Dosis Brom genommen hatte.

Er sa? lange Zeit so. Er sah seine Hande an – sie lagen wie wei?e, tote Tiere auf seinen Knien; blasse, emp?ndungslose Kraken mit funf schlaffen Tentakeln. Sie gehorten nicht zu ihm. Er gehorte uberhaupt nicht zu sich selbst, er war der Korper eines andern, dessen Augen nach innen gerichtet waren und eine Lahmung anstarrten, die nur manchmal in sich erzitterte.

Schlie?lich stand er auf und ging in sein Zimmer zuruck. Er sah die Krawatten auf dem Tisch liegen. Mechanisch suchte er eine Schere heraus und begann die Binder zu zerschneiden, sorgfaltig, Streifen um Streifen. Er lie? die abgeschnittenen Stucke nicht auf den Boden fallen, sondern sammelte sie pedantisch in der hohlen Hand und schichtete sie auf dem Tisch zu einem bunten Haufchen. Mitten in dieser automatischen Tatigkeit uberraschte er sich dabei, was er tat; er legte die Schere beiseite und horte auf. Gleich darauf hatte er vergessen, was er getan hatte. Er ging mit steifen Schritten durch das Zimmer und setzte sich in eine Ecke. Dort blieb er hocken und rieb sich die Hande, immer wieder, mit einer sonderbar muden, greisen Bewegung, als frore er und hatte nicht mehr die Kraft, sich wirklich zu warmen.

14

Kern warf die letzten Streichholzer in die Luft. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. »Was machen Sie denn da?«

Er zuckte zusammen, wandte sich um und sah eine Uniform. »Nichts«, stammelte er. »Entschuldigen Sie! Eine Spielerei, weiter nichts.«

Der Beamte sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Es war nicht derselbe, der ihn bei Ammers verhaftet hatte. Kern sah rasch zum Fenster hinauf. Ruth war nicht mehr zu sehen. Sie konnte auch wohl nichts bemerkt haben; es war zu dunkel.

Kern versuchte ein treuherziges Lacheln. »Entschuldigen Sie vielmals«, sagte er leichthin. »Es war nur ein kleiner Spa?. Sie sehen sicher selbst, da? nichts dadurch geschehen konnte. Ein paar Streichholzer, weiter nichts. Ich wollte mir eine Zigarette anzunden. Sie brannte nicht recht, da habe ich gleich ein halbes Dutzend genommen und mir fast die Finger verbrannt.«

Er lachte, schlenkerte die Hand und wollte weitergehen. Doch der Beamte hielt ihn fest. »Einen Moment! Sie sind kein Schweizer, was?«

»Warum nicht?«

»Das hort man doch! Warum leugnen Sie?«

»Ich leugne ja gar nicht«, erwiderte Kern. »Es interessiert mich nur, woher Sie das sofort wu?ten.«

Der Beamte betrachtete ihn au?erst mi?trauisch. »Sollten wir da vielleicht…?« murmelte er und lie? eine Taschenlampe aufblitzen. »Horen Sie!« sagte er dann, und seine Stimme hatte plotzlich einen anderen Klang. »Kennen Sie Herrn Ammers?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Kern, so ruhig er konnte.

»Wo wohnen Sie?«

»Ich bin erst seit heute morgen hier, wollte mir gerade einen Gasthof suchen. Konnen Sie mir einen empfehlen? Nicht zu teuer.«

»Zunachst kommen Sie mal mit. Da liegt eine Anzeige von Herrn Ammers vor, die pa?t genau auf Sie. Das wollen wir erst mal aufklaren!«

Kern ging mit. Er ver?uchte sich selbst, da? er nicht besser aufgepa?t hatte. Der Beamte mu?te auf Gummisohlen von hinten herangeschlichen sein. Eine Woche lang war es gut gegangen, daran lag es wahrscheinlich. Er war zu sicher geworden. Verstohlen blickte er umher, um eine Gelegenheit zum Weglaufen zu ?nden. Aber der Weg war zu kurz; wenige Minuten spater war er schon auf der Polizeiwache.

Der Beamte, der ihn das erstemal hatte laufenlassen, sa? an einem Tisch und schrieb. Kern schopfte Mut. »Ist er das?« fragte der Polizist, der ihn gebracht hatte.

