»In den letzten Wochen ist es besonders schlimm hier in der Prafektur«, sagte Klassmann. »Immer, wenn in Deutschland etwas geschieht, was die umliegenden Lander nervos macht, mussen die Emigranten es als erste ausbaden. Sie sind die Sundenbocke fur die einen und fur die andern.«

Kern sah am Schalter einen Mann mit einem schmalen, geistvollen Gesicht. Seine Papiere schienen in Ordnung zu sein; das junge Madchen hinter dem Schalter nahm sie nach einigen Fragen, nickte und begann zu schreiben. Aber Kern sah, wie der Mann, wahrend er nur dastand und wartete, zu schwitzen begann. Der gro?e Raum war kalt, und der Mann trug nur einen dunnen Sommeranzug; aber der Schwei? drang ihm aus allen Poren, sein Gesicht wurde glanzend na?, und helle Tropfen ?ossen ihm uber Stirn und Wangen. Er stand unbeweglich, die Arme auf das Schalterbrett gestutzt, in einer verbindlichen, nicht einmal unterwur?gen Haltung da, bereit, Antwort zu geben – und sein Wunsch ging in Erfullung -, und trotzdem war er nichts als Todesschwei?, als wurde er auf dem unsichtbaren Rost der Herzlosigkeit gebraten. Hatte er geschrien, lamentiert oder gebettelt, es ware Kern nicht so schrecklich erschienen. Aber da? er ho?ich, in guter Haltung, gefa?t dastand und da? nur seine Poren seinen Willen uber?uteten, das war, als ob der Mann in sich selbst ertrank. Es war die Not der Kreatur selbst, die alle Damme des Menschseins zu durchsickern schien.

Die Beamtin gab dem Mann seine Papiere mit einem freundlichen Wort zuruck. Er dankte in einem weichen ausgezeichneten Franzosisch und ging rasch davon. Erst an der Ausgangstur des Saales offnete er sein Papier, um nachzusehen, was darin stand. Es war nur ein blaulicher Stempel mit ein paar Daten, aber dem Mann schien es auf einmal, als sei es Mai und die Nachtigallen der Freiheit sangen betaubend in dem nuchternen Saal.

»Wollen wir gehen?« fragte Kern.

»Haben Sie genug gesehen?«-»Ja.«

Sie gingen dem Ausgang zu. Aber sie wurden aufgehalten durch eine Schar armseliger Juden, die wie ein Schwarm zerzauster, hungriger Dohlen sie umkreiste.

»Bittah – helfen…« Der Alteste trat vor mit weiten, fallenden, demutigen Bewegungen. »Wir nicht sprechen franzosisch – hel – fen – bitte Mensch – Mensch…«

»Mensch – Mensch…«, ?elen die andern im Chor ein und ?atterten mit ihren weiten Armeln. »Mensch – Mensch…«

Es schien fast das einzige Wort Deutsch zu sein, das sie kannten, denn sie wiederholten es ununterbrochen und wiesen dabei mit den gelblichen, abgezehrten Handen auf sich, auf ihre Stirnen, ihre Augen, ihre Herzen, immer wieder in einem weichen, eindringlichen, fast schmeichlerischen Singsang:»Mensch – Mensch…«, und nur der Alteste fugte hinzu:»…auch – Mensch…« Er konnte ein paar Worte mehr.

»Sprechen Sie jiddisch?« fragte Klassmann.

»Nein«, erwiderte Kern. »Nicht ein Wort.«

»Es sind Juden, die nur jiddisch sprechen. Sie sitzen hier Tag fur Tag und konnen sich nicht verstandigen. Sie suchen jemand, der ihnen dolmetschen hilft.«

»Jiddisch, jiddisch!« nickte der Alteste eifrig.

»Mensch – Mensch…«, summte der ?atternde Chor mit aufgeregten, ausdrucksvollen Gesichtern.

»Helfen – helfen…« Der Alteste zeigte zu den Schaltern:»Nicht – kann – sprechen… nur: Mensch – Mensch…«

Klassmann machte eine bedauernde Bewegung. »Nicht jiddisch.«

Die Dohlen umringten Kern. »Jiddisch? Jiddisch? Mensch…«

Kern schuttelte den Kopf. Das Flattern horte auf. Die Bewegung erstarb. Der Alteste fragte noch einmal, mit vorgeneigtem Kopf, erstarrt:»Nicht…?«

Kern schuttelte wieder den Kopf. »Ah!« Der alte Jude hob die Hande bis zur Brust, die Fingerspitzen beruhrten sich, und die Hande bildeten ein kleines Dach uber dem Herzen. So stand er ein wenig vorgebeugt, als lausche er auf einen Ruf aus der Ferne. Dann verneigte er sich und lie? die Hande langsam sinken.

