Der Arzt rief von unten herauf. »Ruth!« sagte Kern und nahm sie in seine Arme. »Wirst du tapfer sein, Ruth?«

Sie klammerte sich an ihn. »Ich will tapfer sein. Und ich will dich wiedersehen.«

»Postlagernd Genf, wenn alles falsch geht. Sonst hole ich dich hier ab. Jeden Abend um neun stehe ich drau?en und wunsche dir alles, was es gibt.«

»Ich komme ans Fenster.«

»Du bleibst im Bett, sonst komme ich nicht! Lach noch einmal!«

»Fertig?« rief der Arzt.

Sie lachelte unter Tranen. »Vergi? mich nicht!«

»Wie kann ich das? Du bist doch alles, was ich habe!«

Er ku?te sie auf die trockenen Lippen. Der Kopf des Arztes erschien in der Bodenluke. »Macht nichts«, sagte er,»aber nun los!« Sie brachten Ruth hinunter ins Auto und deckten sie zu. »Kann ich heute abend anfragen?« sagte Kern.

»Naturlich. Bleiben Sie jetzt hier? Ja, es ist besser. Sie konnen jederzeit kommen.«

Das Auto fuhr ab. Kern blieb stehen, aber er glaubte, ein Sturmwind risse ihn nach ruckwarts.

Um acht Uhr ging er zu Doktor Beer. Der Arzt war zu Hause. Er beruhigte ihn; das Fieber sei hoch, aber vorlau?g sei keine gro?e Gefahr. Es scheine eine normale Lungenentzundung zu werden.

»Wie lange dauert das?«

»Wenn es gut geht, zwei Wochen. Und dann eine Woche Rekonvaleszenz.«

»Wie ist es mit dem Geld?« fragte Kern. »Wir haben keins.«

Beer lachte. »Vorlau?g liegt sie erst einmal im Krankenhaus. Irgendeine Wohltatigkeitsinstitution wird nachher schon die Kosten ubernehmen.«

Kern sah ihn an. »Und Ihr Honorar?«

Beer lachte wieder. »Behalten Sie Ihre paar Franken nur. Ich kann ohne sie leben. Sie konnen morgen wieder fragen kommen.« Er stand auf.

»Wo liegt sie?« fragte Kern. »In welchem Stock?«

Beer legte seinen knochigen Zeige?nger an die Nase. »Warten Sie mal… Zimmer 35 im zweiten Stock.«

»Welches Fenster ist das?«

Beer zwinkerte mit den Augen. »Ich glaube, es ist das zweite von rechts. Es nutzt aber nichts; sie wird schon schlafen.«

»Ich meinte nicht deswegen.«

»Naturlich nicht«, erwiderte Beer.

Kern fragte sich nach dem Krankenhaus durch. Er fand es rasch und blickte auf die Uhr. Es war eine Viertelstunde vor neun. Das zweite Fenster von rechts war dunkel. Er wartete. Er hatte nie geglaubt, da? es so langsam neun Uhr werden konne. Plotzlich sah er, da? das Fenster hell wurde. Er stand angespannt und schaute auf das rotliche Viereck. Er hatte einmal etwas von Gedankenubertragung gehort und versuchte sich jetzt zu konzentrieren, um Kraft zu Ruth hinuberzuschicken. – La? sie gesund werden, la? sie gesund werden! dachte er eindringlich und wu?te nicht, zu wem er betete. Er holte tief Atem und lie? ihn langsam ausstromen; er erinnerte sich, da? tiefes Atmen als wichtig bezeichnet war in dem Buch, das er gelesen hatte. Er ballte die Fauste und spannte die Muskeln an, er hob sich auf die Zehen, als wollte er losspringen, und ?usterte immer wieder gegen das helle Lichtkarree in die Nacht:»Werde gesund! Werde gesund! Ich liebe dich!«

Das Fenster verdunkelte sich. Er sah einen Schatten. Sie soll doch im Bett bleiben! dachte er, wahrend ein Sturzbach von Gluck ihn uberstromte. Sie winkte; er winkte wild zuruck. Dann erinnerte er sich, da? sie ihn nicht sehen konnte. Verzweifelt blickte er nach einer Laterne, nach einem Schein Helligkeit aus, um sich davorzustellen. Nichts war zu sehen. Da kam ihm ein Gedanke. Er ri? eine Schachtel Zundholzer aus der Tasche, die er morgens zu seinen zwei Zigaretten geschenkt bekommen hatte, zundete eins an und hielt es hoch.

Der Schatten winkte. Er winkte vorsichtig mit dem Zundholz zuruck. Dann ri? er ein paar neu an und hielt sie so, da? sie sein Gesicht beleuchteten. Ruth winkte heftig. Er machte Zeichen, sie solle sich niederlegen. Sie schuttelte den Kopf. Er beleuchtete sein Gesicht und nickte nachdrucklich. Sie folgte nicht. Er merkte, da? er fortgehen mu?te, um sie dazu zu bewegen, sich wieder ins Bett zu legen. Er machte ein paar Schritte, um zu zeigen, da? er ginge. Dann warf er alle brennenden Streichholzer hoch. Sie ?elen ?ackernd zu Boden und verloschten. Das Licht brannte noch einen Augenblick. Dann erlosch es, und das Fenster schien dunkler zu sein als alles andere.

