»Ja, das war es! Manchmal glaubt man, schon sehr gerissen zu sein; dann macht man gewohnlich Dummheiten. Ich bin vorlau?g zu vierzehn Tagen verurteilt. Ich komme wahrscheinlich in zwolf Tagen heraus. Ist sie dann gesund?«
»Nein. Jedenfalls noch nicht so, da? sie reisen kann. Ich denke, wir lassen sie so lange im Krankenhaus, wie es eben geht.«
»Naturlich!« Kern dachte nach. »Ich mu? dann eben in Genf auf sie warten. Ich kann sie ja ohnehin nicht mitnehmen. Ich werde ja abgeschoben.«
Beer zog einen Brief aus der Tasche. »Hier! Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«
Kern griff hastig nach dem Brief – aber dann steckte er ihn in die Tasche. »Sie konnen ihn ruhig jetzt lesen«, sagte Beer. »Ich habe Zeit.«
»Nein, ich lese ihn nachher.«
»Dann gehe ich jetzt zum Krankenhaus zuruck. Ich will ihr Bescheid sagen, da? ich Sie gesehen habe. Wollen Sie mir etwas mitgeben?« Beer zog einen Fullfederhalter und Briefpapier aus dem Mantel. »Ich habe alles mitgebracht.«
»Danke. Danke vielmals!« Kern schrieb rasch einen Brief; es ginge ihm gut, Ruth moge rasch gesund werden. Wenn er vorher abgeschoben werde, wolle er auf sie in Genf warten. Jeden Mittag um zwolf Uhr vor der Hauptpost. Beer werde ihr alles noch genau sagen.
Er legte den Zwanzigfrankenschein des Richters hinein und klebte den Umschlag zu. »Hier!«
»Wollen Sie nicht erst den anderen Brief lesen?« fragte Beer.
»Nein! Noch nicht. So schnell nicht. Ich habe doch den ganzen Tag nichts anderes.«
Beer sah ihn uberrascht an; dann steckte er den Brief ein. »Gut. Ich werde Sie in ein paar Tagen wieder besuchen.«
»Bestimmt?«
Beer lachte. »Warum denn nicht?«
»Ja, das ist wahr! Jetzt ist ja alles in Ordnung. Wenigstens in der Beziehung. Die nachsten zwolf Tage kann nichts mehr dazwischenkommen. Keine Uberraschungen. Das ist eigentlich ganz beruhigend.«
Kern nahm den Brief Ruths in die Hande, als Beer drau?en war. So leicht, dachte er, ein bi?chen Papier und ein paar Tintenstriche und so viel Gluck.
Er legte den Brief auf die Kante seiner Pritsche. Dann machte er seine Ubungen. Er boxte Ammers erneut nieder und gab ihm diesmal auch ein paar verbotene kraftige Nierenschlage. »Wir lassen uns mal nicht unterkriegen«, sagte er zu dem Brief hinuber und schickte Ammers mit einem schonen Schwinger gegen den Spitzbart abermals zu Boden. Er ruhte sich aus und unterhielt sich weiter mit dem Brief. Erst nachmittags, als es dammerig wurde, offnete er ihn und las die ersten Zeilen. Jede Stunde las er ein Stuck weiter. Abends war er bis zur Unterschrift gekommen. Er sah die Sorge Ruths, ihre Angst, ihre Liebe und ihre Tapferkeit, und er sprang auf und schlug aufs neue auf Ammers ein. Dieser Kampf war allerdings nicht sehr sportgerecht… Ammers erhielt Ohrfeigen, Fu?tritte, und zum Schlu? wurde ihm der wei?e Spitzbart ausgerissen.
STEINER HATTE SEINE Sachen gepackt. Er wollte nach Frankreich. Es war gefahrlich in Osterreich geworden, und der Anschlu? an Deutschland war nur noch eine Frage der Zeit. Au?erdem rustete der Prater und das Unternehmen Direktor Potzlochs zum gro?en Winterschlaf.
Potzloch schuttelte Steiner die Hand. »Wir fahrenden Leute sind ja gewohnt, da? man sich trennt. Irgendwo trifft man sich immer mal wieder.«
»Bestimmt.«
»Na also!« Potzloch griff nach seinem Kneifer. »Kommen Sie gut durch den Winter. Ich bin kein Freund von Abschiedsszenen.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Steiner.