Kern und Klassmann verlie?en den Raum. Als sie den vorderen Korridor erreichten, horten sie von den Steintreppen herab, die hier einmundeten, eine brausende Musik. Es war ein federnder Marsch mit Trompetengejubel und machtigen Fanfarensto?en.

»Was ist denn das?« fragte Kern.

»Radio. Oben sind die Unterkunftsraume fur die Polizei. Mittagskonzert.«

Die Musik sturmte die Treppen herab wie ein glitzernder Bach; sie staute sich im Korridor und spruhte dann wie ein Wasserfall durch die breiten Ausgangsturen. Sie spruhte und uberspruhte eine einsame, kleine Gestalt, die dunkel und ohne Farbe auf der untersten Treppenstufe hockte, wie ein regloser Klumpen Schwarz, eine kleine Erhohung mit rastlosen, verstorten Augen. Es war der alte Mann, der sich so schwer von dem erbarmungslosen Schalter gelost hatte. Verloren und fertig hockte er in der Ecke, die Schultern eingezogen, die Knie am Korper, als konne er nie wieder aufstehen – und uber ihn hinweg spruhte und tanzte die Musik in bunten, leuchtenden Kaskaden, kraftvoll, ohne Mitleid und Anhalten, wie das Leben selbst.

»KOMMEN SIE«, SAGTE Klassmann drau?en. »Wir trinken noch einen Kaffee.«

Sie setzten sich an einen Rohrtisch vor ein kleines Bistro. Kern war erleichtert, als er den bitteren, schwarzen Kaffee getrunken hatte.

»Was ist die letzte Station?« fragte er.

»Die letzte Station sind die vielen, die allein irgendwo sitzen und verhungern«, erwiderte Klassmann. »Die Gefangnisse. Die Untergrundbahnhofe nachts. Die Neubauten. Die Bruckenbogen der Seine.«

Kern blickte auf den Menschenstrom, der vor den Tischen des Bistro sich unablassig entlangschob. Ein Madchen mit einem gro?en Hutkarton am Arm lachelte ihn im Vorubergehen an. Sie drehte sich noch einmal um und warf ihm uber die Schulter einen schnellen Blick zu.

»Wie alt sind Sie?« fragte Klassmann.

»Einundzwanzig. Bald zweiundzwanzig.«

»Das habe ich mir gedacht.« Klassmann ruhrte in seiner Tasse. »Mein Sohn ist ebenso alt wie Sie.«

»Ist er auch hier?«

»Nein«, sagte Klassmann,»er ist in Deutschland.«

Kern sah auf. »Das ist schlimm, das kann ich verstehen.«

»Nicht fur ihn.«

»Um so besser.«

»Fur ihn ware es schlimmer, wenn er hier ware«, sagte Klassmann.

»So?« Kern blickte ihn etwas verwundert an.

»Ja. Ich wurde ihn dann zum Kruppel schlagen.«

»Was?«

»Er hat mich denunziert. Ich mu?te seinetwegen ’raus.«

»Oh, ver?ucht!« sagte Kern.

»Ich bin Katholik, glaubiger Katholik. Der Junge dagegen war schon ein paar Jahre in einer dieser Jugendorganisationen druben von der Partei. Alter Kampfer nennt man das da. Sie konnen sich denken, da? mir das nicht gepa?t hat und da? es manches Wort hin und her gab. Der Junge wurde immer aufsassiger. Eines Tages sagte er mir, so etwa wie ein Unteroffizier einem Rekruten, ich solle meinen Mund halten, sonst wurde mir was passieren. Drohte, verstehen Sie. Ich haute ihm eine Ohrfeige herunter. Er rannte wutend weg und denunzierte mich bei der Staatspolizei. Gab Wort fur Wort zu Protokoll, was ich uber die Partei geschimpft hatte. Zum Gluck hatte ich einen Bekannten dort, der mich sofort telefonisch warnte. Ich mu?te schleunigst weg. Eine Stunde spater kam schon ein Kommando, mich zu holen – an der Spitze mein Sohn.«

»Kein Spa?«, sagte Kern.

Klassmann nickte. »Wird aber auch kein Spa? fur ihn sein, wenn ich mal wiederkomme.«

»Vielleicht hat er dann selber einen Sohn, der ihn denunziert hat. Vielleicht dann bei den Kommunisten.«

Klassmann sah Kern betroffen an. »Meinen Sie, da? es so lange dauert?«

»Ich wei? nicht. Ich kann mir nicht denken, da? ich jemals zuruckkomme.«

STEINER BEFESTIGTE EIN nationalsozialistisches Parteiabzeichen unter dem linken Umschlag seines Jacketts. »Gro?artig, Beer!« sagte er. »Wo haben Sie das nur her?«

Doktor Beer grinste. »Von einem Patienten. Autounfall kurz vor Murten. Ich schiente ihm seinen Arm. Erst war er vorsichtig und fand alles wunderbar druben; dann tranken wir ein paar Kognaks zusammen, und er ?ng an zu

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