konnten Manner weinen und doch Manner bleiben und tapfer sein. Du hast dein Herz nie gelost.«
»Nein«, sagte Steiner.
»Worauf wartest du?«
»Ich wei? es nicht. Ich will es auch nicht wissen.«
Lilo betrachtete ihn aufmerksam. »Komm essen«, sagte sie dann. »Ich werde dir Brot und Salz mitgeben wie in Ru?land und dich segnen, ehe du gehst – du Unruhe ohne Flie?en, vielleicht wirst du auch daruber lachen.«
»Nein.«
Sie stellte die Schussel mit den Piroggen auf den Tisch.
»Setz dich zu mir, Lilo.«
Sie schuttelte den Kopf. »Du i?t heute allein. Ich werde dich bedienen und dir geben, was du i?t. Es ist deine letzte Mahlzeit.« Sie blieb stehen und reichte ihm die Piroggen, das Brot, das Fleisch und die Gurken. Sie sah zu, wie er a?, und breitete ihm schweigend den Tee. Sie ging biegsam mit ihren weiten Schritten durch den kleinen Wagen wie ein Panther, der einen zu engen Ka?g schon gewohnt ist. Ihre schmalen, bronzenen Hande schnitten ihm das Fleisch, ihr Gesicht hatte einen gesammelten, undeutbaren Ausdruck, und sie erschien Steiner plotzlich wie eine biblische Gestalt.
Er erhob sich und holte seine Sachen. Seinen Rucksack hatte er gegen einen Koffer vertauscht, seit er einen Pa? hatte. Er offnete die Tur des Wagens, ging die Stufen langsam hinunter und stellte den Koffer drau?en nieder. Dann ging er wieder zuruck.
Lilo stand am Tisch. Sie hatte eine Hand aufgestutzt, und ihre Augen spiegelten eine so blinde Leere, als sahen sie nichts und sie ware schon allein. Steiner ging auf sie zu. »Lilo…«
Sie ruhrte sich und sah ihn an. Ihre Augen veranderten ihren Ausdruck. »Es ist schwer, fortzugehen«, sagte Steiner.
Sie nickte und legte eine Hand um seinen Nacken. »Ich werde allein sein ohne dich.«
»Wohin wirst du gehen?«
»Du wirst sicher sein in Osterreich. Auch wenn es deutsch wird.«
»Ja.«
Sie blickte ihn ernst an. Ihre Augen waren sehr tief und glanzend.
»Schade, Lilo«, murmelte Steiner.
»Ja.«
»Du wei?t warum?«
»Ich wei? es, und du wei?t es auch von mir.«
Sie sahen sich immer noch an. »Sonderbar«, sagte Steiner,»nur ein Stuck Zeit und ein Stuck Leben, das zwischen uns steht. Alles andere ist da.«
»Alle Zeit, Steiner«, erwiderte Lilo sanft,»alle Zeit und unser ganzes Leben…«
Er nickte. Lilo legte ihre Hande um sein Gesicht und sprach einige russische Worte. Dann gab sie ihm ein Stuck Brot und etwas Salz. »I? es, wenn du fort bist. Es soll dir Brot ohne Kummer in der Fremde geben. Und nun geh.«
Steiner wollte sie kussen, aber er unterlie? es, als er sie ansah. »Geh jetzt!« sagte sie leise. »Geh!«
Er ging durch den Wald. Nach einiger Zeit blickte er sich um. Die Budenstadt war in der Nacht versunken, und es war nichts mehr da als die ungeheure, saugende Dunkelheit mit dem Lichtviereck einer fernen, offenen Tur und eine kleine Gestalt, die nicht winkte.
15
Kern wurde nach vierzehn Tagen dem Bezirksgericht wieder vorgefuhrt. Der dicke Mann mit dem Apfelgesicht blickte ihn bekummert an. »Ich mu? Ihnen etwas Unangenehmes mitteilen, Herr Kern…«
Kern richtete sich gerade auf. Vier Wochen, dachte er, hoffentlich nicht mehr als vier Wochen! So lange kann Beer Ruth zur Not noch im Krankenhaus behalten.
