alles so furchtbar lange…«

»Ja, es dauert schon zu lange.«

»Ich tue, was ich kann, Lena.«

»Ja, ich wei?. Ich bin mude.«

»Ich gehe schon, gute Nacht.«

Goldbach schlo? die Tur. Er wu?te nicht, was er tun sollte. Hineinsturzen und sie an?ehen, ihn zu verstehen, sie anbetteln, mit ihm zu schlafen, eine Nacht… oder? Er ballte kraftlos die Fauste. Verprugeln, dachte er, alle Demutigung und alle Beschamung hineinschlagen in dieses rosige Fleisch, einmal sich loslassen, alle Wut, das Zimmer zertrummern und schlagen, bis dieser gleichmutige, hochmutige Mund schrie und wimmerte und der weiche Korper sich am Boden krummte.

Er zitterte und lauschte, Karbatke, nein, richtig, Karbutke, hatte der Mann damals gehei?en; es war ein untersetzter Kerl gewesen, mit tief in die Stirn gewachsenem Haar und einem Gesicht, wie der Laie es sich bei einem Morder vorstellt – es war schwer gewesen, gerade fur dieses Gesicht auf Freispruch wegen Handlung im Affekt zu pladieren. Der Mann hatte seinem Madchen die Zahne eingeschlagen, den Arm gebrochen und den Mund tief eingerissen; ihre Augen waren bei der Verhandlung noch verschwollen, so war sie verprugelt worden; aber trotzdem hing sie an dem Vieh von Kerl in hundischer Ergebenheit – vielleicht auch gerade deshalb. Es war ein gro?er Erfolg gewesen damals, dieser Freispruch, den er erreicht hatte, eine psychologisch tiefschurfende Meisterverteidigung, wie Kollege Cohn III ihn damals begluckwunscht hatte.

Goldbach lie? die Hande sinken. Er sah die Auswahl billiger, kunstseidener Krawatten, die auf dem Tisch lagen. Ja, damals im Anwaltszimmer unter den Kollegen… wie scharfsinnig hatte er da nachgewiesen, da? die Liebe der Frau nach dem Herrn und Meister verlange; damals, als er sechzigtausend Mark im Jahr verdiente und Lena Schmuck schenkte, dessen Erlos sie jetzt fur sich verbrauchte.

Er horchte darauf, wie sie sich zu Bett legte. Er tat es jeden Abend und ha?te sich deswegen, aber er konnte es nicht lassen. Seine Wangen wurden ?eckig, als er das Knarren der Federn horte. Er bi? die Zahne zusammen, ging zum Spiegel und sah sich an. Dann nahm er einen Stuhl und stellte ihn in die Mitte des Zimmers. »Nehmen wir an, neunte Reihe, die dritte Frau, einen Schlussel im Schuh versteckt«, murmelte er. Aufmerksam machte er neun kurze Schritte bis zum Stuhl, blinzelte mit dem rechten Auge, fuhr sich mit drei Fingern uber die Stirn und schob den linken Fu? vor – weiter; er war jetzt ganz konzentriert, er sah Steiner suchen und schob den Fu? noch weiter vor.

Im rotlichen Licht der Gluhbirne schwankte sein Schatten armselig und verschroben an der Wand mit.

»WAS UNSER KLEINER wohl macht, Lilo?« sagte um dieselbe Zeit Steiner. »Wei? der Himmel, es ist nicht allein wegen des damlichen Goldbach… er fehlt mir tatsachlich oft, der Kleine!«

13

Kern und Ruth waren in Bern. Sie wohnten in der Pension Immergrun. Sie stand auf Binders Liste. Man konnte dort zwei Tage bleiben, ohne polizeilich angemeldet zu werden.

Am zweiten Abend klopfte es sehr spat an Kerns Zimmertur. Er war schon ausgezogen und gerade dabei, zu Bett zu gehen. Ohne sich zu ruhren, wartete er einen Moment. Es klopfte wieder. Lautlos, auf nackten Fu?en, lief er zum Fenster. Es war zu hoch, um herunterzuspringen, und es gab auch nirgendwo eine Regenrinne, um daran hochzuklettern. Langsam ging er zuruck und offnete die Tur.

Ein Mann von etwa drei?ig Jahren stand drau?en. Er war einen Kopf gro?er als Kern, hatte ein rundes Gesicht mit wasserblauen Augen und wei?blonden, krausen Haaren und hielt einen grauen Velourshut in den Handen, an dem er nervos herum?ngerte.

»Entschuldigen Sie«, sagte er,»ich bin ein Emigrant wie Sie…«

Kern hatte das Gefuhl, als wuchsen ihm plotzlich Flugel. Gerettet! dachte er. Keine Polizei!