Der erste sah Kern ?uchtig an. »Moglich. Kann’s nicht genau sagen. Es war zu dunkel.«

»Dann werde ich Ammers mal anrufen, der mu? ihn ja kennen.«

Er ging hinaus. »Menschenskind!« sagte der erste Beamte zu Kern,»ich dachte, Sie waren langst weg. Jetzt wird’s bose. Ammers hat Sie damals angezeigt.«

»Kann ich nicht wieder weglaufen?« fragte Kern rasch. »Sie wissen doch…«

»Ausgeschlossen. Der einzige Weg geht durch das Vorzimmer druben. Und da steht Ihr Freund und telefoniert. Nein… jetzt sitzen Sie drin. Gerade unserm scharfsten Mann, der befordert werden will, sind Sie in die Finger gefallen.«

»Verdammt!«

»Ja. Besonders, weil Sie schon einmal ausgerissen sind. Ich mu?te das seinerzeit rapportieren, weil ich wu?te, da? Ammers nachspionieren wurde.«

»Jesus!« Kern trat einen Schritt zuruck.

»Sie konnen sogar Jesus Christus sagen!« erklarte der Beamte. »Diesmal hilft es nichts, Sie kriegen ein paar Wochen.«

Einige Minuten spater kam Ammers. Er keuchte, so war er gelaufen. Sein Spitzbart glanzte. »Naturlich!« sagte er. »Das ist er! In Lebensgro?e, dieser Frechling!«

Kern sah ihn an. »Diesmal wird er ja wohl nicht entwischen, wie?« fragte Ammers.

»Diesmal nicht«, bestatigte der Gendarm.

»Gottes Muhlen mahlen langsam«, deklamierte Ammers salbungsvoll und triumphierend. »Langsam, aber tre?ich fein. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.«

»Wissen Sie, da? Sie Leberkrebs haben?« unterbrach Kern ihn. Er wu?te kaum, was er sagte. Er wu?te auch nicht, wie er auf den Gedanken kam. Er war nun plotzlich rasend vor Wut, und ohne sein Ungluck noch ganz zu fassen, richtete sich all sein Denken im Augenblick automatisch nur auf den Punkt, Ammers durch irgend etwas zu treffen. Schlagen konnte er ihn nicht, das hatte seine Strafe vergro?ert.

»Was?« Ammers verga? vor Uberraschung den Mund zu schlie?en.

»Leberkrebs! Typischen Leberkrebs!« Kern sah, da? er getroffen hatte. Sofort sturzte er sich weiter darauf. »Ich bin Mediziner, ich wei? das! In einem Jahr geht es los mit rasenden Schmerzen! Sie werden einen furchtbaren Tod haben! Es ist nichts dagegen zu machen! Nichts!«

»Das ist doch…!«

»Gottes Muhlen!« zischte Kern. »Wie sagten Sie? Langsam, langsam! Jahrelang!«

»Herr Gendarm!« zeterte Ammers. »Ich verlange, da? Sie mich schutzen vor diesem Individuum!«

»Machen Sie Ihr Testament«, fauchte Kern. »Es ist das einzige, was Ihnen noch ubrigbleibt! Von innen zerfressen und verfaulen werden Sie!«

»Herr Gendarm!« Ammers blickte hilfesuchend und wild um sich. »Sie haben mich vor dieser Beleidigung zu schutzen.«

Der erste Beamte sah ihn interessiert an. »Bis jetzt beleidigt er Sie noch nicht«, erklarte er dann. »Bis jetzt macht er nur medizinische Feststellungen.«

»Ich verlange, da? das alles zu den Akten genommen wird!« schrie Ammers.

»Sehen Sie nur!« Kern zeigte mit dem Finger auf Ammers, der zuruckzuckte, als ware dieser Finger eine Schlange. »Die bleigraue Gesichtshaut in der Erregung, die gelblichen Augapfel… ganz sichere Anzeichen! Ein Todeskandidat! Man kann nur noch fur ihn beten!«

»Todeskandidat!« tobte Ammers,»nehmen Sie Todeskandidat zu den Akten!«

»Todeskandidat ist ebenfalls keine Beleidigung«, erklarte der erste Beamte mit offener Schadenfreude. »Sie werden nicht darauf klagen konnen. Wir sind alle Todeskandidaten.«

»Die Leber zersetzt sich bei lebendigem Leibe!« Kern sah, da? Ammers plotzlich bla? geworden war. Er machte einen Schritt vorwarts. Ammers wich vor ihm zuruck wie vor dem Satan. »Anfangs merkt man nichts!« erklarte Kern mit wutendem Triumph. »Es ist auch kaum etwas festzustellen. Wenn man es aber merkt, ist es schon zu spat. Leberkrebs! Der langsamste und furchterlichste Tod, den es gibt!«

Ammers starrte Kern nur noch an. Er erwiderte nichts mehr. Unwillkurlich griff er mit der Hand in die Gegend der Leber.

Вы читаете Liebe Deinen Nachsten
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату