werden? Schlafen Sie gut!«

»Das werde ich! Wei? der Himmel!«

Kern uberlegte einen Moment, ob er seinen Koffer mitnehmen sollte. Er hatte in einer kleinen Seitentasche darin vierzig Franken versteckt. Aber das Geld war gut versteckt, der Koffer war abgeschlossen, und er scheute sich, einem Mann, der im Konzentrationslager gewesen war, so offen sein Mi?trauen zu zeigen. Emigranten stehlen nicht untereinander. »Gute Nacht! Schlafen Sie gut!« sagte er noch einmal und ging.

Ruth wohnte auf demselben Korridor. Kern klopfte zweimal kurz an ihrer Tur. Das war das Zeichen, das sie miteinander ausgemacht hatten. Sie offnete sofort. »Ist etwas passiert?« fragte sie erschrocken, als sie die Sachen in seiner Hand sah. »Mussen wir ausrei?en?«

»Nein. Ich habe nur mein Zimmer so einem armen Teufel gegeben, der im Konzentrationslager war und ein paar Nachte nicht geschlafen hat. Kann ich hier bei dir auf der Chaiselongue schlafen?«

Ruth lachelte. »Die Chaiselongue ist alt und wackelig; aber glaubst du nicht, da? das Bett gro? genug ist fur uns beide?«

Kern trat rasch ein und ku?te sie. »Ich stelle manchmal wirklich die dummsten Fragen der Welt«, sagte er. »Aber glaube mir, es ist nur Verlegenheit. Es ist alles noch zu neu fur mich.«

Ruths Zimmer war etwas gro?er als das andere. Es war, abgesehen von der Chaiselongue, ahnlich mobliert – aber Kern fand, da? es vollig anders aussah. Sonderbar, dachte er – es mussen die paar Sachen sein, die sie darin hat – die schmalen Schuhe, die Bluse, der braune Rock – wieviel Zartlichkeit darin ist! Mit meinen Sachen sieht ein Zimmer nur unordentlich aus.

»Ruth«, sagte er,»wenn wir heiraten wollten… wei?t du, da? wir das gar nicht konnten? Weil wir keine Papiere haben.«

»Ich wei?. Aber das soll unsere geringste Sorge sein. Wozu haben wir uberhaupt eigentlich zwei Zimmer?«

Kern lachte. »Wegen der hohen Schweizer Moral. Unangemeldet, das geht noch – aber unverheiratet, das ist unmoglich!«

Er wartete am nachsten Morgen bis zehn. Dann ging er hinuber, um seinen Koffer zu holen. Er wollte ein paar Adressen abklappern und Binding weiterschlafen lassen.

Aber das Zimmer war schon leer. Binding war vermutlich schon wieder unterwegs. Kern offnete seinen Koffer. Er war nicht verschlossen, das wunderte ihn. Er glaubte bestimmt, ihn abends abgeschlossen zu haben. Es schien ihm auch, als ob die Flaschen anders lagen, als er es gewohnt war. Er suchte rasch. Das kleine Kuvert in der versteckten Seitentasche war da. Er klappte es auf und sah sofort, da? sein Schweizer Geld fehlte. Nur zwei einsame osterreichische Funfschillingscheine ?atterten ihm entgegen.

Er suchte noch einmal alles durch; auch seinen Anzug, obschon er sicher war, das Geld nicht darin zu haben. Er trug nie etwas bei sich, fur den Fall, da? er unterwegs abgefa?t wurde. Ruth hatte so immer wenigstens noch den Koffer und das Geld. Aber die vierzig Franken waren verschwunden.

Er setzte sich auf den Boden neben den Koffer. »Dieser Gauner«, sagte er fassungslos. »Dieser ver?uchte Gauner! Ist denn so etwas moglich?«

Er blieb eine Weile so sitzen. Dann uberlegte er, ob er Ruth Bescheid sagen sollte; aber er beschlo?, das erst zu tun, wenn es nicht anders mehr moglich war. Er wollte sie nicht fruher als unbedingt notwendig beunruhigen.

Schlie?lich nahm er die Listen Binders heraus und notierte sich eine Anzahl Berner Adressen. Dann packte er seine Taschen voll Seife, Schnursenkel, Sicherheitsnadeln und Toilettewasser und ging die Treppen hinunter.

Unten traf er den Wirt. »Kennen Sie einen Mann, der Richard Binding hei?t«, fragte er.

Der Wirt dachte eine Zeitlang nach. Dann schuttelte er den Kopf.

»Ich meine jemand, der gestern abend hier war. Er hat ein Zimmer verlangt.«

»Gestern abend hat niemand ein Zimmer verlangt. Ich war ja gar nicht da. Ich war bis zwolf Uhr kegeln.«

»Ach so! Hatten Sie denn Zimmer frei?«

»Ja, drei. Die sind auch heute noch frei. Erwarten Sie noch jemand? Sie konnen Nummer sieben haben, auf Ihrem Korridor.«

»Nein. Ich glaube nicht, da? der, auf den ich warte, wiederkommt. Er wird schon unterwegs nach Zurich sein.«

Mittags hatte Kern drei Franken verdient. Er ging in ein billiges Restaurant, um ein Butterbrot zu essen und dann gleich weiter zu hausieren.

Er blieb an der Theke stehen und a? hungrig. Plotzlich ?el ihm das Sandwich fast aus der Hand. Er hatte an einem der entferntesten Tische Binding erkannt.

Mit einem Ruck steckte er den Rest des Butterbrotes in den Mund, schluckte es herunter und ging langsam auf den Tisch zu. Binding sa? allein, die Ellenbogen aufgestemmt, vor einer gro?en Schussel Schweinekoteletts mit Rotkohl und Kartoffeln und a? selbstvergessen.

Er blickte erst auf, als Kern dicht vor ihm stand. »Ah, sieh da!« sagte er nachlassig. »Wie geht’s?«

»Mir fehlen vierzig Franken in meiner Brieftasche«, sagte Kern.

»Bedauerlich«, erwiderte Binding und schluckte ein gro?es Stuck Braten hinunter. »Wirklich bedauerlich!«

»Geben Sie mir den Rest, den Sie noch haben, heraus, und die Sache ist erledigt.«

Binding trank einen Schluck Bier und wischte sich den Mund. »Die Sache ist auch so erledigt«, erklarte er gemutlich. »Oder was hatten Sie sonst vor zu tun?«

Kern starrte ihn an. Er hatte in seiner Wut bisher noch nicht daran gedacht, da? er tatsachlich nichts tun konnte. Wenn er zur Polizei ging, wurde er nach Papieren gefragt und selbst mit eingesperrt und ausgewiesen.

Er musterte Binding mit zusammengekniffenen Augen. »Keine Chance«, sagte dieser. »Sehr guter Boxer. Vierzig Pfund schwerer als Sie. Au?erdem: bei Krach im Lokal Polizei und Ausweisung.«

Kern hatte im Augenblick wenig danach gefragt, was mit ihm selbst passiert ware; aber er dachte an Ruth. Binding hatte recht: Es gab nicht die geringste Chance fur ihn, etwas zu tun. »Machen Sie so was ofter?« fragte er.

»Ich lebe davon. Und wie Sie sehen, gut.«

Kern erstickte fast vor ohnmachtiger Erbitterung. »Geben Sie mir wenigstens zwanzig Franken zuruck«, sagte er heiser. »Ich brauche das Geld. Nicht fur mich. Fur jemand anders, dem es gehort.«

Binding schuttelte den Kopf. »Ich brauche das Geld selbst. Sie sind billig davongekommen. Sie haben fur vierzig Franken die gro?te Lehre empfangen, die es im Leben gibt: nicht vertrauensselig zu sein.«

»Das stimmt.« Kern starrte ihn an. Er wollte gehen, aber er konnte nicht. »Ihre ganzen Papiere… das war naturlich alles Schwindel!«

»Denken Sie an, nein!« erwiderte Binding. »Ich war im Konzentrationslager.« Er lachte. »Allerdings wegen Diebstahls bei einem Gauleiter. Seltener Fall!«

Er langte nach dem letzten Kotelett, das noch in der Schussel lag. Im nachsten Moment hatte Kern es in der Hand. »Machen Sie ruhig Skandal«, sagte er.

Binding grinste. »Ich denke nicht daran! Ich bin ziemlich satt. Lassen Sie sich einen Teller bringen und nehmen Sie von dem Rotkohl dazu. Ich bin sogar bereit, Ihnen ein Glas Bier zu spendieren!«

Kern erwiderte nichts. Er war an der Grenze, sich zu prugeln, mit allem, was ihm in die Hand gekommen ware. Rasch drehte er sich um und ging, das erbeutete Kotelett in der Hand. An der Theke lie? er sich etwas Papier geben, um es einzupacken. Das Servierfraulein sah ihm neugierig zu. Dann ?schte es zwei Gurken aus einem Glase. »Hier«, sagte sie. »Etwas dazu.«

Kern nahm auch die Gurken. »Danke«, sagte er. »Danke vielmals.« Ein Abendessen fur Ruth, dachte er. Verdammt und ver?ucht, fur vierzig Franken!

An der Tur drehte er sich noch einmal um. Binding beobachtete ihn. Kern spuckte aus. Binding salutierte lachelnd mit zwei Fingern der rechten Hand.

HINTER BERN BEGANN es zu regnen. Ruth und Kern hatten nicht mehr genug Geld, um die Eisenbahn bis zum nachsten gro?eren Ort zu nehmen. Sie besa?en zwar noch eine kleine eiserne Reserve, aber die wollten sie erst in Frankreich angreifen. Ungefahr funfzig Kilometer weit nahm ein voruberkommendes Auto sie mit. Dann mu?ten sie zu Fu? gehen. Kern traute sich nur selten, in den Dorfern etwas zu verkaufen. Es ?el zu sehr auf. Sie schliefen im selben Ort immer nur eine Nacht. Sie kamen abends spat, wenn die Polizeiburos schon geschlossen waren, und

Вы читаете Liebe Deinen Nachsten
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату