kleines Wirtshaus. Nachmittags war viel zu tun; aber abends nach acht Uhr wurde es still.
Ein paar Zollbeamte, die Urlaub hatten, hockten in der Wirtsstube herum. Sie hatten ihre Kameraden besucht und begannen, nun Ja? zu spielen. Ehe Steiner sich dessen versah, war er dabei.
Die Schweizer waren wunderbare Spieler. Sie hatten eine eiserne Ruhe und enormes Gluck. Um zehn Uhr hatten sie Steiner bereits acht Franken abgenommen; gegen Mitternacht holte er funf auf. Aber um zwei Uhr nachts, als das Restaurant geschlossen wurde, hatte er dreizehn Franken verloren.
Die Schweizer traktierten ihn mit ein paar gro?en Glasern Kirschwasser. Er konnte sie brauchen; denn die Nacht war sehr frisch, und er mu?te den Rhein durchwaten.
Auf der andern Seite gewahrte er vor dem Himmel eine dunkle Gestalt. Es war der Kaiser Franz Joseph. Der Mond stand hinter seinem Kopf wie ein Heiligenschein.
Steiner trocknete sich ab. Ihm klapperten die Zahne. Er trank den Rest des Kirschwassers aus, das ihm die Schweizer gegeben hatten, und zog sich an. Dann ging er auf die einsame Gestalt zu.
»Wo bleibst du nur?« begru?te ihn Franz Joseph. »Ich warte schon seit eins auf dich. Wir dachten, du konntest dich verirren, deshalb stehe ich hier!«
Steiner lachte. »Die Schweizer haben mich aufgehalten.«
»Na, dann komm rasch! Wir haben ja nur noch zweieinhalb Stunden.«
Die Schlacht begann sofort. Um funf Uhr war sie noch unentschieden; die Osterreicher hatten gerade gute Karten bekommen. Der Kaiser Franz Joseph warf sein Blatt auf den Tisch. »So eine Gemeinheit. Gerade jetzt!«
Er zog seinen Mantel an und schnallte sein Koppel um. »Komm, Sepp! Es hilft nichts. Dienst ist Dienst! Wir mussen dich abschieben!«
Steiner und er gingen der Grenze zu. Franz Joseph paffte eine wurzige Virginia. »Wei?t du«, sagte er nach einer Weile,»ich habe das Gefuhl, die Schweizer passen heute nacht besonders scharf auf. Sie warten, da? du wieder ’ruberkommst, glaubst du nicht?«
»Leicht moglich«, erwiderte Steiner.
»Es konnte sein, da? es vernunftig ware, dich erst morgen nacht zu schicken. Dann glauben sie, da? du bei uns durchgekommen bist, und passen nicht mehr so auf.«
»Das ist klar.«
Franz Joseph blieb stehen. »Siehst du da hinten? Da hat was geblitzt! Das war eine Taschenlampe. Da, jetzt druben auch! Hast du gesehen?«
»Ganz deutlich!« Steiner grinste. Er hatte nichts gesehen. Aber er wu?te, was der alte Zollbeamte wollte.
Franz Joseph kratzte seinen silbernen Bart. Dann blinzelte er Steiner schlau zu. »Du kommst nicht durch, das ist klar, meinst du nicht auch? Wir mussen zuruck, Sepp! Es tut mir leid, aber die ganze Grenze ist schwer besetzt. Wir konnen gar nichts anderes machen, als bis morgen warten. Ich werde eine Meldung machen!«
»Gut.«
Sie spielten bis acht Uhr morgens. Steiner verlor siebzehn Schilling, aber er hatte noch zweiundzwanzig im voraus. Franz Joseph schrieb seine Meldung und ubergab Steiner dann den ablosenden Zollnern.
Die Tageszollner waren dienstlich und sehr formlich. Sie sperrten Steiner in die Polizeiwache. Er schlief dort den ganzen Tag. Punkt acht Uhr erschien Kaiser Franz Joseph, um ihn im Triumph zur Zollbude zuruckzuholen.
Es wurde kurz, aber kraftig gegessen – dann begann der Kampf. Alle zwei Stunden wurde einer der Zollner ausgewechselt gegen den, der dann vom Dienst zuruckkam. Steiner blieb bis morgens um funf Uhr am Tisch sitzen. Um zwolf Uhr funfzehn verbrannte Kaiser Franz Joseph in der Aufregung die obere Krause seines Bartes. Er hatte gedacht, es ware eine Zigarette in seinem Mund, und hatte versucht, sie anzuzunden. Es war eine Sinnestauschung, weil er eine Stunde lang nur Pik und Kreuz bekommen hatte. Er sah schwarz, wo gar nichts war.
Steiner schlachtete den Zoll ab. Er weidete ihn aus, besonders zwischen drei und funf Uhr. Franz Joseph holte in seiner Verzwei?ung Verstarkung heran. Er telefonierte dem Tarockchampion von Buchs, der mit seinem Motorrad angebraust kam. Es nutzte nichts; Steiner nahm auch ihn aus. Zum erstenmal, seit er ihn kannte, war Gott mit dem Bedurftigen; Steiner hatte eine Karte, da? er nur eins bedauerte: nicht mit Millionaren zu spielen.
Um funf Uhr ging es in die letzten Runden. Dann wurden die Karten eingesammelt. Steiner hatte einhundertsechs Schilling gewonnen.
Der Champion von Buchs sauste gru?los mit seinem Motorrad ab. Steiner und der Kaiser Franz Joseph gingen zur Grenze. Franz Joseph zeigte ihm einen anderen Weg als zwei Nachte vorher. »Nimm diese Richtung«, sagte er. »Sieh zu, da? du dich morgens versteckst. Nachmittags kannst du dann zum Bahnhof weitergehen. Du hast ja jetzt Geld. Und la? dich nie wieder hier blicken, du Stra?enrauber!« fugte er mit Grabesstimme hinzu. »Wir mussen sonst um eine Gehaltserhohung einkommen.«
»Gut. Ich gebe euch noch mal irgendwann Revanche.«
»Nicht im Tarock. Davon haben wir genug. In Schach meinetwegen oder Blindekuh.«
Steiner passierte die Grenze. Er uberlegte, ob er noch zum Schweizer Zoll gehen und Revanche verlangen sollte. Aber er wu?te, da? er verlieren wurde. Er beschlo?, nach Murten zu fahren und nach Kern zu sehen. Es lag am Wege nach Paris und war kein gro?er Umweg.
KERN GING LANGSAM auf die Hauptpost zu. Er war mude. Die letzten Nachte hatte er kaum schlafen konnen. Ruth hatte schon vor drei Tagen da sein mussen. Er hatte die ganze Zeit nichts von ihr gehort. Sie hatte nicht geschrieben. Er hatte immer geglaubt, es hatte irgendeine andere Ursache, und sich tausend Grunde dafur ausgedacht – aber jetzt, auf einmal, glaubte er, da? sie nicht mehr kame. Er fuhlte sich sonderbar ausgeloscht. Der Larm der Stra?e sickerte von weit her in seine dumpfe, gestaltlose Traurigkeit, und automatisch setzte er Fu? vor Fu?.
Es dauerte eine Weile, ehe er den blauen Mantel erkannte. Er blieb stehen. Irgendein blauer Mantel, dachte er, einer von den hundert blauen Manteln, die mich in dieser Woche verruckt gemacht haben! Er sah weg und wieder hin. Kassenboten und eine dicke Frau, die mit Paketen beladen war, versperrten ihm den Blick. Er hielt den Atem an. Er spurte, da? er zitterte. Der blaue Mantel tanzte vor seinen Augen zwischen roten Gesichtern, Huten, Fahrradern, Paketen, Menschen, die sich unablassig dazwischenschoben. Er ging vorsichtig weiter, als schritte er uber ein Seil und furchtete jede Sekunde abzusturzen. Selbst als Ruth sich umdrehte und er ihr Gesicht sah, glaubte er noch an eine entsetzliche Ahnlichkeit und eine Tauschung der Phantasie. Erst als ihr Gesicht sich veranderte, sturzte er vorwarts, ihr entgegen.
»Ruth! Du bist da! Du bist da! Du wartest und ich bin nicht da!«
Er hielt sie fest in seinen Armen und fuhlte, wie sie ihn hielt. Sie klammerten sich aneinander, als stunden sie auf einer schmalen Bergeskuppe und der Sturm rei?e an ihnen, um sie herunterzuwehen. Sie standen mitten in der Tur der Hauptpost von Genf, zur Zeit des gro?ten Verkehrs, und Leute drangten an ihnen voruber, stie?en sie an, drehten sich erstaunt um und lachten – sie merkten es nicht. Sie waren allein. Erst als Kern in seinem Blickfeld eine Uniform auftauchen sah, wurde er sofort wach. Er lie? Ruth los.
»Komm rasch!« ?usterte er. »In die Post! Ehe etwas passiert!«
Sie tauchten eilig im Gedrange unter. »Komm hierher!«
Sie stellten sich an das Ende einer Reihe von Leuten, die vor einem Briefmarkenschalter warteten. »Wann bist du angekommen?« fragte Kern. Die Hauptpost in Genf war ihm noch nie so hell erschienen.
»Heute morgen.«
»Haben sie dich erst nach Basel gebracht? Oder direkt hierher?«
»Nein. Man hat mir in Murten eine Aufenthaltserlaubnis fur drei Tage gegeben. Da bin ich gleich hierhergefahren.«
»Wunderbar! Eine Aufenthaltserlaubnis sogar! Da brauchst du uberhaupt keine Angst zu haben! Ich sah dich schon allein an der Grenze. Du bist bla? und schmal geworden, Ruth!«
»Ich bin aber wieder ganz gesund. Sehe ich ha?licher aus?«
»Nein, viel schoner! Du bist jedesmal schoner, wenn ich dich wiedersehe! Hast du Hunger?«
»Ja«, sagte Ruth. »Hunger nach allem; dich zu sehen, uber Stra?en zu gehen, nach Luft und Sprechen.«
»Dann wollen wir gleich essen gehen. Ich wei? ein kleines Restaurant. Da gibt es frische Fische aus dem See. Wie in Lu-zern.« Kern strahlte. »Die Schweiz hat so viele Seen. Wo ist dein Gepack?«