»Sie hat einen Pa?«, sagte Kern. »Aber er ist abgelaufen, und sie mu?te illegal uber die Grenze.«
»Das macht nichts. Ein Pa? ist ein Pa?. Gold wert! Klassmann wird euch das erklaren.«
Yvonne stellte Kartoffeln und eine Platte auf den Tisch, auf der drei Stucke Kalb?eisch lagen. Kern lachelte sie an. Sie grinste breit zuruck.
»Seht ihr!« sagte Marill. »Das ist Yvonne! Die regulare Portion ist ein Stuck Fleisch. Sie bringt eins mehr.«
»Danke vielmals, Yvonne«, sagte Ruth.
Yvonne verstarkte ihr Grinsen und schaukelte hinaus.
»Lieber Himmel!« sagte Kern. »Eine Aufenthaltserlaubnis fur Ruth! Sie scheint Gluck damit zu haben! In der Schweiz hatte sie auch schon eine. Wenn auch nur fur drei Tage.«
»Haben Sie die Chemie aufgegeben, Ruth?« fragte Marill.
»Ja. Ja und nein. Vorlau?g ja.«
Marill nickte. »Richtig.« Er zeigte auf einen jungen Mann, der am Fenster sa? und ein Buch vor sich hatte. »Der Junge dort druben ist seit zwei Jahren Tellerwascher in einem Nachtklub. Er war deutscher Student. Vor zwei Wochen hat er seinen franzosischen Doktor gemacht. Inzwischen hat er erfahren, da? er hier nicht angestellt werden kann, da? aber Chancen in Kapstadt sind. Jetzt lernt er Englisch, um seinen englischen Doktor zu machen und nach Sudafrika zu gehen. So etwas gibt es hier auch. Ist Ihnen das ein Trost?«
»Ja.«
»Ihnen auch, Kern?«
»Mir ist alles ein Trost. Wie ist die Polizei hier?«
»Ziemlich lax. Man mu? aufpassen, aber sie ist nicht so scharf wie in der Schweiz.«
»Das ist mir ein Trost!« sagte Kern.
Kern ging am nachsten Vormittag mit Klassmann zur Fluchtlingshilfe, um sich einschreiben zu lassen. Von da gingen sie zur Prafektur. »Es hat nicht den geringsten Zweck, sich zu melden«, sagte Klassmann. »Sie wurden nur ausgewiesen werden. Aber es ist ganz gut, da? Sie einmal sehen, was los ist. Es ist nicht gefahrlich. Die Polizeigebaude sind neben Kirchen und Museen die ungefahrlichsten Platze fur Emigranten.«
»Das stimmt!« erwiderte Kern. »An Museen habe ich allerdings bisher noch nicht gedacht.«
Die Prafektur war ein machtiger Gebaudekomplex, der um einen gro?en Hof gelagert war. Klassmann fuhrte Kern durch ein paar Torbogen und Turen in einen gro?en Saal, der ungefahr aussah wie eine Bahnhofshalle. An den Wanden entlang lief eine Reihe von Schaltern, hinter denen die Angestellten sa?en. In der Mitte des Raumes stand eine Anzahl Banke ohne Lehnen. Einige hundert Menschen sa?en herum oder standen in langen Schlangen vor den Schaltern.
»Dies ist der Saal der Auserwahlten«, sagte Klassmann. »Es ist beinah das Paradies. Hier sehen Sie Leute, die eine Aufenthaltserlaubnis haben, die sie verlangern lassen mussen.«
Kern spurte die lastende Sorge und den Ernst des Raumes.
»Das ist das Paradies?« fragte er.
»Ja. Sehen Sie!«
Klassmann zeigte auf eine Frau, die den Schalter neben ihnen verlie?. Sie starrte mit einem Ausdruck irrsinnigen Entzuckens auf einen Ausweis, den die Beamtin ihr gestempelt zuruckgegeben hatte. Dann lief sie auf eine Gruppe wartender Menschen zu. »Vier Wochen!« rief sie unterdruckt. »Um vier Wochen verlangert!«
Klassmann wechselte einen Blick mit Kern. »Vier Wochen – das ist heute schon fast ein ganzes Leben, was?«
Kern nickte.
Ein alter Mann stand jetzt vor dem Schalter. »Aber was soll ich denn machen?« fragte er verstort.
Der Beamte erwiderte etwas in rapidem Franzosisch, das Kern nicht verstand. Der alte Mann horte ihm zu. »Ja, aber was soll ich denn machen?« fragte er dann zum zweitenmal.
Der Beamte wiederholte seine Erklarung. »Der nachste«, sagte er dann und griff nach den Papieren, die ihm der folgende in der Reihe uber den Kopf des alten Mannes hinweg reichte.
Der alte Mann wandte den Kopf. »Ich bin doch noch nicht fertig!« sagte er. »Ich wei? doch nicht, was ich machen soll. Wohin soll ich denn gehen?« fragte er den Beamten.
Der Beamte sagte etwas und beschaftigte sich mit den Papieren des nachsten. Der alte Mann hielt sich am Brett des Schalters fest wie an einer Planke im Meer. »Was soll ich denn tun, wenn Sie mir mein Recepisse nicht verlangern?« fragte er.