»Ich bin in gro?er Verlegenheit«, fuhr der Mann fort. »Binding ist mein Name. Richard Binding. Ich bin unterwegs nach Zurich und habe keinen Centime mehr, um irgendwo unterzukommen fur die Nacht. Ich will Sie nicht um Geld bitten. Ich wollte Sie nur fragen, ob ich die Nacht hier auf dem Fu?boden schlafen kann.«

Kern sah ihn an. »In diesem Zimmer? Auf dem Fu?boden?«

»Ja. Ich bin das gewohnt, und ich werde Sie bestimmt nicht storen. Ich bin jetzt seit drei Nachten unterwegs. Sie wissen, wie das ist, drau?en auf den Banken mit der ewigen Angst vor der Polizei. Da ist man froh, wenn man irgendwo ein paar Stunden sicher ist.«

»Das wei? ich. Aber sehen Sie sich doch das Zimmer an! Es ist ja nirgendwo so viel Platz, da? Sie sich lang ausstrecken konnen. Wie wollen Sie denn da schlafen?«

»Das macht nichts!« erklarte Binding eifrig. »Das geht schon! Dort in der Ecke zum Beispiel! Ich kann im Sitzen schlafen und mich gegen den Schrank lehnen. Das geht sehr gut! Wenn man nur etwas Ruhe hat, kann unsereins doch uberall schlafen!«

»Nein, das geht nicht.« Kern uberlegte einen Moment. »Ein Zimmer hier kostet zwei Franken. Ich kann Ihnen das Geld geben. Das ist am einfachsten. Dann konnen Sie grundlich ausschlafen.«

Binding hob abwehrend die Hande. Sie waren gro? und rot und dick. »Ich will kein Geld von Ihnen! Dazu bin ich nicht gekommen! Wer hier wohnt, braucht seine paar Groschen selber!

Und dann – ich war schon unten und habe gefragt, ob ich nicht irgendwo schlafen konnte. Es ist kein Zimmer frei.«

»Vielleicht ist eins frei, wenn Sie zwei Franken in der Hand haben.«

»Ich glaube nicht. Der Wirt sagte mir, er wurde jemand, der zwei Jahre im Konzentrationslager war, immer umsonst schlafen lassen. Aber er hatte tatsachlich kein Zimmer frei.«

»Was?« sagte Kern,»Sie waren zwei Jahre im Konzentrationslager?«

»Ja.« Binding klemmte seinen Velourshut zwischen die Knie und holte aus seiner Brusttasche einen zerschlissenen Ausweis hervor. Er faltete ihn auseinander und gab ihn Kern. »Hier – sehen Sie! Das ist mein Entlassungsschein aus Oranienburg.«

Kern nahm den Schein vorsichtig, um die bruchigen Faltkniffe nicht zu zerrei?en. Er hatte noch nie ein Entlassungszeugnis aus dem Konzentrationslager gesehen. Er las den Aufdruck, den vorgedruckten Text, den mit Schreibmaschine eingefugten Namen Richard Binding – dann blickte er auf den Stempel mit dem Hakenkreuz und die saubere, klare Unterschrift des Beamten – es stimmte. Es stimmte sogar in einer pedantisch ordentlichen und burokratischen Weise, und gerade das machte das Ganze fast unheimlich – als kame jemand mit einer Aufenthaltserlaubnis und einem Visum aus dem Inferno wieder.

Er gab den Schein an Binding zuruck. »Horen Sie«, sagte er,»ich wei?, was wir machen! Sie nehmen mein Bett und Zimmer. Ich kenn jemand in der Pension, der ein gro?eres Zimmer hat. Ich kann dort sehr gut schlafen. So ist uns beiden geholfen.«

Binding starrte ihn mit runden Augen an. »Aber das ist doch ganz unmoglich!«

»Im Gegenteil! Es ist das Leichteste von der Welt!« Kern nahm seinen Mantel und streifte ihn uber seinen Pyjama. Dann legte er seinen Anzug uber den Arm und griff nach seinen Schuhen. »Sehen Sie! Ich nehme das mit. So brauche ich Sie nicht einmal allzu fruh zu storen. Ich kann mich druben anziehen. Es freut mich, etwas tun zu konnen fur jemand, der so viel mitgemacht hat.«

»Aber…« Binding ergriff plotzlich Kerns Hande. Es sah aus, als wollte er sie kussen. »Mein Gott, Sie sind ja ein Engel!« stammelte er. »Ein Lebensretter!«

»Ach wo!« erwiderte Kern verlegen. »Einer hilft dem andern mal aus, das ist alles. Was sollte sonst aus uns

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