»Am Bahnhof naturlich! Ich bin doch ein alter, gelernter Vagabund.«

»Ja! Ich bin stolz auf dich! Ruth, jetzt kommt deine erste illegale Grenze. Das ist ungefahr wie das Abitur. Hast du Angst?«

»Uberhaupt nicht.«

»Das brauchst du auch nicht. Diese Grenze kenne ich wie meine Brieftasche. Ich wei? alles. Ich habe sogar schon Fahrkarten. In Frankreich gekauft, vorgestern. Alles ist vorbereitet. Ich kenne den Bahnhof ganz genau. Wir bleiben in einer kleinen Kneipe, die sicher ist, und gehen erst im letzten Moment direkt zum Zug.«

»Du hast schon Fahrkarten? Wo hast du denn das Geld dazu her? Du hast mir doch so viel geschickt?«

»Ich habe in meiner Verzwei?ung die Schweizer Geistlichkeit ausgeplundert. Ich bin wie ein Gangster durch Basel und Genf gebraust. Fur ein halbes Jahr darf ich mich jetzt hier nicht mehr sehen lassen.«

Ruth lachte. »Ich bringe auch etwas Geld mit. Doktor Beer hat es von einer Fluchtlingshilfe fur mich geholt.«

Sie standen dicht nebeneinander und ruckten langsam in der Kette der Wartenden vor. Kern hielt Ruths herabhangende Hand fest in der seinen. Sie sprachen leise, mit unterdruckten Stimmen, und bemuhten sich, moglichst gleichmutig und unbeteiligt auszusehen.

»Wir scheinen ein unheimliches Gluck zu haben«, sagte Kern. »Du kommst nicht nur wieder – mit einer Aufenthaltsgenehmigung – du bringst sogar noch Geld mit! Weshalb hast du mir denn nicht geschrieben. Konntest du es nicht?«

»Ich hatte Angst! Ich dachte, man konnte dich fassen, wenn du die Briefe abholtest. Beer hat mir die Sache mit Ammers erzahlt. Er glaubte auch, es ware besser, nicht zu schreiben. Ich habe dir viele Briefe geschrieben, Ludwig. Ich habe immerfort an dich geschrieben – ohne Bleistift und Papier. Du wei?t das, nicht wahr?« Sie sah ihn an.

Kern druckte ihre Hand. »Ich wei? es. Hast du schon ein Zimmer?«

»Nein. Ich bin gleich von der Bahn hierhergegangen.«

»Ja, nur…« Kern zogerte einen Moment. »Wei?t du, ich bin in den letzten Tagen so eine Art Nachtwandler geworden. Ich wollte nichts riskieren. Da habe ich mehr die staatlichen Pensionen benutzt.« Er bemerkte Ruths Blick. »Nein, nein«, sagte er,»nicht das Gefangnis. Die Zollwachen. Man schlaft dort sehr gut. Warm vor allem. Alle Zollwachen sind prima geheizt, wenn es kalt wird. Das ist aber nichts fur dich. Du hast eine Aufenthaltserlaubnis – fur dich konnten wir gro?artig ein Zimmer im Grand Hotel Bellevue nehmen. Da wohnen die Vertreter des Volkerbundes. Minister und ahnlich unnutzes Volk.«

»Das werden wir nicht tun. Ich bleibe bei dir. Wenn du glaubst, da? es gefahrlich ist, la? uns heute nacht noch weggehen.«

»Was?« fragte der Postbeamte hinter dem Schalter ungeduldig.

Sie waren bis zum Fenster vorgeruckt, ohne darauf zu achten.

»Eine Briefmarke fur zehn Centimes«, sagte Kern, rasch gefa?t.

Der Beamte schob die Marke hinuber. Kern zahlte, und sie gingen dem Ausgang zu. »Was willst du denn mit der Marke machen?« fragte Ruth.

»Ich wei? nicht. Ich habe sie nur so gekauft. Ich reagiere automatisch, wenn ich eine Uniform sehe.« Kern betrachtete die Marke. Die Teufelsfalle am Gotthard waren darauf abgebildet. »Ich konnte einen anonymen Schmahbrief an Ammers schreiben«, erklarte er.