»Wissen Sie«, Potzloch zwinkerte,»es ist eine reine Gewohnheitssache. Wenn man so viele Leute hat kommen und gehen sehen wie ich… reine Gewohnheitssache zum Schlu?. Als wenn man blo? mal von der Schie?bude zum Ringelspiel hinubergeht.«
»Ein schones Bild! Von der Schie?bude zum Ringelspiel… und vom Ringelspiel wieder zur Schie?bude… sogar ein Bild zum Verlieben!«
Potzloch schmunzelte geschmeichelt. »Unter uns gesprochen, Steiner… wissen Sie, was das Furchtbarste ist auf der Welt? Im Vertrauen gesagt: da? alles zum Schlu? Gewohnheitssache wird.« Er hakte seinen Kneifer auf die Nase. »Sogar die sogenannten Ekstasen!«
»Sogar der Krieg«, sagte Steiner. »Sogar der Schmerz! Sogar der Tod! Ich kenne jemand, dem sind in zehn Jahren vier Frauen gestorben. Jetzt hat er die funfte. Sie krankelt schon. Was soll ich Ihnen sagen, er schaut bereits in aller Ruhe nach der sechsten aus. Alles Gewohnheitssache! Nur der eigene Tod nicht.«
Potzloch winkte ?uchtig ab. »An den glaubt man ja nie ernstlich, Steiner. Nicht einmal im Krieg; denn sonst gab’s keinen mehr. Jeder glaubt immer, gerade er kame dran vorbei. Stimmt’s?«
Er sah Steiner mit schiefem Kopf an. Steiner nickte amusiert. Potzloch streckte ihm noch einmal die Hand hin. »Also Servus! Ich mu? rasch zur Schie?bude hinuber, nachsehen, ob die das Service gut einpacken.«
»Servus! Ich gehe dafur wieder einmal ins Ringelspiel.«
Potzloch grinste und sauste davon.
Steiner ging zum Wagen hinuber. Das trockene Laub knisterte unter seinen Fu?en. Die Nacht stand schweigend und unbarmherzig uber dem Walde. Von der Schie?bude klang Hammern heruber. Im halb abgebrochenen Karussell schwankten ein paar Lampen.
Steiner ging, sich von Lilo zu verabschieden. Sie blieb in Wien. Ihre Ausweise und ihre Arbeitserlaubnis galten nur fur Osterreich. Sie ware auch nicht mitgegangen, wenn sie gekonnt hatte. Steiner und sie waren Kameraden des Schicksals, zusammengeweht vom Wind der Zeit… sie wu?ten das beide.
Sie stand im Wohnwagen und deckte den Tisch. Als er eintrat, wandte sie sich um. »Es ist Post fur dich gekommen«, sagte sie.
Steiner nahm den Brief und sah auf die Marke. »Aus der Schweiz. Sicher von unserem Kleinen.« Er ri? den Umschlag auf und las. »Ruth ist im Krankenhaus«, sagte er dann.
»Was hat sie?« fragte Lilo.
»Lungenentzundung. Aber anscheinend nicht schwer. Sie sind in Murten. Der Kleine gibt abends Feuerzeichen vor dem Hospital. Vielleicht treffe ich sie noch, wenn ich durch die Schweiz komme.«
Steiner steckte den Brief in seine Brusttasche. »Hoffentlich wei? der Kleine, was er machen mu?, damit sie wieder zusammenkommen.«
»Er wird es wissen«, sagte Lilo. »Er hat viel gelernt.«
»Ja, trotzdem…«
Steiner wollte Lilo erklaren, da? es schwierig fur Kern sei, wenn Ruth aus dem Krankenhaus zur Grenze gebracht wurde. Aber dann dachte er daran, da? sie beide sich heute abend zum letztenmal sahen – und da? es besser sei, nicht von zwei Menschen zu sprechen, die beieinander bleiben und sich wiedersehen wollten.
Er ging zum Fenster und sah hinaus. Auf dem mit Karbidlampen erleuchteten Platz packten Arbeiter die Schwane, die Pferde und Giraffen des Karussells in graue Sacke. Die Tiere lagen und standen auf dem Boden herum, als hatte eine Bombe das paradiesische Zusammenleben plotzlich zerstort. In einer der abmontierten Gondeln sa?en zwei Arbeiter und tranken Bier aus Flaschen. Sie hatten ihre Jacken und ihre Mutzen uber das Geweih eines wei?en Hirsches gestulpt, der mit weitgestreckten Beinen, wie erstarrt zu ewigem Aufbruch, an einer Kiste lehnte.
»Komm«, sagte Lilo hinter ihm,»das Essen ist fertig. Ich habe dir Piroggen gemacht.«
Steiner drehte sich um und nahm sie um die Schulter. »Essen«, sagte er. »Piroggen. Fur uns unstete Teufel ist zusammen essen schon so etwas wie eine Heimat, wie?«
»Es gibt noch etwas anderes. Aber das wei?t du nicht.« Sie wartete einen Augenblick. »Du wei?t es nicht, weil du nicht weinen kannst und nicht verstehst, was das ist… zusammen traurig zu sein.«
»Ja, das kenne ich nicht«, sagte Steiner. »Wir waren nicht oft traurig, Lilo.«
»Nein. Du nicht. Du bist wild oder gleichgultig, oder du lachst oder bist das, was ihr tapfer nennt. Es ist es nicht.«
»Was ist es denn, Lilo?«
»Furcht davor, sich dem Gefuhl auszuliefern. Furcht vor Tranen. Furcht davor, kein Mann zu sein. In Ru?land