KERN HATTE KEINE Gelegenheit mehr, Ruth Nachricht zu geben. Beer war am Tage vorher dagewesen und hatte ihm erklart, sie musse noch ungefahr eine Woche im Hospital bleiben. Er beschlo?, ihm sofort von der franzosischen Grenze aus zu schreiben. Er wu?te jetzt das Wichtigste – da? Ruth auf keinen Fall nach Deutschland abgeschoben wurde und da? sie, wenn sie Reisegeld hatte, nach Genf gebracht werden konnte.
Punktlich nach zwei Stunden holte ihn ein Detektiv in Zivil ab. Sie gingen zum Bahnhof. Kern trug seinen Koffer. Beer hatte ihn am Tage vorher aus dem Schafstall geholt und ihm gebracht.
Sie kamen an einem Gasthof vorbei. Die Fenster der Wirtsstube, die zu ebener Erde lag, standen weit offen. Eine Zitherkapelle spielte einen Landler, und ein Mannerchor sang dazu. Neben dem Fenster standen zwei Sanger in Alplertracht und jodelten. Sie wiegten sich dabei hin und her, einer den Arm um die Schulter des andern.
Der Detektiv blieb stehen. Einer der Jodler brach ab. Es war der Tenor. »Wo bleibst du denn so lange, Max?« fragte er. »Alle warten schon.«
»Dienst!« erwiderte der Detektiv.
Der Jodler streifte Kern mit einem Blick. »So ein Mist!« brummte er mit plotzlich tiefer Stimme. »Dann ist unser Quartett heute abend geschmissen.«
»Ausgeschlossen. Ich bin in zwanzig Minuten zuruck.«
»Bestimmt?«
»Bestimmt!«
»Gut! Wir mussen den neuen Doppeljodler heute unbedingt hinkriegen. Erkalte dich nicht!«
»Nein, nein!«
Sie gingen weiter. »Fahren Sie denn nicht mit zur Grenze?« fragte Kern nach einiger Zeit.
»Nein. Wir haben ein neues Patent fur euch.«
Sie kamen zum Bahnhof. Der Detektiv suchte den Zugfuhrer. »Hier ist er«, erklarte er und zeigte auf Kern. Dann ubergab er dem Zugfuhrer den Ausweisungsbefehl. »Gute Reise, mein Herr«, sagte er auf einmal sehr ho?ich und stapfte von dannen.
»Kommen Sie mit!«
Der Zugfuhrer brachte Kern zu dem Bremserhauschen eines Guterwagens. »Steigen Sie hier ein.«
Die kleine Kabine enthielt nichts als einen holzernen Sitz. Kern schob seinen Koffer darunter auf den Boden. Der Zugfuhrer schlo? die Tur von au?en ab. »So! In Basel werden Sie ’rausgelassen.«
Er ging weiter, den schwach beleuchteten Bahnsteig entlang. Kern schaute aus dem Fenster der Kabine. Er probierte vorsichtig, ob er sich hindurchzwangen konne. Es ging nicht; das Fenster war schmal.
Ein paar Minuten spater fuhr der Zug an. Die hellen Wartesale glitten voruber mit leeren Tischen und dem leeren, sinnlosen Licht. Der Stationsvorsteher mit der roten Mutze blieb im Dunkel zuruck. Ein paar geduckte Stra?en schwangen voruber, eine Bahnschranke mit wartenden Automobilen, ein kleines Cafe, in dem ein paar Leute Karten spielten – dann war die Stadt verschwunden.
Kern setzte sich auf das holzerne Brett. Er stellte seine Fu?e auf den Koffer. Er pre?te sie fest dagegen und sah aus dem Fenster. Die Nacht drau?en war dunkel und unbekannt und windig, und er fuhlte sich plotzlich sehr elend.
In Basel wurde er von einem Polizisten abgeholt und zur Zollwache gebracht. Man gab ihm zu essen. Dann fuhr er mit einem Beamten mit der Stra?enbahn nach Burgfelden. Sie kamen im Dunkel an einem judischen Friedhof vorbei. Dann passierten sie eine Ziegelei und bogen von der Chaussee ab. Nach einiger Zeit blieb der Beamte stehen. »Hier weiter – immer geradeaus.«
Kern ging weiter. Er wu?te ungefahr, wo er war, und hielt sich in der Richtung auf St. Louis. Er versteckte sich nicht; es war ihm gleich, ob man ihn sofort fa?te.
Er verfehlte die Richtung. Erst gegen Morgen kam er in St. Louis an. Er meldete sich sofort bei der franzosischen Polizei und erklarte, nachts von Basel herubergeschoben worden zu sein. Er mu?te vermeiden, da? man ihn ins Gefangnis steckte. Das konnte er nur, wenn er sich stets am selben Tage bei der Polizei oder beim Zoll meldete. Dann war er nicht strafbar, und man konnte ihn nur zuruckschicken.
Die Polizei behielt ihn tagsuber in Haft. Abends schickte sie ihn zum Grenzzollamt.
Es waren zwei Zollbeamte da. Einer sa? an einem Tisch und schrieb. Der andere hockte auf einer Bank neben dem Ofen. Er rauchte Zigaretten aus schwerem algerischem Tabak und musterte Kern von Zeit zu Zeit.
»Was haben Sie in Ihrem Koffer?« fragte er nach einer Weile.
»Ein paar Sachen, die mir gehoren.«
»Machen Sie ihn mal auf.«
Kern offnete den Deckel. Der Zollner stand auf und kam faul heran. Dann beugte er sich interessiert uber den Koffer. »Toilettewasser, Seife, Parfum! Sieh an – haben Sie das alles aus der Schweiz mitgebracht?«
»Sie wollen doch nicht sagen, da? Sie das alles selbst gebrauchen – fur ihren personlichen Bedarf?«
»Nein. Ich habe damit gehandelt.«
»Dann mussen Sie es verzollen!« erklarte der Beamte. »Packen Sie es aus! Diesen Kram da«, er zeigte auf die Nadeln, Schnursenkel und die andern kleinen Sachen,»will ich Ihnen erlassen.«
Kern glaubte, er traume. »Verzollen?« frage er. »Ich soll etwas verzollen?«
»Selbstverstandlich! Sie sind doch kein diplomatischer Kurier, was? Oder dachten Sie, ich wollte die Flaschen kaufen? Sie haben Zollgut nach Frankreich gebracht. Los, ’raus damit jetzt!«
Der Beamte griff nach einem Zolltarif und ruckte eine Waage heran.
»Ich habe kein Geld«, sagte Kern.
»Kein Geld?« Der Beamte steckte die Hande in die Hosentaschen und wiegte sich in den Knien. »Gut, dann werden die Sachen eben beschlagnahmt. Geben Sie sie her.«
Kern blieb auf dem Boden hocken und hielt seinen Koffer fest. »Ich habe mich hier gemeldet, um zuruck in die Schweiz zu gehen. Ich brauche nichts zu verzollen.«
»Sieh mal an! Sie wollen mich wohl noch belehren, was?«
»La? den Jungen doch in Ruhe, Francois!« sagte der Zollner, der am Tisch sa? und schrieb.
»Ich denke gar reicht daran! Ein Boche, der alles besser wei?, wie die ganze Bande druben! Los, ’raus mit den Falschen!«
»Ich bin kein Boche!« sagte Kern.
In diesem Augenblick trat ein dritter Beamter ein. Kern sah, da? er einen hoheren Rang hatte als die beiden andern. »Was gibt’s hier?« fragte er kurz.
Der Zollner erklarte, was los war. Der Inspektor betrachtete Kern. »Haben Sie sich sofort bei der Polizei gemeldet?« fragte er.
»Ja.«
»Und Sie wollen zuruck in die Schweiz?«
»Ja. Deshalb bin ich ja hier.«
Der Inspektor dachte einen Augenblick nach. »Dann kann er nichts dafur«, entschied er. »Er ist kein Schmuggler. Er ist selbst geschmuggelt worden. Schickt ihn zuruck und damit basta.«
Er verlie? den Raum. »Siehst du, Francois«, sagte der Zollner, der am Tisch sa?. »Wozu regst du dich immer so auf? Es schadet nur deiner Galle.«
Francois erwiderte nichts. Er starrte Kern angstlich an. Kern starrte zuruck. Es ?el ihm plotzlich ein, da? er franzosisch gesprochen hatte und Franzosen verstanden hatte, und er segnete im geheimen den russischen Professor aus dem Gefangnis in Wien.
AM NACHSTEN MORGEN war er wieder in Basel. Er anderte jetzt seine Taktik. Er ging nicht sofort morgens wieder zur Polizei. Es konnte ihm nicht viel passieren, wenn er tagsuber in Basel blieb und sich erst abends meldete. Fur Basel aber hatte er die Adressenliste Binders. Es war zwar der von Emigranten uberlaufenste Platz der Schweiz, aber er beschlo? trotzdem, zu versuchen, etwas zu verdienen.
Er ?ng mit den Pastoren an. Es war ziemlich sicher, da? sie ihn nicht denunzierten. Beim ersten wurde er sofort hinausgeworfen; beim zweiten erhielt er ein Butterbrot; beim dritten funf Franken. Er arbeitete weiter und hatte Gluck – bis mittags hatte er siebzehn Franken verdient. Er versuchte vor allem sein letztes Parfum und sein Toilettewasser loszuwerden, fur den Fall, da? er Francois noch einmal begegnen wurde. Das war schwer bei den Pastoren – aber es gelang bei den andern Adressen. Nachmittags hatte er achtundzwanzig Franken verdient. Er ging in die katholische Kirche. Sie war offen, und sie war der sicherste Platz, sich auszuruhen. Er hatte zwei Nachte nicht geschlafen.