gingen morgens, ehe sie wieder geoffnet wurden. So waren sie immer schon aus dem Ort heraus, wenn das Anmeldeformular zur Gendarmerie gegeben wurde. Binders Liste versagte fur diesen Teil der Schweiz; sie enthielt nur die gro?eren Stadte.
In der Nahe von Murten schliefen sie in einer leeren Scheune. Nachts prasselte ein Wolkenbruch hernieder. Das Dach war schadhaft, und als sie erwachten, waren sie bis auf die Haut na?. Sie versuchten, ihre Sachen zu trocknen, aber sie konnten kein Feuer machen. Alles war feucht, und sie fanden nur mit Muhe einen Fleck, wo es nicht durchgeregnet hatte. Sie schliefen eng aneinandergedruckt, um sich zu warmen, aber ihre Mantel, mit denen sie sich zudeckten, waren zu na?; – sie wachten vor Kalte wieder auf. So warteten sie bis zum Morgengrauen, dann brachen sie auf.
»Das Gehen wird uns warm machen«, sagte Kern. »Irgendwo werden wir in einer Stunde auch schon etwas Kaffee kriegen.«
Ruth nickte. »Vielleicht kommt die Sonne durch. Dann werden wir rasch trocken sein.«
Aber es blieb den ganzen Tag uber kalt und boig. Regenschauer jagten uber die Felder. Es war der erste sehr kalte Tag des Monats, die Wolken hingen faserig und tief, und nachmittags prasselte ein zweites schweres Wetter hernieder. Ruth und Kern warteten es in einer kleinen Kapelle ab. Es war sehr dunkel, und nach einer Weile begann es zu donnern, und Blitze zuckten durch die bunten Glasscheiben, auf denen Heilige in Blau und Rot Spruchbander uber den Frieden des Himmels und der Seele in ihren Handen hielten.
Kern fuhlte, da? Ruth zitterte. »Ist dir sehr kalt?« fragte er.
»Nein, nicht sehr.«
»Komm, wir gehen etwas umher, das ist besser. Ich habe Angst, da? du dich erkaltest.«
»Ich erkalte mich nicht. La? mich nur etwas so sitzen.«
»Bist du mude?«
»Nein. Ich mochte nur einen Augenblick noch so sitzen.«
»Willst du nicht doch lieber umhergehen? Nur ein paar Minuten? Man soll in nassen Sachen nicht so lange sitzen. Der Steinboden ist zu kalt.«
»Gut.«
Sie gingen langsam durch die Kapelle. Ihre Schritte hallten in dem leeren Raum. Sie gingen an den Beichtstuhlen vorbei, deren grune Vorhange sich in der Zugluft bauschten, um den Altar herum, zur Sakristei und zuruck
»Bis Murten sind es noch neun Kilometer«, sagte Kern. »Wir mussen sehen, da? wir vorher unterkommen.«
»Neun Kilometer konnen wir noch ganz gut schaffen.«
Kern murmelte etwas.
»Was sagst du?« fragte Ruth.
»Nichts. Ich ver?uche nur einen gewissen Binding.«
Sie schob ihre Hand unter seinen Arm. »Vergi? es! Das ist am einfachsten. Ich glaube, es hort auch schon auf zu regnen.«
Sie gingen hinaus. Es tropfelte noch, aber uber den Bergen stand ein machtiger Regenbogen. Er uberspannte das ganze Tal wie eine riesige bunte Brucke. Hinter den Waldern, zwischen den zerborstenen Wolken, sturzte ein Schwall gelbwei?en Lichts uber die Landschaft. Sie konnten die Sonne nicht sehen; sie sahen nur das Licht, das wie ein leuchtender Nebel hervorbrach.
»Komm«, sagte Ruth. »Jetzt wird es besser.«
Abends kamen sie an einen Schafstall. Der Hirt, ein alterer, schweigsamer Bauer, sa? vor der Tur. Zwei Schaferhunde lagen neben ihm. Sie sturzten den beiden bellend entgegen. Der Bauer nahm die Pfeife aus dem Mund und p?ff sie zuruck. Kern ging auf ihn zu. »Konnen wir die Nacht hier schlafen? Wir sind na? und mude und konnen nicht weiter.«
Der Mann sah ihn lange an. »Es ist ein Heuboden oben«, sagte er dann.
