Ein Mann von etwa vierzig Jahren stand vor ihrer Tur. Ruth kannte ihn vom Sehen. Er wohnte im Hotel und hie? Brose. Seine Frau lag seit sieben Monaten krank zu Bett. Beide lebten von einer kleinen Unterstutzung der Fluchtlingshilfe und von etwas Geld, das sie mitgebracht hatten. Das war kein Geheimnis. Im Hotel Verdun wu?te jeder uber jeden nahezu alles.

»Wollen Sie zu mir?« fragte Ruth.

»Ja. Ich wollte Sie um etwas bitten. Sie sind Fraulein Holland, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ich hei?e Brose und wohne im Stock unter Ihnen«, sagte der Mann verlegen. »Ich habe eine kranke Frau unten und mu? fort, Arbeit suchen. Da wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht etwas Zeit hatten…«

Brose hatte ein schmales, gequaltes Gesicht. Ruth wu?te, da? fast jeder im Hotel vor ihm davonlief, wenn er nur in Sicht kam. Er suchte dauernd nach Gesellschaft fur seine Frau.

»Sie ist sehr viel allein – und Sie wissen ja, wie das ist -, da verliert sie leicht die Hoffnung. Es gibt Tage, da ist sie besonders traurig. Aber wenn sie etwas Gesellschaft hat, ist es gleich besser. Ich dachte, da? Sie sich vielleicht auch gern einmal unterhalten. Meine Frau ist klug…«

Ruth war gerade dabei, Pullover aus leichter Kaschmirwolle stricken zu lernen; man hatte ihr gesagt, ein russisches Geschaft in den Champs-Elysees kaufe so etwas, um es fur den dreifachen Preis weiterzuverkaufen. Sie wollte weiterarbeiten und ware wohl nicht gegangen – aber dieses hil?ose Anpreisen:»Meine Frau ist klug« entschied. Es beschamte sie auf eine sonderbare Weise. »Warten Sie einen Augenblick«, sagte sie. »Ich hole ein paar Sachen; dann gehe ich mit Ihnen.«

Sie holte ihre Wolle und ihr Muster und ging mit Brose hinunter. Die Frau lag im ersten Stock in einem kleinen Zimmer nach der Stra?e hin. Broses Gesicht veranderte sich, als er mit Ruth eintrat. Er strahlte angestrengt. »Lucie, hier ist Fraulein Holland«, sagte er eifrig. »Sie mochte dir gern etwas Gesellschaft leisten.«

Zwei dunkle Augen in einem wachsbleichen Gesicht richteten sich mi?trauisch auf Ruth. »Ich gehe dann jetzt«, sagte Brose rasch. »Ich komme abends wieder. Heute wird es bestimmt etwas. Auf Wiedersehen.«

Er lachelte, winkte und zog die Tur hinter sich zu.

»Er hat Sie geholt, nicht wahr?« fragte die blasse Frau nach einer Weile.

Ruth wollte zuerst etwas anderes antworten, aber dann nickte sie.

»Ich habe es mir gedacht. Danke, da? Sie gekommen sind. Aber ich kann gut allein bleiben. Lassen Sie sich nicht in Ihrer Arbeit storen. Ich kann etwas schlafen.«

»Ich habe nichts vor«, sagte Ruth. »Ich lerne nur gerade strikken. Das kann ich hier auch. Ich habe mein Strickzeug mitgebracht.«

»Es gibt angenehmere Dinge, als bei einer Kranken zu sitzen«, sagte die Frau mude.

»Sicher. Aber es ist doch besser, als allein zu sitzen.«

»Das sagen alle immer, um einen zu trosten«, murmelte die Frau. »Ich wei?, Kranke will man immer trosten. Sagen Sie doch ruhig frei heraus, da? es Ihnen unangenehm ist, bei einer unbekannten, schlechtgelaunten Kranken zu sitzen, und da? Sie es nur tun, weil mein Mann Sie uberredet hat.«

»Das ist richtig«, erwiderte Ruth. »Ich habe auch gar nicht die Absicht, Sie zu trosten. Aber ich bin froh, einmal mit jemand reden zu konnen.«

»Sie konnen doch ausgehen!« sagte die Kranke.

»Das tue ich nicht gern.«

Ruth sah auf, weil keine Antwort kam. Sie blickte in ein fassungsloses Gesicht. Die Kranke hatte sich aufgestutzt und starrte sie an, und plotzlich sturzten ihr die Tranen wie Sturzbache aus den Augen. Das Gesicht war in einer Sekunde wie uberschwemmt. »Mein Gott«, schluchzte sie,»das sagen Sie so einfach – und ich -, wenn ich nur einmal auf die Stra?e gehen konnte…«

Sie ?el in die Kissen zuruck. Ruth war aufgestanden. Sie sah die grau-wei?en Schultern zucken, sie sah das armselige Bett im staubigen Nachmittagslicht, und sie sah dahinter die sonnige, klare Stra?e, die Hauser mit den kleinen Eisenbalkonen, und gro? uber den Dachern eine riesige leuchtende Flasche – die Reklame fur den Aperitif Dubonnet, die sinnlos bereits im Nachmittag gluhte – und es erschien ihr einen Augenblick lang, als ware das alles weit weg, auf einem anderen Planeten.