»Der Rekurs fur Sie ist vom Obergericht verworfen worden. Sie waren zu lange in der Schweiz. Der Begriff eines Notstandes war nicht mehr gerechtfertigt. Au?erdem war da die Sache mit dem Gendarmen. Sie sind zu vierzehn Tagen Gefangnis verurteilt worden.«
»Zu vierzehn Tagen mehr?«
»Nein. Nur vierzehn Tage. Die Untersuchungshaft wird darauf angerechnet.«
Kern tat einen tiefen Atemzug. »Danach kame ich also heute heraus?«
»Ja. Sie haben in Ihrer Erinnerung lediglich statt in Haft im Gefangnis gesessen. Schlimm ist nur, da? Sie jetzt als vorbestraft gelten.«
»Das werde ich aushalten.«
Der Richter sah ihn an. »Es ware besser, Sie hatten nichts im Strafregister. Aber es war nicht zu machen.«
»Werde ich heute abgeschoben?« fragte Kern.
»Ja. Uber Basel.«
»Uber Basel? Nach Deutschland?« Kern blickte sich blitzschnell um. Er war bereit, sofort aus dem Fenster zu springen und zu ?uchten. Er hatte einige Male davon gehort, da? man Emigranten nach Deutschland abgeschoben hatte. Aber es waren meistens Fluchtlinge gewesen, die gerade aus Deutschland gekommen waren.
Das Fenster war offen, und der Gerichtsraum lag zu ebener Erde. Drau?en schien die Sonne. Drau?en wiegte der Apfelbaum seine Zweige, und dahinter war eine Hecke, die man uberspringen konnte, und dahinter war die Freiheit.
Der Richter schuttelte den Kopf. »Sie werden nach Frankreich gebracht. Nicht nach Deutschland. Basel ist unsere deutsche und unsere franzosische Grenze.«
»Kann ich denn nicht in Genf uber die Grenze geschoben werden?«
»Nein, das geht leider nicht. Basel ist der nachste Platz. Wir haben unsere Anweisungen dafur. Genf ist viel weiter.«
Kern schwieg einen Moment. »Es ist bestimmt, da? ich nach Frankreich abgeschoben werde?« fragte er dann.
»Ganz bestimmt.«
»Wird niemand, der hier ohne Papiere gefa?t wird, nach Deutschland abgeschoben?«
»Niemand, soviel ich wei?. Das kann hochstens in den Grenzstadten einmal passieren. Aber ich habe auch davon kaum etwas gehort.«
»Eine Frau wurde doch bestimmt nicht nach Deutschland zuruckgeschickt werden?«
»Sicher nicht. Ich wurde es jedenfalls niemals tun. Warum wollen Sie das wissen?«
»Es hat keinen besonderen Grund. Ich habe nur unterwegs auch manchmal Frauen ohne Papiere gesehen. Fur die war alles noch viel schwerer. Deshalb fragte ich.«
Der Richter nahm ein Schreiben aus den Akten und zeigte es Kern. »Hier ist Ihr Ausweisungsbefehl. Glauben Sie nun, da? Sie nach Frankreich gebracht werden?«-»Ja.«
Der Richter legte das Papier in den Aktendeckel zuruck. »Ihr Zug geht in zwei Stunden.«
»Es ist vollig unmoglich, nach Genf gebracht zu werden?«
»Vollig. Die Fluchtlinge kosten uns eine Menge Eisenbahnfahrten. Es besteht eine strikte Anweisung, sie zur nachsten Grenze zu bringen. Ich kann Ihnen da wirklich nicht helfen.«
»Wenn ich die Reise selbst bezahlen wurde, konnte ich dann nach Genf gebracht werden?«
»Ja, das ware moglich. Wollen Sie denn das?«
»Nein, dazu habe ich nicht genug Geld. Es war nur so eine Frage.«
»Fragen Sie nicht zuviel«, sagte der Richter. »Eigentlich mu?ten Sie auch die Fahrt nach Basel schon bezahlen, wenn Sie Geld bei sich hatten. Ich habe davon abgesehen, das zu inquirieren.« Er stand auf. »Leben Sie wohl! Ich wunsche Ihnen alles Gute! Und hoffentlich wird alles bald anders!«
»Ja, vielleicht! Ohne das konnten wir uns ja sofort aufhangen.«