des Herbstlaubes. Lange Reihen von Automobilen standen gestaffelt in dem breit angelegten Einfahrtshof, und Scharen vergnugter Menschen gingen aus und ein.

»Wunderbar«, sagte Kern. »Sieht aus, als ob der Kaiser der Schweiz hier wohnte.«

»Wissen Sie nicht, was das ist?«

Kern schuttelte den Kopf.

»Das ist der Palast des Volkerbundes«, sagte Vogt mit einer Stimme voller Trauer und Ironie.

Kern sah ihn uberrascht an.

Vogt nickte. »Das ist der Platz, wo seit Jahren uber unser Schicksal beraten wird. Ob man uns Ausweispapiere geben und uns wieder zu Menschen machen soll oder nicht.«

Ein offener Cadillac loste sich aus der Reihe der Automobile und glitt der Ausfahrt zu. Eine Anzahl eleganter, jungerer Leute sa? darin, darunter ein sehr schones Madchen in einem Nerzmantel. Sie lachten und winkten einem zweiten Wagen zu und verabredeten ein Fruhstuck am See.

»Ja«, sagte Vogt nach einer Weile. »Verstehen Sie nun, weshalb es so lange dauert?«-»Ja«, erwiderte Kern.

»Hoffnungslos, was?«

Kern hob die Schultern. »Ich glaube nicht, da? die es sehr eilig haben.« Ein Pfortner kam heran und musterte Kern und Vogt mi?trauisch. »Suchen Sie jemand?«

Kern schuttelte den Kopf.

»Was mochten Sie denn?« fragte der Pfortner.

Vogt sah Kern an. In seinen Augen blinkte ein muder Funken Spott auf. »Nichts«, sagte er dann zu dem Pfortner. «Wir sind nur Touristen. Einfache Wanderer auf Gottes Erde.«

»Dann ist es wohl besser, Sie gehen weiter«, sagte der Pfortner, dem Gedanken an verruckte Anarchisten durch den Kopf schossen.

»Ja«, sagte Vogt. »Das ist wohl besser.«

In der Rue de Montblanc sahen sie sich die Auslagen der Geschafte an. Vor einem Juwelierladen blieb Vogt stehen. »Ich will mich hier verabschieden.«

»Wohin wollen Sie diesmal?« fragte Kern.

»Nicht mehr weit. Ich gehe in dieses Geschaft.«

Kern blickte verstandnislos durch die Scheibe der Auslage, in der auf grauem Samt Brillanten, Rubine und Smaragden ausgestellt waren.

»Ich glaube, Sie werden kein Gluck haben«, sagte er. »Juweliere sind bekannt hartherzig. Vielleicht, weil sie dauernd mit Steinen umgehen. Sie geben nie etwas.«

»Ich will nichts haben. Ich will nur etwas stehlen.«

»Was?« Kern sah Vogt zweifelnd an. »Meinen Sie das im Ernst? Damit werden Sie nicht weit kommen, so wie Sie jetzt sind.«

»Das will ich auch nicht. Deshalb tue ich es ja.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Kern.

»Sie werden es gleich verstehen. Ich habe es mir genau uberlegt. Es ist die einzige Moglichkeit fur mich, uber den Winter zu kommen. Ich bekomme mindestens ein paar Monate dafur. Ich habe keine Wahl mehr. Ich bin ziemlich kaputt. Noch ein paar Wochen Grenze geben mir den Rest. Ich mu? es tun.«

»Aber…«, begann Kern.

»Ich wei? alles, was Sie sagen wollen.« Vogts Gesicht ?el plotzlich zusammen, als waren die Faden gerissen, die es gehalten hatten. »Ich kann nicht mehr…«, murmelte er. »Leben Sie wohl.«

Kern sah, da? es vergeblich war, noch etwas zu sagen. Er druckte die schwache Hand Vogts. »Hoffentlich erholen Sie sich bald.«

»Ja, hoffentlich. Das Gefangnis hier ist ganz gut.« Vogt wartete, bis Kern ein Stuck weitergegangen war. Dann betrat er das Geschaft. Kern blieb an der Stra?enecke stehen und beobachtete den Eingang, indem er tat, als warte er auf die elektrische Bahn. Nach kurzer Zeit sah er einen jungen Mann aus dem Geschaft sturzen und bald darauf mit einem Polizisten zuruckkehren. Hoffentlich hat er nun Ruhe, dachte er und ging weiter.

STEINER FAND KURZ hinter Wien ein Auto, das ihn bis zur Grenze mitnahm. Er wollte nicht riskieren, seinen Pa? osterreichischen Zollbeamten vorzuzeigen – deshalb stieg er ein Stuck vor der Grenze aus und ging den Rest des Weges zu Fu?. Gegen zehn Uhr abends meldete er sich am Zollamt. Er erklarte, gerade aus der Schweiz herubergeschoben worden zu sein.