Die Frau horte auf zu weinen. Sie richtete sich langsam auf. »Sie sind noch da?« fragte sie.

»Ja.«

»Ich bin hysterisch und nervos. Ich habe manchmal so Tage. Bitte seien Sie mir nicht bose.«

»Nein. Ich war gedankenlos, das war alles.«

Ruth setzte sich wieder neben das Bett. Sie legte das Muster des Pullovers, das sie mitgebracht hatte, vor sich hin und begann, es weiter zu kopieren. Sie sah die Kranke nicht an. Sie wollte das fassungslose Gesicht nicht noch einmal sehen. Ihre eigene Gesundheit erschien ihr prahlerisch dagegen.

»Sie halten die Nadeln nicht richtig«, sagte die Kranke nach einer Weile. »Sie kommen so viel langsamer vorwarts. Sie mussen das anders machen.«

Sie nahm die Nadeln und zeigte es Ruth. Dann nahm sie ihr das gestrickte Stuck aus der Hand und betrachtete es. »Hier fehlt eine Masche«, erklarte sie. »Wir mussen das wieder aufmachen. Sehen Sie, so.«

Ruth blickte auf. Die Kranke lachelte sie an. Ihr Gesicht war jetzt aufmerksam und gesammelt und ganz mit der Arbeit beschaftigt. Es zeigte nichts mehr von dem Ausbruch kurz vorher. Die blassen Hande arbeiteten leicht und schnell.

»So«, sagte sie eifrig,»nun versuchen Sie es einmal.«

Brose kam abends zuruck. Das Zimmer war dunkel. Im Fenster stand nur der apfelgrune Abendhimmel und die rotleuchtende, riesige Flasche Dubonnet. »Lucie?« fragte er in das Dunkel hinein.

Die Frau im Bett ruhrte sich, und Brose sah jetzt ihr Gesicht. Es war sanft gerotet durch den Widerschein der Lichtreklame – als ware ein Wunder geschehen und sie plotzlich gesund geworden.

»Hast du geschlafen?« fragte er.

»Nein. Ich liege nur so.«

»Ist Fraulein Holland schon lange fort?«

»Nein. Erst ein paar Minuten.«

»Lucie.« Er setzte sich vorsichtig auf den Rand des Bettes.

»Mein Lieber.« Sie strich uber seine Hand. »Hast du etwas erreicht?«

»Noch nicht, aber es wird schon kommen.«

Die Frau lag eine Zeitlang und schwieg. »Ich bin eine solche Last fur dich, Otto«, sagte sie dann.

»Wie kannst du das sagen, Lucie! Was sollte ich machen, wenn ich dich nicht hatte?«

»Du warest frei. Da konntest du tun, was du wolltest. Du konntest auch nach Deutschland zuruckgehen und arbeiten.«

»So?«

»Ja«, sagte sie,»la? dich von mir scheiden! Man wird es dir druben sogar hoch anrechnen, da? du es getan hast.«

»Der Arier, der sich auf sein Blut besonnen hat und sich von der Judin hat scheiden lassen, wie?« fragte Brose.

»So ahnlich nennen sie es wohl. Sie haben doch sonst nichts gegen dich, Otto.«

»Nein, aber ich habe was gegen sie.«

Brose lehnte den Kopf gegen den Bettpfosten. Er dachte daran, wie sein Chef zu ihm in das Zeichenburo gekommen war und lange herumgeredet hatte von den Zeiten, von seiner Tuchtigkeit, und wie schade es sei, da? man ihm kundigen musse, nur weil er eine judische Frau habe. Er hatte seinen Hut genommen und war gegangen. Acht Tage spater hatte er seinem Hausportier, der gleichzeitig Blockwart und Parteispitzel war, die Nase blutiggeschlagen, weil er seine Frau als Judensau bezeichnet hatte. Das ware beinahe schlecht ausgegangen. Zum Gluck hatte sein Anwalt dem Portier staatsfeindliche Reden beim Bier nachweisen konnen; darauf verschwand der Portier aus dem Hause. Aber die Frau traute sich nicht mehr auf die Stra?e; sie wollte nicht mehr von uniformierten Gymnasiasten angerempelt werden. Brose fand keine Stellung wieder. Da waren sie abgereist nach Paris. Die Frau war unterwegs krank geworden.

Der apfelgrune Himmel vor dem Fenster verlor seine Farbe.

Er wurde staubig und dunkler. »Hast du Schmerzen gehabt, Lucie?« fragte Brose.

»Nicht sehr. Ich bin nur furchtbar mude. So von innen.«

Brose strich ihr uber das Haar. Es leuchtete in kupfernen Re?exen unter dem Licht der Dubonnet-Reklame.

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