»Das ist alles, was wir brauchen.«
Der Mann sah ihn wieder eine Zeitlang an. »Geben Sie mir Ihre Zundholzer und Ihre Zigaretten«, sagte er schlie?lich. »Es ist viel Heu da.«
Kern gab sie ihm. »Sie mussen die Leiter drinnen emporklettern«, erklarte der Bauer. »Ich schlie?e den Stall hinter Ihnen ab. Ich wohne im Ort. Morgen fruh lasse ich Sie dann heraus.«
»Danke. Danke vielmals.«
Sie kletterten die Leiter hinauf. Oben war es halbdunkel und warm. Nach einer Weile kam der Bauer. Er brachte ihnen Weintrauben, etwas Schafkase und dunkles Brot. »Ich schlie?e jetzt ab«, sagte er. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht. Und vielen Dank.«
Sie horchten, bis er unten war. Dann zogen sie ihre nassen Sachen aus und legten sie auf das Heu. Sie kramten ihre Nachtsachen aus den Koffern und ?ngen an zu essen. Sie waren sehr hungrig.
»Wie schmeckt es?« fragte Kern.
»Wunderbar.« Ruth lehnte sich an ihn.
»Wir haben Gluck, was?«
Sie nickte.
Unten schlo? der Bauer ab. Der Heuboden hatte ein rundes Fenster. Sie hockten sich daran und sahen den Bauern fortgehen. Der Himmel war klar geworden. Er spiegelte sich im See. Der Bauer ging langsam uber die abgemahten Felder, mit dem bedachtigen Schritt von Menschen, die der Natur taglich nahe sind. Au?er ihm war niemand zu sehen. Er ging allein uber die Felder, und es schien, als truge er auf seinen dunklen Schultern den ganzen Himmel.
Sie sa?en am Fenster, bis die farblose Stunde vor der Nacht alles Licht grau machte. Das Heu wuchs hinter ihnen im Spiel der Schatten zu einem phantastischen Gebirge. Sein Geruch mischte sich mit dem Geruch von Torf und Whisky, den die
Schafe ausstromen. Sie konnten sie durch die Bodenluke sehen; – undeutliches Gewimmel von ?ockigen Rucken mit vielen kleinen Lauten, das allmahlich ruhiger und stiller wurde.
Am nachsten Morgen kam der Bauer und schlo? den Stall auf. Kern ging hinunter. Ruth schlief noch. Ihr Gesicht war gerotet, und sie atmete hastig. Kern half dem Bauern die Schafe austreiben.
»Konnen wir wohl einen Tag hierbleiben?« fragte er. »Wir wollen Ihnen gern dafur helfen, wenn es geht.«
»Zu helfen ist da nicht viel. Aber Sie konnen ruhig hierbleiben.«
»Danke.«
Kern erkundigte sich nach Adressen von Deutschen in der Stadt. Der Ort stand nicht auf Binders Liste. Der Bauer nannte ihm ein paar Leute und beschrieb ihm, wo sie wohnten.
Kern ging nachmittags, als es dunkel wurde, los. Er fand das erste Haus sehr leicht. Es war eine wei?e Villa, die in einem kleinen Garten lag. Ein sauberes Hausmadchen offnete die Tur. Es fuhrte ihn sofort in einen kleinen Vorraum, anstatt ihn drau?en stehenzulassen. Gutes Zeichen, dachte Kern. »Ist Herr Ammers zu sprechen? Oder Frau Ammers?« frage er.
»Einen Augenblick.«
Das Madchen verschwand und kam dann wieder. Es fuhrte ihn in einen Salon mit neuen Mahagonimobeln. Kern ware fast gefallen, so glatt war der Boden gebohnert. Auf allen Mobeln lagen Spitzendecken.
Nach einer Minute erschien Herr Ammers. Er war ein kleiner Mann mit wei?em Spitzbart und sah teilnahmsvoll aus. Kern entschlo? sich, von den zwei Geschichten, die er auf Lager hatte, die wahre zu erzahlen.
Ammers horte ihm freundlich zu. »Also Sie sind ein Emigrant ohne Pa? und ohne Aufenthaltserlaubnis?« sagte er dann. »Und Sie haben Seife und Haushaltssachen zu verkaufen?«
»Ja.«
»Gut.« Ammers erhob sich. »Meine Frau kann sich Ihre Sachen einmal ansehen.«
Er ging hinaus. Nach einiger Zeit kam seine Frau herein. Sie war ein ausgeblichenes Neutrum mit einem Gesicht von der Farbe zu lange gekochten Fleisches und blassen Schell?schaugen.
»Was haben Sie denn fur Sachen?« fragte sie mit zimperlicher Stimme.
Kern packte seine Dinge aus. Es war nicht mehr allzuviel. Die Frau suchte hin und her, sie betrachtete die Nahnadeln, als hatte sie nie vorher welche gesehen, sie roch an der Seife und probierte die Zahnburste auf dem