»Ammers…«, sagte Ruth. »Wei?t du, da? er bei Beer in Behandlung ist?«

»Was? Ist das wahr?« Kern starrte sie an. »Jetzt sag noch wegen Leberbeschwerden, und ich stehe vor Jubel kopf.«

Ruth lachte. Sie lachte so, da? sie sich bog wie eine Weide im Wind. »Ja – es ist wahr! Deshalb ist er ja bei Beer! Beer ist der einzige Spezialist in Murten. Denk dir, das macht dem Ammers noch Gewissensbeschwerden dazu – da? er zu einem judischen Arzt gehen mu?!«

»Gro?er Gott! Das ist ein stolzer Moment in meinem Leben! Steiner hat mir einmal gesagt, Liebe und Rache gleichzeitig ware das Seltenste in der Welt. Hier stehe ich, auf den Stufen der Hauptpost in Genf, und habe es! Vielleicht sitzt auch Binding jetzt gerade im Gefangnis oder hat sich ein Bein gebrochen!«

»Oder man hat ihm sein Geld gestohlen.«

»Noch besser! Du hast gute Ideen, Ruth!«

Sie gingen die Stufen hinunter. »Dicker Verkehr ist am besten«, sagte Kern. »Da kann einem kaum was passieren.«

»Gehen wir heute nacht uber die Grenze?« fragte Ruth.

»Nein. Du mu?t dich erst ausruhen und schlafen. Es ist ein langer Weg.«

»Und du! Mu?t du nicht schlafen? Wir konnen doch eine Pension nehmen, die in Binders Liste steht. Ist es wirklich so gefahrlich?«

»Ich wei? es nicht mehr«, sagte Kern. »Ich glaube nicht. So dicht an der Grenze kann nicht viel passieren. Ich bin schon zu oft hin und her gegangen. Sie konnen uns hochstens zum Zoll bringen, das ist alles. Und wenn es auch etwas gefahrlich ware – ich wurde heute nicht allein noch einmal losgehen, glaube ich. Mittags um zwolf Uhr funfzehn mitten im Verkehr ist man noch stark in seinen Vorsatzen – aber abends, wenn es dunkel wird, ist alles anders. Es wird ohnehin jede Minute unwahrscheinlicher. Du bist wieder da – wie kann man da freiwillig weggehen!«

»Ich ware auch nicht allein hiergeblieben«, sagte Ruth.

16

Es gelang Kern und Ruth, unbemerkt die Grenze zu uberschreiten und in Bellegarde die Bahn zu erreichen. Sie kamen abends in Paris an und standen vor dem Bahnhof, ohne zu wissen wohin.

»Mut, Ruth!« sagte Kern. »Wir werden in irgendein kleines Hotel gehen. Heute ist es zu spat, etwas anderes zu versuchen. Morgen sehen wir dann weiter.«

Ruth nickte. Sie war mude von der Nacht und der Fahrt. Gehen wir in irgendein Hotel.«

Sie fanden in einer Seitenstra?e ein rot au?euchtendes Glasschild; Hotel Habana. Kern ging hinein und fragte, was ein Zimmer koste. -»Fur die ganze Nacht?« fragte der Portier.

»Ja, naturlich«, erwiderte Kern verwundert.

»Funfundzwanzig Francs.«

»Fur zwei Personen?« fragte Kern.

»Ja, naturlich«, erwiderte der Portier, jetzt seinerseits verwundert.

Kern ging hinaus, um Ruth zu holen. Der Portier warf einen raschen Blick auf beide und schob Kern dann ein Anmeldeformular hin. Als er sah, da? Kern unentschlossen zogerte, lachelte er und sagte:»Es kommt nicht so genau darauf an.«

Kern schrieb sich erleichtert als Ludwig Oppenheim ein. »Das genugt«, sagte der Portier. »Funfundzwanzig Francs.«

Kern zahlte, und ein Junge fuhrte sie hinauf. Das Zimmer war klein, sauber und sogar von einer gewissen Eleganz. Es enthielt ein gro?es, bequemes Bett, zwei Waschtische, einen Sessel, aber keinen Schrank. »Wir kommen auch ohne Schrank aus«, sagte Kern und ging zum Fenster, um hinauszuschauen. Dann wendete er sich um. »Nun sind wir in Paris, Ruth.«

»Ja«, erwiderte sie und lachelte ihn an. »Und wie schnell das alles ging.«

»Mit den Anmeldezetteln brauchen wir hier nicht viel Sorge zu haben. Hast du gehort, wie ich Franzosisch gesprochen habe? Ich habe alles verstanden, was der Portier gesagt hat.«

»Du warst wunderbar!« erwiderte Ruth. »Ich hatte den Mund nicht aufbekommen.«

»Dabei sprichst du viel besser Franzosisch als ich. Ich bin nur frecher als du, das ist alles! Komm, jetzt gehen wir essen. Eine Stadt erscheint einem so lange feindlich, bis man in ihr gegessen und getrunken hat.«

Sie gingen in ein kleines, hell erleuchtetes Bistro in der Nahe.

Es glanzte von Spiegeln und roch nach Sagespanen und Anis. Sie bekamen fur sechs Francs eine volle Mahlzeit und eine Karaffe roten Wein dazu. Er war billig und gut. Sie hatten den ganzen Tag kaum etwas gegessen, und der Wein stieg ihnen zu Kopf und machte sie so mude, da? sie bald zum Hotel zuruckgingen.

Вы читаете Liebe Deinen Nachsten
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату