»Seien Sie jetzt ruhig!« schnauzte der zweite Beamte auf einmal scharf. »Es ist genug damit! Setzen Sie sich dorthin und antworten Sie auf unsere Fragen. Seit wann sind Sie in der Schweiz?«

Kern wurde am nachsten Morgen dem Bezirksgericht vorgefuhrt. Der Richter war ein alterer, dicker Mann mit einem runden, roten Gesicht. Er war menschlich, aber er konnte Kern nicht helfen. Die Paragraphen waren eindeutig.

»Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet, als Sie illegal uber die Grenze kamen?« fragte er.

»Weil ich dann sofort wieder ausgewiesen worden ware«, erwiderte Kern mude. -»Ja, naturlich, das waren Sie.«

»Und druben auf der anderen Seite hatte ich mich wieder sofort beim nachsten Polizeiposten melden mussen, wenn ich nicht das Gesetz hatte verletzen wollen. Von dort ware ich dann in der nachsten Nacht zuruck in die Schweiz gebracht worden. Und von der Schweiz wieder nach druben. Und von druben wieder zuruck. So ware ich langsam zwischen den Grenzposten verhungert. Zumindest ware ich ewig von einer Polizeiwache zur andern gewandert. Was sollen wir denn anderes machen, als gegen das Gesetz versto?en?«

Der Richter hob die Schultern. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich mu? Sie verurteilen. Die Mindeststrafe ist vierzehn Tage Gefangnis. Es ist das Gesetz. Wir mussen unser Land vor der Uberschwemmung durch Fluchtlinge schutzen.«

»Ich wei?.«

Der Richter sah in seine Akten. »Alles, was ich tun kann, ist fur Sie eine Eingabe zu machen an das Obergericht, da? Sie nur Haft bekommen und kein Gefangnis.«

»Danke vielmals«, sagte Kern. »Aber das ist mir gleich. Darin habe ich keinen Ehrgeiz mehr.«

»Das ist gar nicht gleich«, erklarte der Richter mit einem gewissen Eifer. »Im Gegenteil, es ist sogar sehr wichtig fur die burgerlichen Ehrenrechte. Wenn Sie Haft bekommen, gelten Sie nicht als vorbestraft, das wissen Sie vielleicht noch nicht!«

Kern blickte den ahnungslosen, gutmutigen Menschen eine Weile an. »Burgerliche Ehrenrechte«, sagte er dann. »Was soll ich damit? Ich habe ja nicht einmal die einfachsten burgerlichen Rechte! Ich bin ein Schatten, ein Gespenst, ein burgerlicher Toter. Was sollen mir da die Dinge, die Sie Ehrenrechte nennen?«

Der Richter schwieg eine Weile. »Sie mussen doch irgendwelche Papiere bekommen konnen«, sagte er schlie?lich. »Vielleicht kann man uber ein deutsches Konsulat einen Ausweis fur Sie beantragen!«

»Das hat ein tschechisches Gericht vor einem Jahr bereits getan. Der Antrag ist abgelehnt worden. Wir existieren fur Deutschland nicht mehr. Fur die ubrige Welt nur noch als Subjekte fur die Polizei.«

Der Richter schuttelte den Kopf. »Hat denn der Volkerbund noch nichts fur Sie getan? Sie sind doch viele Tausende; und Sie mussen doch irgendwie existieren durfen!«

»Der Volkerbund berat seit ein paar Jahren daruber, uns Identitatspapiere zu geben«, erwiderte Kern geduldig. »Jedes Land versucht auch da, uns dem andern zuzuschieben. Es wird wohl also noch eine Anzahl von Jahren dauern.«

»Und inzwischen…«

»Inzwischen… Sie sehen ja…«

»Aber mein Gott!« sagte der Richter plotzlich ziemlich ratlos in seinem breiten, weichen Schweizer Dialekt »Das ist ja ein Problem! Was soll denn nur aus Ihnen werden?«

»Das wei? ich nicht. Wichtiger ist, was jetzt mit mir geschieht.«

Der Richter fuhr sich uber das glanzende Gesicht und sah Kern an. »Ich habe einen Sohn«, sagte er,»der ist ungefahr so alt wie Sie. Wenn ich mir vorstellen sollte, da? er herumgejagt wurde, ohne irgendeinen anderen Grund, als da? er geboren worden ist…«

»Ich habe einen Vater«, erwiderte Kern. »Wenn Sie ihn sahen…«

Er blickte zum Fenster hinaus. Die Herbstsonne schien friedlich auf einen Apfelbaum, der voll von Fruchten hing. Da drau?en war die Freiheit. Da drau?en war Ruth.

»Ich mochte Sie etwas fragen«, sagte der Richter nach einer Weile. »Es gehort nicht mehr dazu. Aber ich mochte Sie es doch fragen. Glauben Sie noch an irgend etwas?«

»O ja; ich glaube an den heiligen Egoismus! An die Unbarmherzigkeit! An die Luge! An die Tragheit des Herzens!«

»Das habe ich gefurchtet. Wie sollten Sie auch anders…«

»Es ist noch nicht alles«, erwiderte Kern ruhig. »Ich glaube auch an Gute, an Kameradschaft, an Liebe und an Hilfsbereitschaft! Ich habe sie kennengelernt. Mehr vielleicht als mancher, dem es gut geht.«

Der Richter stand auf und kam schwerfallig um seinen Stuhl herum auf Kern zu. »Gut, so was zu horen«, murmelte er. »Wenn ich nur wu?te, was ich fur Sie tun konnte!«

»Nichts«, sagte Kern. »Ich kenne die Gesetze auch schon, und ich habe einen Bekannten, der ist sogar Spezialist darin. Schicken Sie mich ins Gefangnis.«

»Ich schicke Sie in Untersuchungshaft und gebe Ihren Fall an das Obergericht weiter.«

»Wenn es Ihnen das Urteil erleichtert, gern. Wenn es aber langer dauert, mochte ich lieber ins Gefangnis.«

»Es dauert nicht langer, dafur werde ich sorgen.«

Der Richter nahm ein riesiges Portemonnaie aus der Tasche. »Es gibt ja leider nur diese primitive Form von Hilfe«, sagte er zogernd und nahm einen zusammengefalteten Schein heraus. »Es ist mir peinlich, nichts anderes fur Sie tun zu konnen…«

Kern nahm das Geld. »Es ist das einzige, was uns wirklich hilft«, erwiderte er und dachte: Zwanzig Franken! Welch ein Gluck! Damit kommt Ruth bis zur Grenze!

Er wagte nicht, ihr zu schreiben. Es ware dadurch herausgekommen, da? sie schon langer im Lande war, und sie hatte verurteilt werden konnen. So hatte sie immer noch die Moglichkeit, einfach ausgewiesen zu werden oder, wenn sie Gluck hatte, ohne weiteres aus dem Krankenhaus entlassen zu werden.

Am ersten Abend war er unglucklich und unruhig und konnte nicht schlafen. Er sah Ruth ?ebernd im Bett liegen und schreckte auf, weil er getraumt hatte, sie wurde begraben. Er hockte sich auf die Pritsche und sa? lange Zeit so, die Arme um die Knie gepre?t. Er wollte sich nicht unterkriegen lassen, aber er fuhlte, da? es starker sein konnte als er. Es ist die Nacht, dachte er, die Nacht und die Angst der Nacht. Die Angst am Tage ist vernunftig; die Angst der Nacht ist ohne Grenzen.

Er stand auf und ging in dem kleinen Raum hin und her. Er atmete lang und tief. Dann zog er seine Jacke aus und begann, Freiubungen zu machen. Ich darf die Nerven nicht verlieren, dachte er; dann bin ich verloren. Ich mu? gesund bleiben. Er machte Kniebeugen und Rumpfdrehungen, und allmahlich gelang es ihm, sich auf seinen Korper zu konzentrieren. Dann kam ihm die Erinnerung an den Abend auf der Polizeiwache in Wien und den Studenten, der Boxunterricht gegeben hatte. Er verzog das Gesicht. Ohne den Studenten ware ich heute abend sicher nicht so gegen Ammers gewesen, dachte er. Ohne ihn nicht und ohne Steiner nicht. Ohne dieses ganze harte Leben nicht; es soll mich hart machen, aber es soll mich nicht kaputtschlagen. Ich will mich wehren. Er begann auszuholen, weich in den Beinen federnd, und schlug lange Gerade mit dem ganzen Korperschwung in das Dunkel, rechts und links, dann ein paar kurze Uppercuts dazwischen, rascher und rascher… und plotzlich schimmerte vor ihm geisterhaft der wei?e Spitzbart des leberkranken Ammers durch die Finsternis, und die Sache bekam Saft und Kraft. Er schlug ihm kurze Gerade und gewaltige Schwinger um Kinn und Ohren, er pfefferte zwei wuste Herzhaken und einen grauenhaften Schlag auf den Solarplexus hinterher, und es schien ihm, als horte er Ammers mit einem Achzen zu Boden krachen. Aber das war ihm noch nicht genug. Er lie? ihn immer aufs neue hochkommen, und er zerschlug systematisch den Schatten des Feindes, keuchend vor Erregung, wobei ihm zum Schlu? als besondere Delikatesse schwere Leberhaken ein?elen. So wurde es Morgen, und er war so erschopft und mude, da? er auf seine Pritsche ?el und sofort einschlief und die Angst der Nacht hinter sich gebracht hatte.

Zwei Tage spater trat Doktor Beer in die Zelle. Kern sprang auf. »Wie geht es ihr?«

»Ganz gut; das hei?t normal.«

Kern atmete auf. »Woher wu?ten Sie, da? ich hier bin?«

»Das war einfach. Sie kamen nicht mehr. Also mu?ten Sie hier sein.«

»Das stimmt. Wei? sie es?«

»Ja. Als Sie gestern abend nicht als Prometheus auftraten, hat sie Himmel und Holle in Bewegung gesetzt, mich zu erreichen. Eine Stunde spater wu?ten wir Bescheid. Ubrigens eine verruckte Idee, das mit den Streichholzern!«

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