»Schon«, sagte ein alter Zollbeamter mit einem Kaiser-Franz-Joseph-Bart. »Das kennen wir. Morgen fruh schicken wir Sie zuruck. Setzen Sie sich nur irgendwohin.«

Steiner setzte sich drau?en vor die Zollbude und rauchte. Es war sehr ruhig. Der Beamte, der gerade Dienst hatte, doste vor sich hin. Nur ab und zu fuhr ein Auto durch. Ungefahr eine Stunde spater kam der Beamte mit dem Kaiserbart heraus. »Sagen Sie«, fragte er Steiner:»Sind Sie Osterreicher?«.

Steiner war sofort in Alarm. Er hatte seinen Pa? in seinen Hut eingenaht. Wie kommen Sie darauf«, sagte er ruhig. »Wenn ich Osterreicher ware, ware ich doch kein Emigrant.«

Der Beamte schlug sich vor die Stirn, da? sein silberner Bart wackelte. »Richtig! Richtig! Was man so manchmal alles vergi?t! Ich fragte Sie nur, weil ich dachte, wenn Sie Osterreicher waren, konnten Sie vielleicht Tarock spielen.«

»Tarock spielen kann ich. Das habe ich als Kind schon gelernt, im Krieg. Ich war eine Zeitlang in einer osterreichischen Division.«

»Gro?artig! Gro?artig!« Der Kaiser Franz Joseph klopfte Steiner auf die Schulter. »Da sind Sie ja fast ein Landsmann. Wie ist es denn? Spielen wir eine Partie? Es pa?t gerade mit der Zahl.«

»Naturlich.«

Sie gingen hinein. Eine Stunde spater hatte Steiner sieben Schilling gewonnen. Er spielte nicht nach den Methoden des Falschspielers Fred – er spielte ehrlich. Aber er spielte viel besser als die Zollbeamten, so da? er gewinnen mu?te, wenn sein Blatt nur einigerma?en gut war.

Um elf Uhr a?en sie zusammen zu Abend. Die Zollbeamten erklarten, es sei ihr Fruhstuck; ihr Dienst gehe bis morgens acht Uhr. Das Fruhstuck war kraftig und gut. Dann spielten sie weiter.

Steiner bekam ein sehr gutes Blatt. Der osterreichische Zoll spielte mit dem Mute der Verzwei?ung gegen ihn. Sie kampften, aber sie waren fair. Um drei Uhr duzten sie sich. Und um vier Uhr waren sie vollig familiar; die Bezeichnungen Schweinehund, Mistvieh und Arschloch galten nicht mehr als Beleidigungen, sondern als spontane Ausdrucke des Erstaunens, der Bewunderung und der Zuneigung.

Um funf Uhr kam der Zollner vom Dienst herein. »Kinder, es ist die hochste Zeit, Josef uber die Grenze zu bringen.«

Es entstand ein allgemeines Schweigen. Aller Augen richteten sich auf das Geld, das vor Steiner lag. Schlie?lich machte der Kaiser Franz Joseph eine Bewegung. »Gewonnen ist gewonnen«, sagte er resigniert. »Er hat uns ausgemistet. Nun zieht er davon wie eine Herbstschwalbe, dieser Galgenstrick!«

»Ich hatte gute Karten«, erwiderte Steiner. »Verdammt gute Karten.«

»Das ist es ja gerade«, sagte Kaiser Franz Joseph melancholisch. »Du hast gute Karten gehabt. Morgen hatten wir vielleicht gute Karten. Dann bist du aber nicht mehr da. Darin liegt irgendeine Ungerechtigkeit.«

»Das stimmt. Aber wo gibt es schon Gerechtigkeit, Bruder?«

»Die Gerechtigkeit beim Kartenspielen liegt darin, da? der Gewinner Revanche geben mu?. Wenn er dann wieder gewinnt, kannst du nichts machen. Aber so…« Kaiser Franz Joseph hob die Hande und hielt sie ?ach in die Luft. »Es hat was Unbefriedigendes so…«

»Aber Kinder«, sagte Steiner. »Wenn es das allein ist! Ihr schiebt mich uber die Grenze, morgen abend schieben die Schweizer mich zuruck – und ich gebe euch Revanche!«

Kaiser Franz Joseph klappte seine ausgestreckten Hande zusammen. Es schallte nur so durch den Raum. »Das war es!« stohnte er erlost. »Wir selbst konnten es dir nicht vorschlagen, verstehst du? Weil wir ja eine Behorde sind. Wir durfen dich nicht verleiten, die Grenze wieder zu uberschreiten. Wenn du von selbst kommst, das ist was andres!«

»Ich komme«, sagte Steiner. »Ihr konnt euch drauf verlassen.«

Er meldete sich beim Schweizer Grenzposten und erklarte, nachts wieder nach Osterreich zuruckzuwollen. Man schickte ihn nicht zur Polizei, sondern behielt ihn da. Es war Sonntag. Gleich neben der Zollwache war ein

Вы читаете Liebe Deinen Nachsten
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату