Die Kirche war halbdunkel und leer. Sie roch nach Weihrauch und Kerzen. Kern setzte sich in eine Bank und schrieb einen Brief an Doktor Beer. Er legte einen Brief fur Ruth und Geld fur sie hinein. Dann klebte er ihn zu und steckte ihn in die Tasche. Er fuhlte sich sehr mude. Langsam rutschte er auf die Kniebank und legte den Kopf auf das Betpult. Er wollte nur einen Augenblick ausruhen; aber er schlief ein.
Als er erwachte, wu?te er uberhaupt nicht, wo er war. Er blinzelte in den matten, roten Schein des Ewigen Lichtes und fand sich allmahlich zurecht. Als er Schritte horte, wurde er sofort vollig wach.
Ein Geistlicher in schwarzer Priestertracht kam langsam den Mittelgang herunter. Er blieb bei Kern stehen und sah ihn an. Kern faltete zur Vorsicht die Hande.
»Ich wollte Sie nicht storen«, sagte der Geistliche.
»Ich wollte gerade gehen«, erwiderte Kern.
»Ich sah Sie von der Sakristei aus. Sie sind schon zwei Stunden hier. Haben Sie fur etwas Besonderes gebetet?«
»O ja«, sagte Kern, etwas uberrascht, aber schnell gefa?t.
»Sie sind nicht von hier?« Der Geistliche blickte auf Kerns Koffer.
»Nein.« Kern sah ihn an. Der Priester machte einen vertrauenerweckenden Eindruck. »Ich bin Emigrant. Ich mu? heute nacht uber die Grenze. In dem Koffer dort habe ich Sachen, die ich verkaufe.«
Er hatte nachmittags noch eine Flasche Toilettewasser ubrigbehalten und fa?te plotzlich die irrsinnige Idee, sie dem Geistlichen in der Kirche zu verkaufen. Es war unwahrscheinlich; aber er war an unwahrscheinliche Dinge gewohnt. »Toilettewasser«, sagte er. »Sehr gutes. Und sehr billig. Ich verkaufe es gerade aus.«
Er wollte seinen Koffer offnen.
Der Priester wehrte ab. »Lassen Sie nur. Ich glaube Ihnen. Wir wollen die Wechsler im Tempel nicht nachahmen. Ich freue mich, da? Sie so lange gebetet haben. Kommen Sie mit in die Sakristei. Wir haben einen kleinen Fond fur bedurftige Glaubige.
Kern bekam zehn Franken. Er war etwas beschamt, aber nicht lange. Es war ein Stuck franzosische Eisenbahn fur ihn und Ruth. Die Pechstrahne scheint zu Ende zu sein, dachte er. Er ging in die Kirche zuruck und betete nun tatsachlich. Er wu?te nicht genau zu wem – er selbst war protestantisch, sein Vater war Jude, und er kniete in einer katholischen Kirche – aber er fand, da? in Zeiten wie diesen wahrscheinlich auch im Himmel ein ziemliches Durcheinander sein mu?te, und er nahm an, da? sein Gebet schon den richtigen Weg ?nden wurde.
Abends fuhr er mit der Eisenbahn nach Genf. Er hatte plotzlich das Gefuhl, Ruth konne schon fruher aus dem Hospital entlassen werden. Er kam morgens an, deponierte seinen Koffer am Bahnhof und ging zur Polizei. Dem Beamten erklarte er, gerade aus Frankreich herubergeschoben worden zu sein. Da er seinen Ausweisungsbefehl aus der Schweiz bei sich hatte, der nur ein paar Tage alt war, glaubte man ihm; man behielt ihn tagsuber da und schob ihn nachts in der Richtung Cologny uber die Grenze.
Er meldete sich sofort beim franzosischen Zollamt. »Gehen Sie ’rein«, sagte ein schlafriger Beamter. »Es ist schon jemand anders da. Wir schicken euch gegen vier Uhr zuruck.«
Kern ging in die Zollbude. »Vogt!« sagte er erstaunt. »Wie kommen Sie denn hierher?«
Vogt hob die Schultern. »Ich belagere wieder einmal die Schweizer Grenze.«
»Seit damals? Seit Sie zum Bahnhof in Luzern gebracht wurden?«
»Seit damals.«
Vogt sah schlecht aus. Er war mager, und seine Haut war wie graues Papier. »Ich habe Pech«, sagte er. »Es gelingt mir nicht, ins Gefangnis zu kommen. Dabei sind die Nachte schon so kalt, da? ich sie nicht mehr vertrage.«
Kern setzte sich zu ihm. »Ich war im Gefangnis«, sagte er. »Und ich bin froh, da? ich wieder drau?en bin. So ist das Leben!«
Ein Gendarm brachte ihnen etwas Brot und Rotwein. Sie a?en und schliefen sofort auf der Bank ein. Um vier Uhr morgens wurden sie geweckt und zur Grenze gebracht. Es war noch vollig dunkel. Die bereiften Felder schimmerten bleich am Wegrande.
Vogt zitterte vor Kalte. Kern zog seinen Sweater aus. »Hier, ziehen Sie das an. Mir ist nicht kalt.«
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
»Sie sind jung«, sagte Vogt,»das ist es.« Er streifte den Sweater uber. »Nur fur die paar Stunden, bis die Sonne kommt.«
Kurz vor Genf verabschiedeten sie sich. Vogt wollte versuchen, uber Lausanne tiefer in die Schweiz zu kommen. Solange er in der Nahe der Grenze war, schickte man ihn einfach zuruck, und er konnte nicht auf ein Gefangnis rechnen.
»Behalten Sie den Sweater«, sagte Kern.
»Ausgeschlossen! Das ist doch ein Kapital!«
»Ich habe noch einen. Geschenk eines Gefangnisgeistlichen in Wien. In der Gepackaufbewahrung in Genf.«
»Ist das wahr?«
»Naturlich. Es ist ein blauer Sweater mit einem roten Rand. Glauben Sie es nun?«
Vogt lachelte. Er zog ein schmales Buch aus der Tasche. »Nehmen Sie das dafur.«
Es waren die Gedichte Holderlins. »Das konnen Sie doch noch viel weniger entbehren«, sagte Kern.
»Doch. Ich kann die meisten auswendig.«
Kern ging nach Genf hinein. Er schlief zwei Stunden in der Kirche und stand um zwolf Uhr an der Hauptpost. Er wu?te, da? Ruth noch nicht kommen konnte, aber er wartete trotzdem bis zwei Uhr. Dann zog er die Adressenliste Binders zu Rate. Er hatte wieder Gluck. Bis abends hatte er siebzehn Franken verdient, und damit ging er zur Polizei.
Es war Sonnabend. Die Nacht war unruhig. Schon um elf Uhr wurden zwei vollig Betrunkene eingeliefert. Sie kotzten das Lokal an und begannen dann zu singen. Gegen ein Uhr waren sie zu funft. Um zwei Uhr brachte man Vogt.
»Es ist wie verhext«, sagte er melancholisch. »Immerhin, wir sind wenigstens zu zweit.«
Eine Stunde spater wurden sie abgeholt. Die Nacht war kalt. Die Sterne ?immerten und waren sehr fern. Der halbe Mond war klar wie geschmolzenes Metall.
Der Gendarm blieb stehen. »Sie biegen hier rechts ab, dann…«
»Ich wei?«, unterbrach Kern ihn. »Ich kenne den Weg.«
»Dann alles Gute.«
Sie gingen weiter, uber den schmalen Streifen Niemandsland zwischen Grenze und Grenze.
WIDER ERWARTEN SCHICKTE man sie nicht in derselben Nacht zuruck. Man brachte sie auf die Prafektur und nahm ein Protokoll mit ihnen auf. Dann gab man ihnen zu essen. In der folgenden Nacht schob man sie wieder ab.
Es war windig und trube geworden. Vogt war sehr mude. Er sprach kaum und machte einen fast verzweifelten Eindruck. Als sie ein Stuck weit uber die Grenze waren, rasteten sie in einem Heustadel. Vogt schlief bis zum Morgen wie ein Toter.
Er wachte auf, als die Sonne aufging. Er ruhrte sich nicht; er offnete nur die Augen. Es hatte etwas sonderbar Erschutterndes fur Kern, diese schmale regungslose Gestalt unter dem dunnen Mantel, dieses bi?chen Mensch mit den gro? geoffneten, stillen Augen zu sehen.
Sie lagen auf einem sanft abfallenden Hang, von dem man einen Blick auf die morgendliche Stadt und auf den See hatte. Der Rauch der Schornsteine stieg von den Hausern in die frische Luft und erweckte das Gefuhl von Warme, Geborgenheit, Fruhstuck und Betten. Der See blinkte in einer weichen Unruhe herauf. Vogt betrachtete schweigend, wie die leichten, wehenden Nebel von der Sonne eingeatmet wurden und verschwanden, und wie das wei?e Massiv des Montblanc langsam hinter den Wolkenfetzen hervortrat und zu schimmern begann wie die hellen Mauern eines hochgebauten, himmlischen Jerusalem.
Gegen neun Uhr brachen sie auf. Sie kamen nach Genf und nahmen den Weg am See entlang. Nach einiger Zeit blieb Vogt stehen. »Sehen Sie sich das einmal an!« sagte er.
»Was?«
Vogt zeigte auf ein palastartiges Gebaude, das in einem gro?en Park lag. Das machtige Haus leuchtete in der Sonne wie ein Schlo? der Sicherheit und des wohlgefugten Lebens. Der herrliche Park funkelte im Gold und Rot