»GRATULIERE, GOLDBACH!« SAGTE Steiner. »Sie waren heute zum erstenmal gut! Ohne jeden Fehler, ruhig und uberlegen. Erstklassig, wie Sie mir den Tip gegeben haben mit dem Streichholz im Busenhalter! Das war wirklich schwer.«

Goldbach sah ihn dankbar an. »Ich wei? selbst nicht, wie es gekommen ist. Plotzlich, wie eine Erleuchtung, von gestern auf heute. Passen Sie auf, ich werde noch ein gutes Medium. Morgen werde ich anfangen, mir andere Tricks auszudenken.«

Steiner lachte. »Kommen Sie, trinken wir einen Schnaps auf das freudige Ereignis.«

Er holte eine Flasche Marillengeist und schenkte ein. »Prosit, Goldbach!«

»Prosit!«

Goldbach verschluckte sich und stellte das Glas nieder. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich bin das nicht mehr gewohnt. Wenn Sie nichts dagegen haben, mochte ich jetzt gern gehen.«

»Aber naturlich! Wir sind ja fertig hier. Wollen Sie nicht wenigstens Ihr Glas noch austrinken?«

»Ja, gern.« Goldbach trank gehorsam.

Steiner gab ihm die Hand. »Und uben Sie nicht zu viele Tricks. Sonst ?nde ich vor lauter Raffinement nichts mehr.«

»Nein. Nein.«

Goldbach ging rasch die Allee hinunter zur Stadt. Er fuhlte sich leicht, als ware eine schwere Last von ihm abgefallen. Aber es war eine Leichtigkeit ohne Freude… als waren seine Knochen voll Luft und sein Wille aus Gas, nicht mehr lenkbar und jedem Winde preisgegeben.

»Ist meine Frau da?« fragte er das Madchen an der Tur der Pension.

»Nein.« Das Madchen ?ng an zu lachen.

»Weshalb lachen Sie denn?« fragte Goldbach befremdet.

»Warum soll ich nicht lachen? Ist es verboten zu lachen?«

Goldbach sah sie abwesend an. »So meine ich das nicht«, murmelte er. »Lachen Sie nur.«

Er ging den schmalen Korridor entlang in sein Zimmer und horchte nach nebenan. Er horte nichts. Sorgfaltig burstete er seine Haare und seinen Anzug; dann klopfte er an die Verbindungstur, obschon das Madchen gesagt hatte, seine Frau sei nicht da. Vielleicht ist sie inzwischen gekommen, dachte er. Vielleicht hat das Madchen sie nicht gesehen. Er klopfte noch einmal. Niemand antwortete. Er druckte vorsichtig die Klinke herunter und trat ein. Das Licht am Spiegel brannte. Er starrte auf das Licht wie ein Schiffer auf einen Leuchtturm. Sie wird gleich wiederkommen, dachte er. Sonst wurde das Licht nicht brennen.

Er wu?te schon, irgendwo in seinen luftleichten Knochen, in dem grauen Aschengewirr seiner Adern, da? sie nicht wiederkommen wurde. Er wu?te es unterhalb seiner Gedanken, aber sein Kopf hielt mit dem Eigensinn der Angst wie an einem Balken, der ihn vor der Flut retten konne, an den sinnlosen Worten fest: Sie mu? wiederkommen… sonst wurde das Licht nicht brennen…

Dann entdeckte er die Leere des Zimmers. Die Bursten und die Cremetopfe vor dem Spiegel fehlten; eine Tur des Schrankes stand halb offen, und der rosa- und pastellfarbene Fleck der Kleider fehlte in der Offnung; sie gahnte schwarz und verlassen. Nur der Geruch im Zimmer war noch da, ein Hauch Leben, aber auch schon dunner… Erinnerung und lauernder Schmerz. Dann fand er den Brief und wunderte sich stumpf, da? er ihn so lange nicht gesehen hatte – er lag mitten auf dem Tisch.

Es dauerte lange, ehe er ihn offnete. Er wu?te ohnehin alles – wozu ihn noch offnen? Schlie?lich ri? er ihn mit einer vergessenen Haarnadel, die neben ihm auf einem Sessel gelegen hatte, auf. Er las ihn, doch die Worte drangen nicht mehr durch die Eisschicht seines Gehirns; sie blieben tot, Worte aus einer Zeitung, einem Buch, zufallige Worte, die ihn nichts angingen. Die Haarnadel in seiner Hand war lebendiger.

Er sa? ruhig da und wartete auf den Schmerz und wunderte sich, da? er nicht kam. Es war nur ein taubes Gefuhl, eine ungeheure Dampfung, wie der angstvolle Augenblick vor dem Einschlafen, wenn er eine zu gro?e

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