Der Beamte kummerte sich nicht um ihn. Der Mann drehte sich zu den Leuten um, die hinter ihm standen. »Was soll ich denn nur tun?«
Er sah in eine Mauer steinerner, versorgter, gehetzter Gesichter. Niemand antwortete; aber niemand drangte ihn auch fort. Uber seinen Kopf weg reichte man die Papiere in das Fenster des Schalters, behutsam bemuht, ihn nicht anzusto?en.
Er wandte sich wieder dem Beamten zu. »Irgend jemand mu? mir doch sagen, was ich tun soll!« sagte er leise immer wieder. Er ?usterte nur noch, mit erschrockenen Augen, schon geduckt unter den Armen, die wie Wogen uber seinen Kopf hinweg sich zum Schalter bewegten. Seine Hande mit den dick hervorstehenden, krausen Adern klammerten sich noch an das Schalterbrett. Dann schwieg er. Und plotzlich, als erlahme seine Kraft, lie? er die Arme fallen und verlie? den Schalter. Die gro?en, nutzlosen Hande pendelten an seinem Korper herunter wie an Tauen, zusammenhanglos, als waren sie nur zufallig aufgehangt an den Schultern, und der vorgeneigte Kopf schien nichts mehr zu sehen. Aber wahrend er noch vollig verloren dastand, sah Kern das nachste Gesicht vor dem Schalter in Entsetzen erstarren. Dann folgten hastige Gebarden und wieder dieses furchtbare, trostlose Starren, dieses blinde Insichhineinschauen, ob es nicht irgendwo noch irgendeine Rettung gabe.
»Das ist das Paradies?« sagte Kern.
»Ja«, erwiderte Klassmann. »Dies hier ist schon das Paradies. Viele werden abgelehnt; aber viele bekommen auch ihre Verlangerung.«
Sie gingen durch einige Korridore und kamen in einen Raum, der nicht mehr aussah wie eine Bahnhofshalle, sondern wie ein Wartesaal vierter Klasse. Ein Volkergemisch erfullte ihn. Die Banke reichten bei weitem nicht aus. Die Leute standen oder sa?en auf dem Boden. Kern sah eine schwere, dunkle Frau wie eine breite, brutende Glucke in einer Ecke auf dem Boden sitzen. Das schwarze Haar war gescheitelt und ge?ochten. Um sie herum spielten mehrere Kinder. Das kleinste hatte sie an der entblo?ten Brust. Sie sa? unbefangen mit der sonderbaren Hoheit eines gesunden Tieres und dem Recht jeder Mutter in all dem Larm und hatte nur Augen fur ihre Brut, die um ihre Knie und ihren Rucken spielte wie um ein Denkmal.
Neben ihr stand eine Gruppe Juden mit schutteren grauen Barten, in schwarzen Kaftanen, mit Lockchen. Sie standen und warteten, mit einem Ausdruck so unerschutterlicher Ergebung, als hatten sie schon Hunderte von Jahren gewartet und wu?ten, da? sie noch weitere hundert Jahre warten mu?ten. Auf einer Bank an der Wand sa? eine schwangere Frau. Neben ihr ein Mann, der fortwahrend nervos seine Hande rieb. Daneben ein Mann mit wei?en Haaren, der leise auf eine weinende Frau einsprach. Auf der andern Seite ein junger, pickliger Mensch, der Zigaretten rauchte und hastig wie ein Dieb eine schone, elegante Frau anstarrte, die ihm gegenubersa? und ihre Handschuhe an-und auszog. Ein Buckliger, der in ein Notizbuch schrieb. Eine Anzahl Rumanen, die zischten wie Dampfkessel. Ein Mann, der Fotogra?en betrachtete, sie einsteckte, gleich wieder hervorholte, wieder betrachtete und wieder einsteckte. Eine dicke Frau, die in einer italienischen Zeitung las. Ein junges Madchen, das ohne jeden Anteil dasa?, vollig versunken in seine Traurigkeit.
»Das hier sind alles Leute, die eine Aufenthaltserlaubnis beantragt haben«, sagte Klassmann. »Oder die eine beantragen wollen.«
»Mit was fur Papieren ist denn das moglich?«
»Die meisten haben noch gultige oder abgelaufene, nicht erneuerte Passe. Oder sind auf irgendwelche Ausweise legal eingereist, mit Visum.«
»Dann ist dies hier noch nicht die schlimmste Abteilung?«
»Nein«, sagte Klassmann.
Kern sah, da? au?er Beamten auch Madchen hinter den Schaltern arbeiteten. Sie waren hubsch und adrett angezogen; die meisten trugen helle Blusen und halblange Armelschoner daruber aus schwarzem Satin. Es erschien ihm einen Augenblick sonderbar, da? hinter den Schaltern Menschen waren, denen es wichtig war, die Armel ihrer Bluse vor etwas Schmutz zu schonen, wahrend vor ihnen sich andere Menschen drangten, deren ganzes Leben im Schmutz versank.